Gewaltige Missverständnisse

Gewalt Schwerverletzte, Plünderungen, Polizeigewalt: Ein Blick in die USA kann fassungslos machen. Die gewohnten Reflexe der „Gewaltdebatte“ bringen hier aber nicht weiter

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Wenn der Zweck des Aufstands Afroamerikaner*innen in den USA ist, endlich würdevoll behandelt zu werden, dann rechtfertigt das vieles
Wenn der Zweck des Aufstands Afroamerikaner*innen in den USA ist, endlich würdevoll behandelt zu werden, dann rechtfertigt das vieles

Foto: Kerem Yucel/AFP via Getty Images

Twitter, das ist eine Plage und ein Segen zugleich. Wer in diesen Tagen, eine Woche nach der brutalen Ermordung George Floyds durch die Polizei, die Online-Plattform durchforstet, findet Bilder von prügelnden Polizisten und Polizeiautos, die in Menschenmengen fahren. Von friedlichen Massenprotesten auf der Straße. Von Polizisten, die Schwarzen Demonstrant*innen das „White-Power”-Zeichen entgegenstrecken. Von Polizeieinheiten, die Solidarität gegenüber den Protesten ausdrücken. Von brennenden Polizeiautos. Von Plünderungen und Plünderern, die Shopbesitzer (halb-)tot prügeln. Von Einheiten der Nationalgarde, die auf Anwohner*innen vor ihren Häusern schießen.

Das alles wirkt in dieser Größenordnung für Menschen hierzulande wohl überwiegend befremdlich. Viele werden davon abgestoßen sein – angewidert von „der Gewalt”. Der Schritt zur Distanzierung von „jeglicher Gewalt”, von wem auch immer sie ausgeht, ist klein – und dieser Schritt ist in dieser Grundsätzlichkeit falsch. Aber der Reihe nach:

Von Legalität und Legitimität

Das Auftauchen der Gewaltfrage erfolgt in westlichen Gesellschaften mit einer beinahe nervtötenden Regelmäßigkeit. Jedes Mal wenn irgendwo die staatliche Ordnung mit illegalen Mitteln in Frage gestellt wird, brüllen sich die verschiedenen Seiten nieder.

Die einen verweisen darauf, dass innerhalb westlich-parlamentarischer Systeme sämtliche Veränderungen auf legalem Weg erfolgen müssten. Konkret heißt das: Lasst euch wählen, wählt oder demonstriert – aber bitte im Rahmen der bestehenden Gesetze. Legitimität und Legalität fallen schlichtweg zusammen. Das müssen sie auch, denn die Personen, die diese Position vertreten, glauben im Grunde an die Vollkommenheit der bestehenden westlich-parlamentarischen Systeme. Der Tenor: Sicher, sie haben hier und da ihre Macken, aber im Grunde leben wir in einer perfekten Demokratie, die diese Probleme alle mit den vorgesehenen Mitteln lösen kann. Diese Position ist bequem, sie klingt irgendwie nett und humanistisch, ist aber im Grunde nichts als die Verteidigung des Status quo. Sie verweigert sich schlichtweg der Realität. Wie oft haben die Schwarzen in den USA friedlich gegen ihre rassistische Unterdrückung demonstriert? Wie oft haben sie auf die massive Polizeigewalt aufmerksam gemacht? Was hat all das gebracht? Wer sagt, die einzig legitimen Mitteln seien die legalen Mittel, der sagt eigentlich: Formuliert ein paar nette Bitten, vielleicht hört euch ja irgendwann jemand zu. Viel Erfolg.

Wie in jeder westlichen „Gewalt-Debatte” räumen ein paar besonders Großzügige deshalb zumindest ein, dass illegale Aktivitäten in Ordnung sein können, solange sie „gewaltfrei” bleiben – was konkret meistens bedeuten soll, dass kein materieller Schaden dabei entsteht oder Personen verletzt werden. Blockaden, Befehlsverweigerung, Bruch einer Ausgangssperre – kurz: ziviler Ungehorsam – seien zwar nicht legal, aber dennoch legitim. Hier liegt die leise Ahnung zugrunde, dass die perfekte Demokratie vielleicht doch nicht ganz so perfekt ist und deshalb hier und da überdacht und erweitert werden muss. Die Geschichte und Gegenwart westlicher Gesellschaften zeigt uns überdeutlich die grundsätzliche Richtigkeit dieser Position der Unterscheidung von Legalität und Legitimität. Oder war es jemals falsch, wenn sich Frauen gegen ihre prügelnden Ehemänner gewehrt haben? War der Schwarze Widerstand gegen Sklaverei und Rassentrennung in seinen verschiedenen Formen jemals grundsätzlich falsch? War der Aufstand der sexuellen Minderheiten in der New Yorker Christopher Street gegen die Polizei falsch?

Legitime Gewalt

Es ist relativ offensichtlich, dass aus dieser Position der Unterscheidung zwischen Legalität und Legitimität kein genereller Gewaltverzicht abzuleiten ist – und dass es trotzdem häufig getan wird, dürfte wohl weitgehend an der eigenen emotionalen Abscheu gegenüber „Gewalt” liegen. Wenn aber Legalität und Legitimität auseinanderfallen, wo ist dann die Grenze der Legitimität? Lässt sie sich überhaupt ziehen? Herbert Marcuse schrieb in den 70er-Jahren dazu: „Der Zweck muß in den repressiven Mitteln, ihn zu erreichen, am Werk sein.” Dieser Satz bleibt auch 50 Jahre später richtig. Die rassistische Unterdrückung in den USA beraubt Millionen ihrer Würde. Diese Unterdrückung ist pure Gewalt. Diese Gewalt lässt sich nicht rechtfertigen, weil ihr Zweck verabscheuungswürdig ist. Diese Gewalt hält ein System aufrecht, welches sich Menschenrechte und Demokratie auf die Fahne schreibt, aber diese jeden Tag mit Füßen tritt. Gewalt, bei der schon der Zweck illegitim ist, kann niemals legitim sein.

Wenn im Gegensatz dazu der Zweck des Aufstands der Schwarzen in den USA ist, endlich wie würdevolle Wesen behandelt zu werden, dann rechtfertigt das vieles. Es rechtfertigt, sich diesem System zu verweigern, symbolisch, aber auch materiell und körperlich. Es rechtfertigt Widerstand gegen diejenigen, die es verteidigen. Was das konkret heißt, entscheidet sich in konkreten historischen Situationen. Was ein Kampf um mehr Würde niemals rechtfertigen wird, sind Mittel, die diesem Kampf widersprechen und die Würde anderer Menschen missachten. Der Kampf der Unterdrückten um Würde wird sich niemals aller vorstellbaren Mittel bedienen können, ohne sich selbst zu verraten. So steht eine fortschrittliche Bewegung in jeder konkreten historischen Situation vor der Herausforderung, die zurückhaltendsten denkbaren, aber potentiell effektiven Mittel anzuwenden, die ihr zur Verfügung stehen. Auch von dieser Seite des Atlantiks lässt sich sagen, dass massivste körperliche Gewalt gegen Shopbesitzer, die ihren Laden verteidigen wollen – oder vergleichbare Taten – sicher nicht dazugehören. Ob dieser Ratschlag in den USA wirklich gebraucht wird, darf aber bezweifelt werden.

Welche Gewalt gerechtfertigt ist, unterscheidet sich seit eh und je aufgrund des Zwecks und der historischen Situation. Diese Erkenntnis mag anstrengend sein, sie mag viel komplizierter sein als die einfache Verurteilung „jeder Gewalt”. Sie ist unangenehm – aber sie ist immerhin ehrlich. Viel ehrlicher als die Position, die die Gewaltfreiheit predigt, aber damit am Ende nur bestehende Unterdrückung verteidigt und jeden Widerstand dagegen die Legitimität abspricht. Die Existenz legitimer Gewalt ist für alle, die sich nichts mehr wünschen als die gewaltfreie Welt, eine Zumutung. Um es mit Marcuse zu sagen: „die gewaltlose Gesellschaft bleibt die Möglichkeit einer geschichtlichen Stufe, die erst zu erkämpfen ist.” Solange das gilt, müssen wir mit dieser Zumutung leben.

Anmerkung 1: Der Gewalt, die strukturell und häufig unsichtbar ist, wurde an dieser Stelle kaum Raum gegeben. Meist wird sie nicht einmal „Gewalt” genannt. Das macht sie nicht weniger existent oder relevant. Solange nicht auch über diese Gewalt umfänglich gesprochen wird, bleibt das Reden über eine „gewaltfreie Gesellschaft” ohnehin bedeutungslos.

Anmerkung 2: Inwiefern (und vor allem in welcher Form) Gewalt eine Rolle in einer zielführenden progressiven Bewegung in den USA spielen kann, kann und will ich nicht einschätzen. Zu bedenken gilt es aber, dass a) sämtliche „friedliche” Protestformen in den letzten Jahren jenseits einer Thematisierung des Problems weitgehend erfolglos blieben und b) im Weißen Haus ein bestens mit Rechtsradikalen vernetzter Präsident sitzt. Inwiefern und ob Trump überhaupt rational auf Druck der Straße, auf Ausnahmesituationen, auf die Auswirkungen der Proteste und wirtschaftliche Zerstörungen regieren kann, will oder wird, bleibt zweifelhaft. Bürgerkriegsähnliche Szenarien werden wohl nicht ganz grundlos thematisiert.

Anmerkung 3: Hier wird über die USA gesprochen, weil sich die Debatte gerade um die USA dreht. Über den Rassismus in Deutschland und Europa ist damit nichts gesagt, was sicher zu sagen wäre.

Anmerkung 4: Zum Weiterlesen bei Interesse und wegen Quellen und so: Herbert Marcuse: Ethik und Revolution. In: Klaus von Beyme (Hg.): Empirische Revolutionsforschung. Opladen 1973

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Franz Hausmann

Sozialwissenschaftler, Autor, Hobbygärtner. Buch "Koks am Kiosk? Eine Kritik der deutschen Drogenpolitik" gibts beim Schmetterling Verlag.

Franz Hausmann

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