Paradigmenwechsel: Die Rückkehr der Kriegsrhetorik
Aufrüstung Kriegsfähig sein, Wiedereinführung der Wehrpflicht, Verdreifachung der Reservisten, deutsche Taurus-Marschflugkörper an die Ukraine – die Reihe der Forderungen reißt nicht ab und wirkt ziemlich beängstigend
Abschied von der Familie vor dem Weg an die Front in der Ukraine
Foto: Diego Herrera Carcedo / picture alliance / AA
„Stell dir vor, es ist Krieg und keiner geht hin.“ So lautete ein bekannter Slogan der amerikanischen und europäischen Friedensbewegung. Er richtete sich gegen den Vietnamkrieg und den nuklearen Rüstungswettlauf im Ost-West-Konflikt.
Heute tobt der verlustreichste europäische Krieg seit Ende des Zweiten Weltkriegs in der Ukraine. Ob Russlands Intervention begrenzt bleibt oder eskaliert, kann keiner wissen. Die Logik des Krieges spricht für letztgenannte Möglichkeit. Deutschland lernt sie gerade im Schnellkurs. Die Stichworte aus dem öffentlichen Diskursraum lauten Kriegsfähigkeit, Wiedereinführung der Wehrpflicht, Verdreifachung der Reservisten, Wehrhaftigkeit der gesamten Gesellschaft, Lieferung von deutschen Taurus-Marschflugkörpern
fachung der Reservisten, Wehrhaftigkeit der gesamten Gesellschaft, Lieferung von deutschen Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine, wie es von CDU-Oppositionsführer Friedrich Merz gefordert wird, der dazu eine Abstimmung im Bundestag anberaumen ließ, jedoch an einer deutlichen Mehrheit des Parlaments scheiterte.Gemach, Gemach, beruhigen die vermeintlichen Realisten, es gehe ja nur um Kriegsverhinderung durch Abschreckung. Dafür müsse man eben kämpfen können, noch mehr Waffen liefern und eine Vorstellung vom drohenden Krieg haben.Erschreckend ist die fatalistische StimmungAuch in den USA hat man eine Vorstellung vom Krieg. Eine Umfrage unter den Experten aus amerikanischen Denkfabriken ergab 2022, dass 70 Prozent der Aussage zustimmen, China würde innerhalb der nächsten zehn Jahre versuchen, Taiwan militärisch zurückzuerobern. Im Februar 2023 schrieb General Mike Minihan, Oberkommandierender des US Air Mobility Command, in einem durchgestochenen Memo, er hoffe, er liege falsch, aber sein Bauchgefühl sage ihm, „dass wir 2025 kämpfen werden“. Das wäre dann wohl ein Krieg, der die Kampfhandlungen in der Ukraine und in Gaza in den Schatten stellen dürfte.Minihans Verantwortungsbereich würde dann eine führende Rolle übernehmen. Erschreckend ist die darin zum Ausdruck kommende fatalistische Stimmung, so als ob ein Krieg mit China nahezu unvermeidbar wäre. Auch in diesem Fall könnte man sagen: „Gemach, es handelt sich nur um ein Bauchgefühl“. Doch die Vorstellung des Generals vom Krieg ist, zumindest was die zeitliche Perspektive betrifft, ziemlich präzise.Der anfangs starke Verteidigungswille ist mittlerweile abgeflautNoch präziser sind die Erfahrungen, die die ukrainischen und russischen Soldaten an der Front machen. Sie haben eine unmittelbare Vorstellung vom Grauen des Krieges. Auch wenn die genauen Zahlen der Gefallenen und schwer Verletzten von beiden Seiten wie ein Staatsgeheimnis behandelt werden, schätzen Fachleute sie für die Ukraine auf über 150.000, für Russland auf wesentlich mehr. Kein Wunder, dass beide Seiten Probleme haben, Freiwillige zu finden und zunehmend Männer zum Kriegsdienst locken, verpflichten und pressen.Die Regierung in Kiew steht besonders unter Druck, denn ihr stehen potenziell drei Viertel weniger wehrfähiger Männer zur Verfügung als der Russlands. Seit Kriegsbeginn gilt für alle Männer zwischen 18 und 60 Jahren ein Ausreiseverbot. Die Generalmobilmachung erbrachte Anfang 2022 ca. eine Million Soldaten, die Frontverbände umfassen derzeit gut 450.000. Sie haben kaum Aussicht auf Fronturlaub und erleiden große Verluste. Der Ersatz dieser erfahrenen Kämpfer erweist sich als großes Problem. Der ukrainische Verteidigungsminister möchte daher 500.000 Wehrpflichtige einberufen, doch ist der anfangs starke Verteidigungswille mittlerweile abgeflaut. Die einen verschaffen sich durch Korruption eine Freistellung vom Wehrdienst, andere versuchen unter dem Radar zu bleiben, wieder andere sind ins Ausland geflüchtet.Kiews Rekrutierungsbemühungen hierzulande sollten unterstützt werden, findet die CDUDie angewendeten Rekrutierungsmethoden werden rauer. Die New York Times berichtet, dass Rekrutierer mittlerweile Männer gewaltsam von der Straße oder dem Arbeitsplatz ergreifen und den Rekrutierungszentren zuführen. Die harten Methoden betreffen auch jene, die regulär vom Wehrdienst befreit sind, in einem Fall sogar eine geistig behinderte Person. Dieses Verhalten ist eigentlich illegal, doch Kriegsrecht und Not machen erfinderisch.Darum hat Kiew längst ein Auge auf die ins Ausland geflohenen Ukrainer geworfen. Allein in Deutschland leben fast 200.000 im Alter zwischen 18 und 60. In der EU sollen es um die 650.000 sein. Sie sind vor dem Krieg geflohen und sehen sich nun mit der Aufforderung ihrer Regierung konfrontiert, zurückzukehren um die Heimat zu verteidigen. Kiew erwägt, wie es auch an die nicht registrierten Flüchtlinge herankommt, und welche Sanktionen das Vorhaben unterstützen könnten.Laut Bundesjustizminister Marco Buschmann (FDP) haben die nach Deutschland geflüchteten Ukrainer keine Folgen zu befürchten. Doch sind aus der CDU bereits Stimmen zu vernehmen, Kiews Rekrutierungsbemühungen in Deutschland zu unterstützen, etwa indem man Wehrdienstverweigerern das Bürgergeld kürzt und ein politisches Rückführungsabkommen mit der Ukraine abschließt.Ein solches Abkommen dürfte aber nicht einfach umzusetzen sein. Kriegsdienstverweigerung ist ein Bürgerrecht, dem die Vollversammlung der Vereinten Nationen 1987 sogar den Status eines Menschenrechts zugesprochen hat. Viele Staaten missachten es oder lassen es nur eingeschränkt gelten.In Deutschland genießt es einen hohen, im Grundgesetz verankerten Stellenwert – allerdings nur für deutsche Staatsbürger. Die Bundesregierung sollte solchen Gedankenspielen aus der Union eine klare Absage erteilen. Statt die Ukraine dabei zu unterstützen, mehr Menschen an die Front zu schicken, sollte sie ihr gesamtes politisches Gewicht dafür einsetzen, Wege zu einem Waffenstillstand auszuloten. Dies zu unterlassen bringt den Krieg unweigerlich näher an Deutschland heran, möglicherweise auch schon die Umsetzung der Forderung von Oppositionsführer Friedrich Merz, der Ukraine Taurus-Marschflugkörper zu liefern.Spätestens dann dürften sich auch hier viele fragen, was das für sie konkret bedeutet: Stell dir vor, es ist Krieg...
×
Artikel verschenken
Mit einem Digital-Abo des Freitag können Sie pro Monat fünf Artikel verschenken.
Die Texte sind für die Beschenkten kostenlos.
Mehr Infos erhalten Sie
hier.
Aktuell sind Sie nicht eingeloggt.
Wenn Sie diesen Artikel verschenken wollen, müssen Sie sich entweder einloggen oder ein Digital-Abo abschließen.