In der ukrainischen Hauptstadt wurde zuletzt schwer gekämpft – und zwar um die Macht im Staat. Doch in diesem Gefecht fiel kein Schuss, obwohl das Militär beteiligt war. Es standen sich gegenüber: Wolodymyr Selenskyj und seine Administration auf der einen und die von General Walerij Saluschnyj geführte Armee auf der anderen Seite. Der Staatschef hatte den General zum Rücktritt gedrängt und das Weiße Haus über dessen unausweichliche Demission in Kenntnis gesetzt. Wie lange sich der Vorgang hinzog, war ein Hinweis darauf, dass Selenskyj zwar noch Vollmachten hat, aber nicht mehr die volle Macht. Und er wusste, wovon die Umfragen künden.
Der bisherige Armeechef ist populärer als er selbst, eine Folge der gescheiterten Gegenoffensive im Vo
sive im Vorjahr, für die Selenskyj die politische Verantwortung trägt. Als begnadeter Rhetoriker tut er sich bis heute schwer, diesen Fehlschlag einzugestehen. Er meidet jede Analyse dazu, warum die mit großen Hoffnungen begonnenen Vorstöße den Erfolg schuldig blieben. In das so entstandene Vakuum stieß Saluschnyj im November mit einer viel beachteten Veröffentlichung im britischen Magazin The Economist, in der er begründete, warum an der Front ein Patt zu verzeichnen sei. Die Publikation war mit dem Präsidenten nicht abgestimmt, der umgehend widersprach. Gegenüber EU-Kommissionschefin Ursula von der Leyen behauptete Selenskyj im Dezember nachdrücklich, es gebe „keine Pattsituation“.Der ukrainische Politologe Wladimir Fesenko sieht den daraufhin entbrannten Machtkampf als Zeichen einer „psychologischen Krise“ im Sog militärischer Misserfolge. Dass Selenskyj Saluschnyj aufgefordert habe, freiwillig zu gehen, sei ein Spiel auf Zeit gewesen. Es bestand keine Klarheit darüber, wer als loyaler Nachfolger in Betracht käme. Führende Militärs der Ukraine, so Fesenko, setzten längst mehr auf die Vereinigten Staaten als auf die Regierung in Kiew. Tatsächlich war schon Saluschnyjs Economist-Text ein Wink an Washington, die Waffenlieferungen erheblich zu verstärken. Die USA spielen darüber hinaus als Ausbilder wie als Lieferant von Aufklärungsdaten eine für die Armee der Ukraine kaum zu ersetzende Rolle.Saluschnyj legte nachDie US-Regierung wollte indes auf keinen Fall, dass der Konflikt zwischen dem Präsidenten und seinem General eskaliert. Dafür sprach der überraschende Besuch von US-Vizeaußenministerin Victoria Nuland am 31. Januar. Nuland hatte schon den Machtwechsel im Februar 2014 zu steuern versucht. Kurz vor dem Sturz des damaligen Präsidenten Wiktor Janukowytsch plädierte sie bei einem Telefonat mit dem amerikanischen Botschafter in Kiew dafür, den US-freundlichen Oppositionspolitiker Arsenij Jazenjuk in ein künftiges Kabinett aufzunehmen. Prompt wurde der kurz darauf Premierminister.Viel geholfen hat die Nuland-Mission offenkundig nicht. Während Selenskyj strategische Aussagen zur Kriegsführung weiter scheut, hat Saluschnyj am 2. Februar in einem Essay für die Website des US-Kanals CNN nachgelegt. Er entwarf ein für die Ukraine dramatisches Bild der Lage. Luftabwehrraketen und Artilleriemunition würden immer knapper, wegen ausbleibender Lieferungen aus den NATO- beziehungsweise EU-Staaten – die eigene Rüstungsproduktion leide an Engpässen. Saluschnyj hielt es deshalb für angebracht, dass sein Land „altes, stereotypes Denken“ überwinde. Für einen Sieg brauche man „eine einheitliche Strategie und einheitliche Logik“. Die Ukraine müsse „mit einer Reduzierung militärischer Hilfe der führenden Alliierten rechnen“, die „mit ihren eigenen politischen Spannungen zu kämpfen“ hätten.Saluschnyj plädierte für „ein neues staatliches System der technologischen Neubewaffnung“ und setzte gleich eine Frist: „Innerhalb von fünf Monaten“ müsse man liefern, um „mit weniger Ressourcen ein Maximum an Schaden für den Feind“ zu erreichen. Inhalt, Stil und Publikationsort dieser Aussagen spiegelten das enge Verhältnis Saluschnyjs zu seinen US-Beratern und wirkten dank einer geschliffenen Programmatik wie eine Kampfansage an einen konzeptionslosen Wolodymyr Selenskyj. In alldem lag Saluschnyjs Wunsch nach einer neuen Staatsführung, womöglich mit ihm als Staatschef. Insofern könnte er seine Popularität in politisches Potenzial ummünzen und bei der in diesem Jahr fälligen Präsidentenwahl kandidieren, wäre die nicht wegen des Krieges suspendiert.Ein Makel für Saluschnyjs weitere Ambitionen bleibt sein Versagen gegenüber der verbreiteten Korruption in den Streitkräften, die ihm angelastet wird. Im Dezember wurde ein Beamter des Verteidigungsministeriums verhaftet, der 36 Millionen Euro beim Einkauf von Artilleriemunition veruntreut haben soll. Im Januar nahm der Inlandsgeheimdienst SBU einen Manager des Waffenlieferanten Lwiw Arsenal fest. Ermittler werfen ihm vor, umgerechnet 100.000 Euro für Mörsergranaten kassiert zu haben. Es ist allgemein bekannt, dass es sich dabei nicht um Einzelfälle handelt. Im September 2023 hatte Präsident Selenskyj Verteidigungsminister Oleksij Resnikow entlassen, der sich als unfähig erwiesen hatte, etwas gegen die Korruption im Militär zu unternehmen.