Zwei exogene Schocks, die Corona-Pandemie und Russlands Krieg gegen die Ukraine, haben seit Sommer 2021 hintereinander Preisschübe ausgelöst, die das Preisniveau in Deutschland und anderen europäischen Ländern stark erhöht haben. Profitiert haben davon vor allem Rohstofflieferanten aus dem außereuropäischen Ausland, spekulierende Finanzmarktakteure und einige inländische Großkonzerne. Europas Realeinkommensverlust ging in erster Linie zulasten der unteren und mittleren Einkommensschichten. Vor allem unter dem zweiten Preisschub haben die Bezieher niedriger Einkommen stärker gelitten als Gutverdienende, weil er sich zu großen Teilen im Bereich Haushaltsenergie, Kraftstoffe und Lebensmittel abspielte. Das sind Güter, für die
Das Lagarde-Geheimnis: EZB-Rezepte gegen Inflation sind falsch und haben fatale Folgen
Geldpolitik Die EZB schadet Europa durch ihre Politik der Zinserhöhung: Falsche Problemanalysen und falsche Prognosen führen zu fatalen Folgen

Bald wird alles gut. Oder auch nicht: Christine Lagarde, EZB-Präsidentin, beschwört das monetaristische Einmaleins
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Ärmere einen größeren Teil ihres Einkommens aufwenden müssen als Reiche. Denn ihre finanziellen Mittel lassen nur wenig Spielraum für nicht lebensnotwendigen Konsum.Der weitverbreitete Wunsch nach einem Ende der hohen Preissteigerungsraten oder sogar am besten einer Rückkehr zu früheren Preisen ist also nur zu verständlich. Er mündet in die Forderung an die Europäische Zentralbank (EZB), schnell und durchgreifend etwas gegen „die Inflation“ zu unternehmen. Denn in den Medien – mit Unterstützung bekannter Wirtschaftswissenschaftler – und auch in großen Teilen der Bevölkerung herrscht die Auffassung, dass die Zentralbank als Hüterin der Preisstabilität dazu die Möglichkeit habe und laut ihrem Mandat ohnehin dazu verpflichtet sei. Zudem habe die EZB durch ihre jahrelange Nullzinspolitik zwar nicht den Anstoß für die aktuelle Misere gegeben, wohl aber ihr den Weg bereitet. Denn ohne die von der Geldpolitik zugelassene übermäßige Ausweitung der „Geldmenge“ wäre, so die weitverbreitete Vorstellung, eine derart starke Preissteigerung überhaupt nicht möglich gewesen.Der Monetarismus geistert immer noch durch die DebatteSo wird der nach einem Jahr Abwarten im Sommer 2022 eingeschlagene Kurs der EZB, die Leitzinsen in einem historisch einmaligen Tempo und Umfang anzuheben, zumindest in der deutschen Öffentlichkeit weitgehend befürwortet. Die EZB begründet ihre seit Juli 2022 vorgenommenen Zinssteigerungen von null auf inzwischen vier Prozent damit, die Preisentwicklung zuvor falsch eingeschätzt zu haben und sie nun schnell wieder auf die gewünschte Zielrate von zwei Prozent drücken zu wollen. Mehr noch: EZB-Präsidentin Christine Lagarde kündigte in ihrer jüngsten Pressekonferenz zum Thema am 15. Juni 2023 weitere Zinsanhebungen an und versprach ein längeres Einfrieren der Leitzinsen auf hohem Niveau, um die Preissteigerungsrate auf das Zwei-Prozent-Niveau zu drücken, dort zu halten und so die Inflationserwartungen der Menschen wieder auf einem niedrigeren Niveau zu „verankern“.Was ist von dieser Argumentation zu halten? Wenn man sich den wirtschaftlichen Fakten nähert, dann sieht man: Die Preise sind zunächst zum Beispiel für Halbleiter und seltene Erden und später für Energie und Lebensmittel ohne Zutun der EZB und ohne Verschulden der Lohn- oder Fiskalpolitik in die Höhe geschossen. Sie hätten sich auch bei einer vorausgegangenen Hochzinsphase so entwickelt, weil sie von realen Knappheiten und auf ihnen aufbauenden Finanzspekulationen getrieben wurden. Schließt man von einer wie auch immer gemessenen „Geldmenge“ und deren Ausweitung auf einen Anstieg des Preisniveaus, wie das die Theorie des Monetarismus tut, ignoriert man diese marktwirtschaftlichen Zusammenhänge und leistet dem Ausbleiben einer effektiven Regulierung der Finanzmärkte weiter Vorschub.Spekulation bekämpfen, das wäre mal eine Aufgabe für Lagarde & CoDass Energie- und Rohstoffpreise jetzt fallen oder stagnieren, beruht nicht in erster Linie auf der Zinspolitik und dem Umfang der Zentralbankbilanz, sondern zum einen darauf, dass die internationalen Lieferketten wieder besser funktionieren, und zum anderen darauf, dass die Finanzspekulationen nachgelassen haben. Denn warum sollten die Preise für Öl, Gas, Nickel, Weizen oder Raps aufgrund der Zinsanhebungen absolut fallen, während die Preise anderer Warengruppen vergleichsweise wenig reagieren? Mit der Nachfrageentwicklung nach realen Gütern, die die Geldpolitik zur Stabilisierung der Preissteigerungsrate zu dämpfen versucht, lassen sich diese unterschiedlichen Preisentwicklungen jedenfalls nicht erklären, sehr wohl aber mit dem Platzen spekulativer Preisblasen.Man mag die weltweiten Zinsanhebungen der Notenbanken als Signal an die Spekulanten deuten, das zum Platzen ebendieser Preisblasen geführt hat. Doch wenn das ein wesentlicher Grund für die Zinspolitik der EZB sein sollte, die quasi als Nebeneffekt einer Spekulationsbekämpfung die Wirtschaft in die nächste Abschwächung treibt, sollte die Zentralbank das offenlegen und erklären, warum sie seit Jahren nicht stärker auf eine regulative Verhinderung von Finanzspekulationen drängt.Nein, so wenig die massiven Zinsanhebungen für die aktuelle Abschwächung der Preissteigerungsraten in der Eurozone notwendig gewesen sind, so zentral war dafür das bisherige Verhalten der Lohnpolitik in den großen Ländern der Eurozone. Denn hohe Preissteigerungsraten können nicht beliebig anhalten, wenn sie kein entsprechend starkes Echo in den Arbeitseinkommen finden. Es gilt die einfache Regel: Je stärker Preissteigerungen die Budgets der privaten Haushalte belasten, desto schwächer wird die Nachfrage und desto weniger können Unternehmen ein hohes Tempo der Preissteigerungen fortsetzen. Solange die Lohnpolitik, so wie sie es in Deutschland derzeit tut, kein Holz zum Feuer trägt, sprich: den unabänderlichen Realeinkommensverlust nicht durch im Schnitt überhöhte Lohnabschlüsse rückgängig zu machen versucht, geht das Feuer mangels Nahrung von allein aus. Dass die Lohnpolitik den von den Preissteigerungen am schlimmsten Betroffenen tatkräftig unter die Arme zu greifen versucht, ist vernünftig und verdient Anerkennung insbesondere von der Geldpolitik.Eines hat die EZB erreicht: die Baubranche krass demoliertSo gesehen stellt die extreme Straffung der Geldpolitik also eine nicht notwendige Bremse für die Entwicklung der Preissteigerungsrate und eine schädliche Bremse für die Konjunktur in der Eurozone dar. Sie trifft die Investitionsnachfrage unspezifisch in allen Branchen und allen Euroländern. In Deutschland ist als Folge der steigenden Zinsen bereits ein massiver Rückgang der Baugenehmigungen zu verzeichnen, der nach Prognosen des ifo Instituts beim Wohnungsbau 2025 zu einem Einbruch bei den Fertigstellungen um fast ein Drittel im Vergleich zu 2022 führen wird. Leidtragende der harten Geldpolitik werden – entgegen der populären Vorstellung des Monetarismus – vor allem die weniger Qualifizierten und Geringverdienenden sein, deren Löhne und Jobs im Abschwung als erste in Gefahr geraten.Die EZB sieht das anders: Sie prognostiziert für 2023 steigende Beschäftigung und eine Nominallohnzunahme knapp unterhalb der von ihr erwarteten Preissteigerungsrate. In der Pressekonferenz am 15. Juni kommentierte EZB-Präsidentin Lagarde dies so: „Eine immer wichtigere Ursache für die Inflation ist der Lohndruck, wenngleich er zum Teil auf Einmalzahlungen zurückzuführen ist.“ Wie man aus Einmalzahlungen einen inflationären, also anhaltenden Lohndruck herleiten kann, bleibt ihr Geheimnis. Zudem geht die EZB von einem Produktivitätsrückgang für 2023 von 0,3 Prozent aus. Seit Bestehen der EZB ist die gesamtwirtschaftliche Produktivität im Euroraum nur in den Krisenjahren 2008/2009 (Finanzkrise), 2012 (Eurokrise) und 2020 (Coronakrise) zurückgegangen, in denen Rezession herrschte. Eine solche erwartet die EZB allerdings nicht, da sie ein Wachstum von 0,9 Prozent vorhersagt.Man wird den Verdacht nicht los, dass die Prognose einer starken Beschäftigungsentwicklung und vergleichsweise hoher Lohnstückkostensteigerungen (die sich aus dem Nominallohn minus der Produktivitätszunahme ergeben) zur Rechtfertigung der Zinsanhebungen benötigt wurde, zugleich aber keine Rezession in die Prognose hineingeschrieben werden sollte, um der EZB die Frage zu ersparen, warum sie die Zinsen in einer Rezession erhöhen wolle.Der fatale Punkt ist jedoch ein anderer: Die EZB kann den ohnehin stattfindenden Prozess des Absinkens der Preissteigerungsrate zweifellos verstärken. Sie muss sich aber fragen lassen, ob sie auch in der Lage ist, ihn wieder zu stoppen, wenn er in die andere, die deflationäre Richtung zu eskalieren droht. Die Verantwortlichen in der EZB gehen von einer Wirkungsverzögerung ihrer Zinspolitik zwischen vier und sechs Quartalen aus. Wer garantiert ihnen, dass die bisherigen Zinsanhebungen, ganz zu schweigen von den angekündigten, nicht übers Ziel hinausschießen?Stagniert die Investitionsnachfrage und beginnt der Arbeitsmarkt daraufhin zu schwächeln, wird die Lohnpolitik notgedrungen mit zunehmender Zurückhaltung reagieren. Damit wäre eine längerfristige Hängepartie bei der europäischen Binnennachfrage vorprogrammiert. Dass die Geldpolitik in einer solchen Situation hilflos ist, hat sie in den Jahren 2013 bis 2019 bewiesen. Damals hat sie es nicht fertiggebracht, über ihren monetaristischen Schatten zu springen und die Lohnpolitik um Unterstützung durch höhere Lohnabschlüsse zu bitten. Sie wird es auch dieses Mal nicht tun, wenn die Wirtschaft erneut in den deflationären Graben fährt.Placeholder authorbio-1