Darüber, was ihn menschlich und intellektuell ausmacht, gab Viktor Solotow in einem Videoclip, aufgezeichnet im Jahr 2018, nachdrücklich Auskunft. Da antwortete der Chef der russischen Nationalgarde, der „Rosgwardia“, auf Vorwürfe des Oppositionspolitikers Alexej Nawalny. Der hatte ihn beschuldigt, korrupte Praktiken bei der Versorgung seiner Truppe zu dulden. Mit wutverzerrtem Gesicht drohte Solotow, Nawalny werde „etwas auf den Hintern bekommen, wie er das verdient habe“, und zwar „so, dass Sie es in der Leber spüren“. Solotow ballte in jenem Video die rechte Hand zur Faust. Er forderte den Oppositionsmann auf, mit ihm in den Ring zu steigen, und das vor einem Publikum aus der Nationalgarde. Zudem beschuldigte er Nawalny, Russland &
d „destabilisieren“ zu wollen. Er sei eben „ein Produkt aus einem amerikanischen Reagenzglas“.Was Solotow im Februar 2022 sagteEine eher grobkörnige Fixierung auf die Vereinigten Staaten zeigte Solotow auch bei der Sitzung des russischen Sicherheitsrates am 21. Februar 2022, die dem Einmarsch in die Ukraine unmittelbar voranging. Dort sagte er: „Wir haben keine Grenze mit der Ukraine, sondern nur mit Amerika.“ Obwohl die Sitzung formal nur die Anerkennung der beiden Donbass-Entitäten Donezk und Lugansk beschlossen hatte, sprach der „Rosgwardia“-Chef als einziger Teilnehmer schon vom kommenden großen Krieg: „Wir müssen weitergehen, um unser Land zu verteidigen.“Dem Sicherheitsrat gehört Solotow an, seit ihn Putin 2016 zum Chef der „Rosgwardia“ ernannt hat, eine Art Heimatkorps, um Terroristen und Aufständische zu bekämpfen. Den „Rosgwardia“-Stamm bilden derzeit mindestens 340.000 Bewaffnete. Nach der Rebellion der Wagner-Söldner erhielt die Garde, was sie schon länger wollte: Panzer und schwere Waffen. Für den Posten des Kommandeurs einer potenziellen Bürgerkriegsarmee hat sich Solotow über Jahrzehnte hinweg empfohlen. Geboren 1954, stieß der gelernte Schlosser nach seinem Wehrdienst beim KGB-Grenzschutz zur „Neunten Verwaltung“ der sowjetischen Staatssicherheit, dem Personenschutz. Dass er trotz dieser Prägung ein Gespür dafür hatte, seinem Leben eine für ihn günstige Wendung zu geben, bewies Solotow im August 1991. Da stand er während des Putsches von Gegenspielern Michail Gorbatschows in Moskau neben dem russischen Präsidenten Boris Jelzin, um ihn zu schützen.Monate später wurde er Leibwächter von Anatolij Sobtschak, dem ersten gewählten Bürgermeister von Sankt Petersburg. Sarkastische Stimmen in der für die Bekämpfung der Opposition verantwortlichen Fünften Hauptverwaltung des KGB höhnten damals, die KGB-Personenschützer hätten Sobtschak bewusst den einfältigsten ihrer Kameraden an die Seite gestellt. Im Dienst für Sobtschak lernte Solotow dessen Stellvertreter kennen: Wladimir Putin. Nach der Abwahl Sobtschaks 1996 wechselte Solotow für drei Jahre zur Wachfirma „Baltik Escort“, Eigentum des Unternehmers Roman Zepow, der im Ruf stand, als mafiöser Pate schwarze Kassen zu managen.Als Putin Premierminister wurdeAls Putin von Präsident Jelzin, der seine unausbleibliche Demission kommen sah, im August 1999 zum Premierminister ernannt wurde, kehrte der inzwischen begüterte Solotow in den Staatsdienst zurück. Er avancierte zum Chef von Putins Leibwache. Als im September 2004 sein einstiger Arbeitgeber Roman Zepow mit 42 Jahren sein Leben aushauchte, war das die Folge einer Vergiftung, die nie aufgeklärt wurde. Mit ins Grab, über dem heute ein marmorner Löwe wacht, nahm Zepow viel Wissen über die Privatisierung im St. Petersburg der wilden 1990er Jahre. Bei der Aufbahrung des teuren Toten erwies Solotow seinem Ex-Boss mit einer Kerze in der Hand die letzte Ehre.So nahm eine Karriere zwischen Paten und Paternalismus ihren Lauf. 2006 wurde Solowtow zum Generalmajor ernannt. Und im September 2013 beförderte Wladimir Putin seinen bisherigen Leibwächter zunächst zum Oberkommandierenden der Truppen des Innenministeriums, bald darauf zum Ersten stellvertretenden Innenminister. Dazu gab es mehrere Orden, darunter „Für Verdienste gegenüber dem Vaterland“ und „Für Verdienste im Kampf“ sowie den „Orden der Freundschaft“. Mit dem schlichten Solotow pflegte der Bücherfreund Putin über Jahre eine Sportfreundschaft. Der Wachmann und begeisterte Boxer diente dem Präsidenten gelegentlich als Sparringspartner. Dass alte Freundschaft nicht rostet, zeigte sich am 29. Juni 2023. Da durfte Solotow zugegen sein, als Putin mit einem vertrauten Kreis führender Geheimdienstler und mit Anführern der Wagner-Gruppe über deren künftige Verwendung diskutierte.Putin weiß, dass Solotow in den Leitungsebenen russischer Sicherheitsdienste wegen seiner Haudrauf-Mentalität als Risikofaktor wahrgenommen wird. Doch gerade solche Rivalitäten ermöglichen es dem zarenähnlichen Präsidenten, die Funktion eines Mittlers und Schlichters hervorzukehren. Solotows „Rosgwardia“ untersteht letztlich Putin direkt. Über den Einsatz von Gewalt bei inneren Konflikten entscheidet im Ernstfall nicht der „Rosgwardia“-, sondern der Staatschef.