Lesereise Frank Willmanns Krimi „Der Pate von Neuruppin“ wurde über Nacht zum Bestseller. Die hier versammelten Tagebuchnotizen seiner Lesereise erzählen von Denkzettelstimmung, Wut auf grüne Politik, freundlichen Punks und Studenten
Wut auf grüne Politik, freundlichen Punks und Studenten
Collage: Der Freitag
27. Mai, Kleiner Saal im Neuen Deutschland
Hitze in Berlin, coole Ledersessel am Franz-Mehring-Platz. Drei Filmproduzenten haben sich eingefunden. Der Run um die Paten-Filmrechte geht in die finale Phase. Die dreckigsten Geschichten schreibt der Osten. Im Osten zeigte der Kapitalismus seine schmierige Fratze. Wir trinken Bier im Späti, alle sind sich einig, politisch wird es die nächsten Jahre schmutzig werden, wenn die braune Suppe überkocht. Im Osten vermuten Menschen, von der Demokratie ausgeschlossen zu sein. Es gibt zwar formale, aber wenige reelle Chancen auf Teilhabe, Repräsentativität, Einstieg oder gar Aufstieg in gesellschaftlich relevante Teilsysteme, von Macht, Geld und Einfluss ganz zu schweigen. Nun wird uns auch noch unser Gassenhauergarant Till Linde
unser Gassenhauergarant Till Lindemann genommen.4. Juni, Oldenburg, linkes FlutlichtfestivalHier ist die Welt noch in Ordnung. Keiner kennt Egon Krenz oder Oschmann und Hoyer. Anne Hahn und ich erzählen von Fußball und Politik im postjugoslawischen Raum. Oldenburg ist eine freundliche Studentenstadt, die Probleme des Ostens sind weit weg. Einige Leute waren in der letzten Saison mit ihrem Verein VFB Oldenburg unterwegs im Osten. Nazis in Zwickau und Dresden, unverständliches Deutsch, gutes Bier in Sachsen, eine Fanszene, die sich Saalefront nennt, in Halle. Die Oldenburger kamen zumeist mit Bussen und wurden von Polizei in die Stadien eskortiert. Länger bleiben als nötig wollte keiner von ihnen.In Oldenburg ist die linke Ultraszene klein, rechte Hooligans stehen neben der Kurve, es gibt immer wieder Rangeleien, rechts sein ist noch nicht schick, in Bremen, Osnabrück und Meppen sieht das anders aus. Unsere AfD spielt keine Rolle, das ist kein Westding. Abends schauen wir das DFB-Pokalfinale beim Kroaten um die Ecke. Im Eingangsbereich ein Aufkleber: Nazis müssen leider draußen bleiben.11. Juni, Merkers, Rock am Berg PunkfestivalWir lesen zur schönsten Mittagszeit auf dem Festivalgelände bei vermutlich 40 Grad im Schatten aus den "Schleimkeim-Songcomics". 48 PunkrockerInnen hören zu. Danach Fachsimpeln im Schatten. Punk ist nicht tot, obgleich sich nur sehr wenige Jugendliche aus der Umgebung als links sehen. Die große Mehrheit träumt von Eigenheim und dem kleinen Glück. Viele halten die AfD für besonders geeignet zur Realisierung ihres Glückstraums. Die AfD ist stabil verankert in Thüringen, es sind die Wahlplakate der anderen Parteien, die in der Nacht abgerissen werden. Nach der Lesung fahren wir Eis essen in Heringen, der Ort liegt im Westen. Vor Heringen liegt der Monte Kali, eine riesige Salzhalde des Kalibergbaus. 505 Meter über Normalhöhennull ragt er ins Land und zeigte bis 1989 den Thüringern nichtblühende Landschaften. Sie haben die Warnung nicht verstanden. Wir wechseln ständig die Landesgrenze, Obersuhl hier, Untersuhl dort. Ein Bauer auf dem Traktor. Am 25. Juni kann die AfD im 2. Wahlgang ihren ersten Landratsposten erobern.27. Mai, WGT in LeipzigLesung in der Runden Ecke. Als wir eintreffen, warten schon über 100 Grufties auf uns. Schön gekleidete Fantasiewesen, wir lesen von der Unterdrückung Andersdenkender in der DDR. Die aufmüpfige DDR-Jugend, die Dinge bewegt und auf Schweinereien hinwies, an die sich ihre Eltern längst gewöhnt haben. Diese vielleicht Ein-Prozent-Opposition, immer mit einem Bein im Knast. In den Medien wird das unpassende Wort „Klimakleber“ benutzt. Ich spende nach der Lesung an die Letzte Generation.10. Mai, Sportlerheim LebusIch sehe bei meinen Lesungen, wie sehr es im Osten brodelt, selbst unter Normalbürgern wächst die Wut auf grüne Politik. Entmündigung und Entscheidungen über die Köpfe = Bedürfnisse der Menschen hinweg. Bei den nächsten Landtagswahlen in Thüringen und Brandenburg wird die AfD die Mehrheit holen, falls kein Wunder geschieht. Unsere Gesellschaft steht vor argen Veränderungen, ob das in der Bundespolitik angekommen ist, wage ich zu bezweifeln.Schnauze voll von Besserwisserei, vom Auslachen bis Abtun. Scheiß AfD, ist ja nicht mal eine Ossipartei, trotzdem werden sie in Brandenburg die Landtagswahlen gewinnen, dann seh’n wir weiter. Ich hab in meiner Werkstatt einen Syrer als Lehrling, der ist fleißig, kann aber nicht so gut Deutsch. Ich mag keine Ausländer, aber mein Syrer ist anders als die anderen Asylanten, das sagt er von sich selbst auch. Obwohl er ein schweineguter Arbeiter ist, wird er nicht zur Lehrlingsprüfung zugelassen, weil sein Deutsch schlecht ist. Was ist das für eine Scheiße. Ach, DDR, hinter deiner blitzsauberen Betonmauer. Du warst so schön langweilig. Heute müssen wir „Kicker“ statt „fuwo“ lesen, „Zeit“ statt „Wochenpost“, Heldinnen hießen plötzlich nicht mehr Kati Witt oder Dixie Dörner, sondern Franz Beckenbauer und Leni Riefenstahl. Regelmäßig wird bei diversen TV-Rückblicken im medialen Empörungsbetrieb die DDR, die man im Westen am liebsten in Anführungszeichen setzte, vergessen, oder mit einem Halbsatz markiert wie: alles Russenknechte. 2. Mai, Bibliothek MagdeburgOschmann war schon da, Oschmann ist überall. Er spricht für die schweigende Mehrheit, die jahrzehntelang nicht beachtet wurde. Bei seiner Lesung in Magdeburg gab es Tumulte, der Moderator war wohl zu kritisch, die ZuhörerInnen solidarisierten sich mit Oschmann, es gab keine Toten. Bei mir läuft alles brav, die Menschen sehen mich heute als Krimifritzen. Ich belasse es dabei. Vielleicht bin ich einer.29. April, Werk2, LeipzigNeunziger Punkrock, alles Geschwätz wird beim Pogo vom Tisch gefegt. Wer nicht aufpasst, bekommt beim wilden Tanz eine in die Fresse und kann sich morgens ein neues Gebiss besorgen. SK singen von der Scheiß-DDR, der Scheiß-Norm und machen sich über Ata, Fit und Spee lustig. Im Saal tobt der pogende Mob, was interessiert uns die DDR? Wir wollen die anarchistische Revolution. Freiheit und Freibier für alle.27. April, Ventil-Verlagsbuchhandlung BerlinUnser gutes altes Pankow. Pankowmütter sind die besseren Mittemütter. Wir stehen nach der Lesung mit Bier auf dem Fußweg. Wir lärmen soft. Keinen stört es. Ein Jugendlicher wirft seine leere McDooftüte in den Mülleimer. Ein freundlicher Busfahrer wartet auf heranlaufende Fahrgäste, das ist nicht mehr mein Berlin. Einige meiner im Westen geborenen Autorenfreundinnen sind leicht irritiert, sollen sie sich vor mir wegen ihrer Geburtsorte rechtfertigen? Nein, müsst ihr nicht, überschreibt mir einfach die Hälfte eurer Eigentumswohnung. Ich bin über Nacht Bestsellerautor geworden und starte am nächsten Tag auf Platz 8 der Spiegel-Bestsellerliste Sachbuch Hardcover. Der Kapitalismus fetzt voll.25. April, Literaturforum im BrechthausDer berühmte Brechtsatz: Was ist ein Einbruch in eine Bank gegen die Gründung einer Bank?Ich lese unweit seiner einstigen Behausung und seines Grabes. Wir reden über Verbrechen, die der Treuhand, der SED, der Raubritter aus dem Westen, die den doofen Ossis nach der Wende jeden Dreck andrehen konnten. Dummheiten von BILD-Döpfner, Gejammer von Stucki und durchgestochene BadBoyReichelt-Sexgeschichten. Intellektuelles Publikum mit großem Bierdurst. Gespräche über Oststorys. Gerade eine gute Zeit, Oschmann, Hoyer, man kann sein Augenmerk auf die private Welt richten, alte Geschichten neu erzählen. Ich fühle mich in und out gleichermaßen. Beim Schreibprozess hat mich beides nicht angetrieben. Ich wollte wissen, welche Wirkung das Geld in den Köpfen von zwanzigjährigen Brandenburger Jungs ohne Bausparvertrag entwickeln konnte.21. April, Neuruppin, StadtgartenDer Pate kommt über Neuruppin. Knapp 700 Menschen machen die Premiere zu einem lokalen Ereignis. Im Saal tummeln sich Exkriminelle neben normalen Bürgern. Ja, sie waren keine Musterknaben, aber wenigstens hatte Neuruppin seine eigene, heimische Mafia, es waren Leute wie ich und du, die falsch abgebogen sind. Vorm Stadtgarten protestieren zwei fundamentalistische Christen gegen das Buch. Sie sind vor drei Jahren aus Schwaben zugezogen. Und erkennen den Teufel auf einen halben Meter.Nach der Lesung patrouillieren Polizisten mit Hunden bis zum nächsten Morgen in Neuruppin, wo normalerweise ab 20 Uhr die Bürgersteige hochgeklappt werden. Wilde Gespräche bis in die Nacht. Schnell kommt die ostdeutsche Lebenswirklichkeit auf den Tisch. Heimatverbundene Neugierige, die von der großen Crimestory der Neunziger- und Nullerjahre mehr wissen wollen. Unzufriedene Ewiggestrige, die AfD ist für sie die angesagte Partei. Denkzettelstimmung. Nachdenkliche Bürger, die sich als Deutsche zweiter Klasse fühlen. Gymnasiasten, für die es nur ein Berlin gibt, wo sie spätestens zum Studium landen wollen.3. Mai, Stadtbibliothek WeimarOschmann war schon da, Oschmann ist überall. Wer ist dieser Oschmann? Ich werde plötzlich von Besuchern der Lesungen gefragt, ob ich ihn gelesen hätte, ob ich als Ossi seiner Meinung sei, obobob. Wir Ossis lassen uns nicht mundtot machen. Und was ist mit den darbenden Menschen, in Afrika beispielsweise? Afrika interessiert mich nicht. Ich fühle mich von woken Grünen und sozialdemokratisierten Linken nicht gehört. Die Leseorte sind oschmannisiert, er bestimmt die Debatten, das ist nicht falsch, weil es Redebedarf gibt. Was bedeutet Ostidentität? Wurde sie auferlegt? Wer ist für die wachsende gesellschaftliche Spaltung verantwortlich? Populisten, Menschen mit mangelhaftem Demokratieverständnis? Rassisten und Verschwörungsmystiker? Der Westen gilt als Norm, Ostdeutschland als abnorm. „Norm, Norm, Norm – Du bist zur Norm geboren, schaffst du keine Norm, bist du hier verlorn“, sangen Schleimkeim vor drei Tagen in Leipzig.Placeholder infobox-1