Mit starken Worten spart Wolodymyr Selenskyj nie, wenn von Bestechlichkeit die Rede ist. Der Staatschef ruft zum „Sieg über die Korruption“, und sein Berater Mychailo Podoljak sekundiert, korrupte Strukturen seien „unser Feind im Inneren“. Schon im Dezember 2020 behauptete Selenskyj in einem Interview mit der New York Times, er habe „die Korruption bereits besiegt“, etwa durch die Ausgabe digitaler Pässe und Führerscheine. Ein Blick in ukrainische und US-amerikanische Medien zeigt indes, dass die Realität eine andere ist, besonders in den Streitkräften und beim Erwerb von Rüstungsgütern.
Ende Februar berichtete die Kiewer Nachrichtenagentur Unian, die Antikorruptionsbehörde NABU ermittle derzeit in 60 Fällen we
n 60 Fällen wegen des Missbrauchs von Ressourcen im Militärwesen. Dies betreffe, so ein Behördensprecher, „Waffenkäufe, Panzertechnik, Nahrungsmittel und Kleidung“. Ein spektakulärer Fall betrifft die Rüstungsfabrik Lwiwski Arsenal im westukrainischen Lwiw, dem einstigen Lemberg. Das Unternehmen hatte umgerechnet 34 Millionen Euro für die Lieferung von Artilleriemunition kassiert, ließ dann aber den Vertragstermin verstreichen, ohne sich zu rühren. Ermittler verdächtigen den früheren Leiter des Departements für Waffen und Militärtechnik in der Region, mit den mutmaßlichen Kriminellen gemeinsame Sache gemacht zu haben.Angesichts solcher und anderer Fälle ist die Zahl der NABU-Ermittler mittlerweile auf gut tausend aufgestockt worden, auch weil eine unabhängige Behörde, die illegaler Bereicherung nachgeht, seit Jahren von der EU-Kommission verlangt wird und die Ukraine seit Dezember offizieller Beitrittsbewerber ist. Nicht zuletzt Staatsanwaltschaften und der Inlandsgeheimdienst SBU gelten traditionell als von korrupten Seilschaften durchzogen. Bisher konnten die Fahnder nicht verhindern, dass Kriminelle, Kriegsfreiwillige und Waffenhändler verschickte westliche Waffen stahlen, wie vorrangig der US-Kanal CNN im Juli 2023 berichtete. Dabei hieß es, zwar gäbe es ein Aufsichtsgremium aus US-Verteidigungsministerium, State Department und Hilfsorganisation USAID, das einen Missbrauch von Hilfsgütern verhindern solle, nur seien die Kontrolloptionen in der Ukraine „begrenzt“. Weder habe man genügend Mitarbeiter noch seien Inspektionsreisen an den Ort des Geschehens wie erwünscht möglich. Hinzu kämen Sprachbarrieren, da nur sehr wenige Amerikaner Ukrainisch oder das in großen Teilen des Landes weiter übliche Russisch sprechen würden.Schaden: 262 Millionen DollarWas schwerer wiegt: Das System einer korrupten Bürokratie hat in der Ukraine wie in anderen postsowjetischen Ländern eine mehr als dreißigjährige Geschichte. In diesem zuweilen ausufernden System wurden die Methoden stets verfeinert. Die Täter waren den Ermittlern oft um Längen voraus. Daher ist bis heute die Wahrscheinlichkeit hoch, dass Fahnder erst einen kleinen Teil veruntreuter westlicher Mittel in den Blick nehmen konnten. Rustem Umerow, seit September 2023 Verteidigungsminister in Kiew, beziffert den durch Korruption verursachten Schaden beim Militär auf umgerechnet 262 Millionen Dollar. Der Sender CNN konstatierte daraufhin Ende Januar, Selenskyj habe ein akutes „Korruptionsproblem“. Dass auch Gerichte kriminellen Clans mehr zugeneigt sein können als rechtlichen Prinzipien, zeigte ein Fall vom Mai 2023. Da wurde Wsewolod Knjasjew, einstiger Vorsitzender des Obersten Gerichts, unter dem Vorwurf verhaftet, 2,9 Millionen Dollar an Schmiergeldern eingestrichen zu haben.Als besonders ineffektiv und korruptionsanfällig gilt hauptsächlich die Agentur für militärische Aufrüstung, die dem Verteidigungsministerium untersteht, weshalb jüngst der neue Vizeminister Dmitri Klimenko eine „kardinale Neuordnung“ versprach. Die Agentur werde so umgebaut, dass sie künftig „ohne Raum für Korruption“ sei. Klimenkos apodiktische Formel hat den Anschein, als würde die Veruntreuung wie durch einen Zauberstab verschwinden. Dazu passt, dass die forsch optimistischen Aussagen von Selenskyj ein Hinweis darauf sind, dass die Regierung von einer nüchternen Bestandsaufnahme einer fortgesetzt schwelenden Korruption weit entfernt ist. Nur genießt für Kiew stets der PR-Effekt Priorität .Umso mehr wird eine Hoffnungsträgerin gebraucht, wie sie der Verteidigungsminister Ende Januar mit Marina Besrukowa, der neuen Leiterin der Beschaffungsagentur, präsentiert hat. Die studierte 48-jährige Ökonomin und Juristin war zuvor jahrelang in leitender Funktion beim staatsnahen Energiekonzern Ukrenergo tätig. Wie ukrainische Medien berichten, habe sie für die Jahre 2017/18 falsche Steuererklärungen abgegeben, wodurch eine Summe von umgerechnet 77.500 Euro unterschlagen wurde. Ukrenergo sorgte auch in den Jahren, als Besrukowa in der Geschäftsführung des Unternehmens tätig war, immer wieder für Schlagzeilen wegen aufgeflogener Korruptionsfälle. Ungeachtet dessen genießt sie das Vertrauen des Verteidigungsministers. Die Kluft zwischen Rhetorik und Realität deutet darauf hin, dass bis heute eher Figuren ausgetauscht als Strukturen qualitativ verändert werden.