Traurige Alpen

#unten Veronika Bohrn Mena beleuchtet prekäre Arbeit in Österreich, wo die Deregulierung erst jetzt richtig Fahrt aufnimmt
Ausgabe 45/2018
Die Post bringt allen was, den Zustellern bringt sie aber manchmal nur 45 Cent pro Paket
Die Post bringt allen was, den Zustellern bringt sie aber manchmal nur 45 Cent pro Paket

Foto: SKATA/Imago

Der Wecker klingelt um 3.30 Uhr. Eine halbe Stunde später bricht Ercan mit seinem kleinen Transporter zur Arbeit auf. Eine Stunde benötigt er für den Weg. Um 5 Uhr ist Dienstbeginn in einer stinkenden und unbeheizten Lagerhalle. Auf einem Förderband fahren unzählige Pakete wie in einem Flughafen entlang. Der 24-Jährige muss die bis zu 35 Kilo schweren Pakete, die zu seiner Lieferroute gehören, heraussuchen und verladen. Ercan ist Paketbote, er trägt einen Overall mit dem großen Posthorn der österreichischen Post. Doch Ercan arbeitet nicht für die österreichische Post. Er arbeitet nicht einmal für das Subunternehmen, das Aufträge von der österreichischen Post annimmt. Ercan ist einer von 300.000 „Neuen Selbstständigen“ in Österreich, ein „Ein-Personen-Unternehmen“. In der Auftragskette steht er ganz unten. 45 Cent Umsatz erwirtschaftet er pro zugestelltem Paket. 700 Euro bleiben ihm monatlich nach Steuern und Sozialabgaben zum Überleben.

Ercan hasst seinen Job und will ihn so schnell wie möglich loswerden. Er arbeitet bis zum Umfallen, anfangs 16, nach der Eingewöhnung zwölf Stunden täglich. „Ich bin immer müde und habe in den letzten drei Jahren fast alle meine Freunde verloren, weil ich keine Zeit und keine Kraft mehr habe, um sie zu treffen“, hat er Veronika Bohrn Mena erzählt.

Bohrn Mena ist seit 2013 in der Interessenvertretung der österreichischen Gewerkschaft der Privatangestellten, Druck, Journalismus, Papier (GPA-djp) tätig und hat davor für die Plattform Generation Praktikum gearbeitet. Viele Menschen in prekären Arbeitsverhältnissen hat sie kennengelernt. Die haben ihr von Wut, Verzweiflung und dem Gefühl, im Stich gelassen worden zu sein, berichtet.

Die Kinder spüren die Furcht

Für ihr Buch Die Neue ArbeiterInnenklasse (ÖGB-Verlag 2018, 206 Seiten, 19,90 €) hat sie sich mit zehn Personen intensiver unterhalten. Neben Ercan kommen zum Beispiel ein Leiharbeiter, ein Pseudo-Praktikant, eine unfreiwillig Teilzeitbeschäftigte und eine Niedriglöhnerin zu Wort. Die Erlebnisberichte sind das Herzstück des Buches, weil sie einen lebendigen Einblick in das ermöglichen, was ansonsten wenig präsent ist: das Leiden an den flexibilisierten und schlecht bezahlten Arbeitsverhältnissen.

Dabei wird immer wieder deutlich, welche Folgen die prekären Jobs auch für das Privatleben haben. Die Kinder des Leiharbeiters Isko leiden unter der periodischen Arbeitslosigkeit ihres Vaters. Sie bemerken die Furcht der Eltern, die Zurückhaltung beim Einkaufen. Als ihre Mutter abends in einer Tankstelle jobbte, bauten sie in der Schule ab. Die wissenschaftliche Mitarbeiterin Marlene fühlt sich als Teil einer immer verfügbaren „akademischen Reservearmee“: „Es ist völlig klar, dass ich es mir nicht leisten könnte, ein Kind zu bekommen.“ Vier Lehraufträge benötigt sie, um gerade über die Runden zu kommen. Um die muss sie sich ständig neu bewerben.

Bohrn Mena gibt einen Überblick über die Flexibilisierung der Arbeitsverhältnisse in Europa. Österreich ist ein Nachzügler bei der Deregulierung. Erst mit der rechten Regierung aus ÖVP und FPÖ nimmt sie so richtig Fahrt auf. Verdienstvoll ist, dass die Verfasserin anhand von Zitaten teils marktliberaler Ökonomen und Institute zeigt, dass sich die von der Deregulierung erhofften Versprechungen nicht eingestellt haben. Weder kommt es zu einem Anstieg der Produktivität noch zu einem merklichen der Beschäftigung. Warum dennoch an der Flexibilisierung festgehalten wird? Bohrn Mena findet deutliche Worte: „Es geht um die Verteilung von sehr viel Geld und Macht, darum, wer ,flexibel‘ sein soll und wer rücksichtslos die eigenen Interessen durchsetzen kann.“

Zurzeit setzt die Kapitalseite ihre Profitinteressen durch. Wie die „neue ArbeiterInnenklasse“ dagegenhalten kann – darauf geht die Autorin abschließend ein. Für flächendeckende Lohnerhöhungen, eine allgemeine Arbeitszeitverkürzung und eine bedingungslose soziale Absicherung müsse sie sich einsetzen. Notwendig sei ein neuer Begriff von ArbeiterInnenklasse. Einer, der die Frage der wirtschaftlichen Abhängigkeit zum obersten Kriterium erhebt. „Am Ende sind wir, die wir von unserer Arbeit leben müssen, allesamt Lohnabhängige.“ Egal welcher Herkunft, Hautfarbe, welchen Geschlechts, Alters oder welcher subkulturellen Zugehörigkeit. Daran ist nichts verkehrt. Aber selbst bei den Befragten findet sich kaum etwas, was man Klassenbewusstsein des Prekariats nennen könnte. Manche sind sogar mit ihrer Arbeit zufrieden. Eine Neue Klassenpolitik scheint noch fern. Dass es auch anders geht, zeigt ein Beispiel aus Dänemark. Dort gelang es der Gewerkschaft „3F“, dass scheinselbstständige Reinigungskräfte einer Online-Plattform nun automatisch Rentenbeiträge, Urlaubsgeld und Krankengeld erhalten. Wie die dänische Gewerkschaft das erreicht hat – darüber würde man gern mehr erfahren.

Guido Speckmann lebt in Hamburg und arbeitet als Redakteur und freier Journalist

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