Demokratisiert das Gesundheitssystem!

Coronakrise Weder Beifall noch Worte noch Bonuszahlungen lösen die Probleme des Gesundheitssystems. Wir brauchen dessen Demokratisierung

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Eine Kommunalisierung des Gesundheitssystems wäre immerhin ein kleiner Lichtblick in einer düsteren Welt
Eine Kommunalisierung des Gesundheitssystems wäre immerhin ein kleiner Lichtblick in einer düsteren Welt

Foto: Ronny Hartmann/AFP via Getty Images

Am Anfang standen die Menschen auf Balkonen. Sie klatschten, applaudierten denen, die Applaus verdient haben. Sie spendeten all jenen Beifall, die mitten in der Coronakrise die grundsätzlichsten Gesellschaftsbereiche am Laufen halten, allen voran den Beschäftigten des Gesundheitswesens. Diese symbolische Anerkennung – gepaart mit warmen Worten aus der Politik – mag für viele wichtig sein, aber sie löst dann doch eher wenige Probleme. Sie ändert nichts an den teils verheerenden Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegebereich, sie repariert kein kaputtgespartes System. Diese Einwände kamen früh von den Beschäftigten selbst – und wurden, nunja, zur Kenntnis genommen.

Die Coronakrise zeigt viele Details dieser Gesellschaft überdeutlich auf. Eines davon ist: Symbolische, sprachliche Anerkennung alleine wird irgendwann zu einem schlechten Witz. Seit wie vielen Jahren werden die Arbeitsbedingungen im Gesundheits- und Pflegebereich (der Einfachheit halber im Folgenden: Gesundheitsbereich) thematisiert und kritisiert? Seit wie vielen Jahren ist die Antwort der Politik: „Ja, alles ganz schlimm. Gerade dieser Bereich ist doch so wichtig. Wir schätzen eure Arbeit. Wir machen irgendwas, das euch hilft”? Nunja, das Ergebnis ist bekannt. Die gegenwärtige Krise erweist die symbolische Anerkennung als die Heuchelei, die sie ist. Sie zeigt: Anerkennung ist auch ganz wesentlich eine materielle Frage.

Diese Feststellung ist mittlerweile so offensichtlich, dass sich sogar die Politik ihr nicht mehr verweigern kann. Und ihre Antwort darauf ist: Leute, jetzt gibts Bonuszahlungen für eure Arbeit! Das ist zwar sicher besser als gar nichts, aber wenn wir – Beschäftigte wie (potentielle) Patient*innen – uns damit abspeisen lassen, wird sich gar nichts verändern. Dann bleiben die Arbeitsbedingungen unwürdig, die Versorgung deshalb oft mangelhaft, das Gesundheitssystem unterfinanziert.

Wer entscheidet?

Wenn wir eine wirklich menschenwürdige Behandlung im Gesundheitssystem wollen – und zwar für alle – müssen wir den Menschen an erste Stelle setzen. Das heißt: Gesundheit ist keine Ware. Wenn Gesundheitseinrichtungen private Unternehmen sind, sind sie den Eigentümer*innen und ihren Gewinnerwartungen verpflichtet, nicht den Patient*innen, nicht den Mitarbeiter*innen. Die elementarste aller Forderungen kann nur lauten: Entprivatisierung des Gesundheitssystems – und zwar sofort.

Sehr ähnlich haben es Arndt Dohmen und Dagmar Paternoga von ATTAC kürzlich im Freitag formuliert. Ihre Schlussfolgerung war: Rekommunalisiert die Kliniken. Das ist ein elementarer Schritt in die richtige Richtung und Teil der Lösung – aber es ist nicht die Lösung selbst. Kommunalisierte Klinken allein kämpfen mit mehreren strukturellen Problemen:

Sie bleiben vom Handeln der Politik abhängig. An ihnen kann gespart werden – und oft genug wird es das auch. Dohmen und Paternoga scheinen das zu wissen und schreiben daher: „Die angemessene Personalausstattung im Krankenhaus ist eine elementare Voraussetzung für gute Behandlung der PatientInnen und keine Schönwettermaßnahme, die bei jedem drohenden Sturm wieder kassiert werden kann.” Solange die Politik in Deutschland ist, wie sie ist, kann aber dummerweise eine angemessene Personalausstattung – und generell die Finanzierung des Gesundheitssystems – eben doch bei jedem drohendem Sturm wieder kassiert und beschnitten werden. Wenn sich das ändern soll, wenn die gesundheitliche Versorgung einer übergroßen Mehrheit der Menschen nicht vom Wohlwollen der Tagespolitik abhängig sein soll, ist die Forderung „Rekommunalisiert die Klinken!” zu wenig. Die grundsätzliche Forderung muss lauten: Demokratisiert das Gesundheitssystem! Das heißt: Entzieht es tages- und parteipolitischen Erwägungen. Schafft einen öffentlichen Verwaltungsrat für die kommunalen Kliniken. In diesem könnten beispielsweise Mitarbeiter*innen, Kommunalpolitiker*innen und (potentielle) Patient*innen sitzen – also beispielsweise per Los gefundene Bürger*innen. Die radikale Demokratisierung des Gesundheitssystems wäre nur ein Schritt zur Beendigung der permanenten Gesundheitskrise – aber ein wichtiger.

In Geiselhaft

Auch ein kommunales, demokratisches Gesundheitssystem bliebe strukturell von kapitalistischen Wirtschaftsstrukturen abhängig. Einerseits, weil durch diese die Preise für elementar wichtige Waren festgelegt werden (etwa Spritzen, Beatmungsgeräte, Medikamente), andererseits weil das Gesundheitssystem auf absehbare Zeit nur über einen Steuerstaat finanziert wird, der wiederum auf eine wachsende kapitalistische Wirtschaft angewiesen ist und so immer deren Geisel bleibt. Es wäre daher elementar wichtig, dass nicht nur Krankenhäuser, Pflegeheime und vergleichbare Einrichtungen unter gesellschaftliche Kontrolle gebracht – also demokratisiert – werden, sondern auch zentrale Hersteller von medizinischem Gerät, Medikamenten usw. Gleichzeitig wäre es nötig diejenigen Gesellschaftsbereiche zu stärken, die zumindest formal heute schon unter demokratischem Einfluss stehen – also die Universitäten und öffentliche Forschungseinrichtungen. Sie sind anständig zu finanzieren und ihre Abhängigkeit von Drittmitteln zu beenden. Die Ausdehnung des demokratischen Einflusses auf weitere für das Gesundheitswesens relevante Wirtschaftsbereiche kann also als weiterer wichtiger Schritt in Richtung einer in jeder Hinsicht menschenwürdigen Gesundheitsversorgung gelten.

Die sicher größte Aufgabe bliebe es, den gesamten Gesundheitssektor möglichst aus der Abhängigkeit von der Entwicklung der restlichen Wirtschaft abzukoppeln – was konkret zur Folge hätte, dass er mal einen größeren, mal einen kleineren Anteil an den gesellschaftlich produzierten Ressourcen verbrauchen würde, aber immer die menschenwürdige Versorgung aller mit gesundheitlichen Leistungen sichergestellt wäre. Hier wäre auch zu fragen, wie Teile des Gesundheitssystem jenseits klassischer Lohnarbeit organisiert werden können und wie ein neues Verhältnis von Reproduktions- und Care-Arbeit einerseits und Produktion andererseits aussehen könnte.

Das Gesundheitswesen lebt unter den gegenwärtigen wirtschaftlichen und politischen Bedingungen entweder in Geiselhaft eines auf Wachstum und Gewinn basierenden Wirtschaftssystems oder ist selbst Teil von diesem – mit all den bekannten, verheerenden Folgen. Besonders ansprechend sind beide Möglichkeiten nicht, innerhalb der bestehenden wirtschaftlichen und politischen Strukturen haben wir aber keine anderen. Machen wir im Hier und Jetzt das Beste daraus: Stehen wir auf gegen den Geiselnehmer, nutzen wir alles, was wir haben, um zumindest die Bedingungen der Haft erträglicher zu machen. Verweigern wir so gut es geht die Zusammenarbeit, schaffen wir uns Freiräume und fordern wir mehr Freigang. Machen wir ihm Angst – wir sind vielleicht unbewaffnet, aber wir sind viele.

Jenseits der Metaphern heißt das: Wir werden im Hier und Jetzt kein perfektes Gesundheitssystem schaffen, aber wir können es weit besser organisieren, als es heute der Fall ist. Wir können dadurch vielen Menschen ein besseres, würdigeres Leben bieten. Wir können demokratischer werden und mit einem menschlichen Gesundheitswesen einen Schritt in eine menschlichere Welt machen. Oder wir reden weiter von Bonuszahlungen und wundern uns bei der nächsten Krise mal wieder, dass sich nichts verändert hat.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Franz Hausmann

Sozialwissenschaftler, Autor, Hobbygärtner. Buch "Koks am Kiosk? Eine Kritik der deutschen Drogenpolitik" gibts beim Schmetterling Verlag.

Franz Hausmann

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