Haben die Russen noch eine Wahl? Glaubt man der Zentralen Wahlkommission, dann haben sie. Für den 10. September ist ein „Einheitlicher Wahltag“ anberaumt, an dem in großen Teilen der Russischen Föderation Regionalparlamente und Gouverneure gewählt werden – vom Magadanskaja Oblast am Pazifik über Moskau bis nach Pskowsk im Nordwesten. Zudem werden in vier Wahlkreisen bei Nachwahlen Abgeordnete in die Staatsduma entsandt. Das legale politische Spektrum des Landes ist auf Kräfte begrenzt, die nicht grundsätzlich gegen die Militärpräsenz Russlands in der Ukraine auftreten.
In Chakassien regiert ein Kommunist
In dieser Frage sind die Rechtspopulisten der Liberaldemokratischen Partei (LDPR) dem Kreml gegenüber ähnlich loyal w
tIn dieser Frage sind die Rechtspopulisten der Liberaldemokratischen Partei (LDPR) dem Kreml gegenüber ähnlich loyal wie die Kommunisten der KPRF. Die Gruppe um den inhaftierten Oppositionsaktivisten Alexej Nawalny bleibt verboten. Der Betreffende hat aus dem Gefängnis dazu aufgerufen, an der Abstimmung teilzunehmen. Nawalny fordert die Wähler auf, sie sollten gegen die dem Kreml nahestehende Partei „Einiges Russland“ stimmen, stattdessen für Bewerber anderer Parteien, bei denen es „gute Leute“ gäbe.Dass sich das bevorstehenden Votum trotz aller Beschränkungen nicht mit dem Label Kreml-Marionettentheater versehen lässt, kann nicht zuletzt der Website der KPRF als der größten Oppositionspartei – sie kam bei der Duma-Wahl 2021 auf gut 19 Prozent – entnommen werden. Parteichef Gennadi Sjuganow klagt etwa über „schmutzige politische Technologien“ in der Teilrepublik Chakassien in Ostsibirien, wo der kommunistische Gouverneur Walentin Konowalow sein Amt versieht. Gegen ihn, so Sjuganow, ließen Kräfte, die womöglich mit „Einiges Russland“ sympathisierten, in der Landeshauptstadt Abakan kurz vor der Wahl ein mit Hammer und Sichel bemaltes Schwein durch die Stadt laufen. Zudem wurden ernsthafte politische Debatten durch die Kreml-Partei verhindert. Die Kommunisten befürchten in Chakassien verfälschte Wahlergebnisse. Anlass für diese Sorge gibt es nicht allein in Sibirien, sondern vorzugsweise dort, wo zur digitalen Stimmabgabe aufgerufen ist. Was als bürgernaher Service offeriert wird, kann ein Einfallstor für Wahlfälscher sein.LDPR und KPRFJedenfalls dürfte das politische Gewicht oppositioneller Kräfte an diesem 10. September kaum wachsen. Aller Wahrscheinlichkeit nach werden die Ergebnisse sowohl die Dominanz der Kreml-gelenkten Partei „Einiges Russland“ bekräftigen als auch die Vorherrschaft der LDPR im rechten und der KPRF im linken Lager. Letztlich ist dieser Urnengang zugleich als Generalprobe für die im Frühjahr 2024 fällige Präsidentenwahl gedacht.In Kreml-loyalen wie auch in regierungskritischen Kreisen herrscht kein Zweifel, dass Wladimir Putin erneut zur Wiederwahl antritt gegen chancenlose Mitbewerber aus LDPR, KPRF und kontrollierten Kleinparteien wie dem wirtschaftsliberalen Kreml-Kunstprodukt „Neue Leute“. In regierungsnahen Thinktanks der Hauptstadt wird erwartet, dass Ende des Jahres – womöglich auf einem Kongress der staatsnahen Allrussischen Volksfront – in einer hochemotionalen Atmosphäre Wladimir Putin seine erneute Kandidatur ankündigt, gedrängt von Frontsoldaten und einfachen Werktätigen, die in dem dann 71-Jährigen Russlands einzige Hoffnung sehen.Russischer Wahlkampf in FrontnäheBeim jetzigen Wahlakt hat sich der Kreml überdies eine kritische Mission auferlegt. Man will zeigen, dass die vom russischen Militär kontrollierten und von Russland beanspruchten vier Verwaltungszonen im Südosten der Ukraine bereits integriert sind, daher ebenfalls wählen. Allerdings beherrscht die russische Armee im Gebiet Cherson nicht einmal die Bezirkshauptstadt. Auch sind in den vier umkämpften Territorien die meisten russischen Parteien kaum existent.Offenbar will die russische Staatsmacht nicht auf den Versuch verzichten, dort ein möglichst gutes Resultat für „Einiges Russland“ zu erzielen. Entsprechend bemühte sich Wladimir Saldo, der von Moskau eingesetzte Gouverneur der Chersoner Region, bei einem Treffen mit dem russischen Präsidenten am 24. August Optimismus zu verbreiten. „Die Unterstützung für Sie wächst“, verkündete Saldo und fügte hinzu: „Bei uns glaubt das Volk im Großen und Ganzen an die Führung.“ Daher laufe „die Vorbereitung zu den Wahlen mit vollem Schwung“. Der russische Präsident reagierte auf die erkennbare Schönfärberei nur knapp. Er wünschte dem Gouverneur „Erfolg bei der Durchsetzung seines passiven und aktiven Wahlrechtes“. Putin schien den Eindruck erwecken zu wollen, dass selbst in Frontnähe ganz normale Wahlen möglich seien.