Wie hältst Du’s mit den Zwangsmaßnahmen?

Landtagswahlen Der Wahl-O-Mat vermeidet die Gretchenfrage.

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Die Zahl positiver SARS-Cov2-Tests sinkt in Deutschland – im 7-Tages-Mittel - seit vielen Wochen. Das gleiche tut sie, seit etwas kürzerer Zeit, in Großbritannien und Irland, wo die angeblich so gefährliche Mutante B.1.1.7 sich seit Mitte Dezember im Umlauf befindet. Sie sinkt seit Wochen in Portugal und in Südafrika, dem Land, aus dem die zweite angeblich so gefährliche Mutante kommt. Bis vor Kurzem hieß es, die Zwangsmaßnahmen würden bei einer „Inzidenz“ von 50 gelockert. Plötzlich soll eine Lockerung erst bei einer „Inzidenz“ von 35 möglich sein – eine Kennzahl übrigens, aus der man gar nichts ablesen kann, weil sie von der Testintensität und der Teststrategie abhängt. Die sind nicht nur zwischen Ländern, sondern auch in einem Land über längere Zeiträume gesehen, sehr verschieden. Ich halte Leute für gefährlich gutgläubig, die den Politikerinnen und Politikern vertrauen, welche uns seit Monaten einen Bären nach dem anderen aufbinden.

Es ist auch ziemlich gleichgültig, ob sie das tun, weil es sich in einem Lockdown leichter regieren lässt, alle Probleme auf das Virus geschoben werden können und sich allerhand durchsetzen lässt, was sonst kaum durchsetzbar wäre oder ob sie einfach nur so inkompetent sind, dass sie selbst glauben, was sie erzählen. Letzteres wäre eigentlich sogar gefährlicher. Diese Politik wird nicht enden, wenn man nicht denjenigen, die sie durchführen und unterstützen, kräftig auf die Finger klopft. Zu diesem Zwecke gibt es in einer repräsentativen Demokratie ein allgemein akzeptiertes Instrument: allgemeine, freie Wahlen. Insofern trifft es sich gut, dass 2021 in Deutschland ein „Superwahljahr“ ist. Den Auftakt machen Landtagswahlen am 14. März, also in genau 4 Wochen, in Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz.

Die Parteien beantworten zweitrangige Fragen

Die Bundeszentrale für politische Bildung stellt seit Jahren mit dem Wahl-O-Maten ein Informationsangebot zur Verfügung, das systemstabilisierend ist (das Kuratorium bilden 22 Bundestagsabgeordnete), aber bei Landtagswahlen bisher in der Regel die Fragen abdeckte, die im Vorfeld am stärksten diskutiert wurden. Die Versionen für Baden-Württemberg 2021 und Rheinland-Pfalz 2021 wurden inzwischen hochgeschaltet. In beiden Fällen werden die zentralen Fragen der kommenden Legislaturperiode bestenfalls gestreift. Diese Fragen betreffen die politischen und wirtschaftlichen Folgen der Corona-Krise. In Baden-Württemberg beschränkt sich unter 38 Fragen der Corona-Bezug auf diejenigen nach der kostenlosen Bereitstellung digitaler Endgeräte für Schüler, nach mehr Krankenhäusern in öffentlicher Hand und nach einer Vermögensabgabe für Wohlhabende zur Finanzierung von Corona-Hilfen. Ach so, nach der Beobachtung der Querdenken-Bewegung durch den Verfassungsschutz wurde auch noch gefragt. Darauf werde ich zurückkommen.

In Rheinland-Pfalz taucht ebenfalls die Frage zu den digitalen Endgeräten auf, sowie Fragen nach der Verwendung von Kontaktverfolgungsdaten aus Restaurants für die Strafverfolgung und nach der Delegierung von Entscheidungsbefugnissen bei der Infektionsbekämpfung an den Bund. Dennoch darf man in beiden Bundesländern sicher sagen: Thema verfehlt.

Das kommt nicht von ungefähr. Die Gretchenfrage überhaupt zu stellen, heißt, sie in den Mittelpunkt zu rücken. Sind die Maßnahmen, von denen viele von den Landesregierungen beschlossen wurden, verhältnismäßig und zielführend? Wer soll das wie bezahlen? Wie kehren wir zu einer freiheitlich-demokratischen Grundordnung und zur verfassungsmäßigen Rolle der Parlamente zurück? Wie machen wir wieder gut, was wir derzeit den Kindern, Jugendlichen und Studierenden antun? Es ist offensichtlich, dass die Bundeszentrale für politische Bildung und die meisten im Bundestag vertretenen Parteien kein Interesse haben können, dass diese Fragen im Vorfeld der Wahlen 2021 diskutiert werden.

Eine Partei allerdings gibt es im Bundestag, die daran ein Interesse hat. Zur Wahl dieser Partei möchte ich ganz gewiss nicht aufrufen. Das hat Gründe, die für mich mehr als ein Fliegenschiss sind. Ich will vielmehr, dass es wieder eine Alternative gibt, die nicht diese Alternative ist.

Wohlgemerkt, in den letzten Wochen hört man ab und zu einzelne kritische Stimmen aus anderen Parteien. Dazu kann ich nur sagen: Viel zu wenig, viel zu spät. Vor allem aber hört man von all diesen Parteien nichts dazu, wie die Fragen angegangen werden sollen, die ich oben aufgeführt habe. Keine dieser Parteien hat irgendeine Strategie entwickelt, wie man mit dem Fallout der Corona-Krise umgehen soll. Haben Sie nicht auch den Verdacht, dass die uns vor vollendete Tatsachen stellen werden - nach der Bundestagswahl?

Keine dieser Parteien kommt für mich noch in Frage. Wenn wir schon einen Neuanfang brauchen, was mir unzweifelhaft erscheint, dann doch bitte nicht mit denjenigen, die im letzten Jahr so deutlich gezeigt haben, dass sie weder führen noch etwas ordentlich organisieren können.

Das Orakel spricht

Ich habe also den Wahl-O-Maten benutzt. Dieses Jahr kann man nicht wie bisher nur maximal acht Parteien auf einmal vergleichen, sondern alle, die zur Wahl stehen. Vor allem aber bekommt man sehr bequem die Kurzbegründungen zu sehen, die jede Partei für ihre Antworten anführt. Der Wahl-O-Mat 2021 hat zwei Aspekte. Die Nutzerschnittstelle ist nahezu perfekt. Der Inhalt geht an fast allem Wesentlichen vorbei.

Baden-Württemberg darf mein besonderes Interesse beanspruchen. Es ist das Bundesland, in dem ich zuletzt gelebt habe – auch wenn das schon lange her ist. Es ist aber auch ein Nachbarland der Schweiz, gehört zum gleichen alemannischen Sprachraum und ist von der Mentalität und Wirtschaftsstruktur her meiner Wahlheimat recht ähnlich. Auch zu Rheinland-Pfalz habe ich ein besonderes Verhältnis. Es ist das deutsche Bundesland, in dem ich am längsten gelebt habe. Auch das ist lange her, aber die Verhältnisse kleben recht fest. Ich kann, politisch gesehen, noch gar nicht so lange weg sein. Als ich Mainz verließ, war Angela Merkel bereits mehr als ein halbes Jahr lang Bundeskanzlerin.

Der Orakelspruch des Wahl-O-Maten für Baden-Württemberg war eine herbe Enttäuschung für mich. Die „Humanisten“, die dort zur Landtagswahl antreten und deren politische Grundidee und Programmatik ich mag, landeten nur im Mittelfeld. Den speziellen Grund diskutiere ich im nächsten Abschnitt. Der Hauptgrund ist aber eine Schwäche des Wahl-O-Maten, die aus der Ansammlung teilweise eher belangloser Fragen und der Mittelwertbildung über Fragen sehr verschiedener Bedeutung resultiert. Eine Reduktion eines komplexen Problems auf nur eine Kennzahl ist immer Unsinn. Man muss sich schon die Mühe machen, die Position möglicher Favoriten im Detail zu erkunden. Das habe ich anhand der Begründungen getan, die „Die Humanisten“ für ihre Antworten gegeben haben. Diese sind vernünftig. Dass ich in einzelnen Fragen am Ende zu einer anderen Entscheidung gekommen bin, mag auch eine Generationenfrage sein. Ich bin in bestimmten Dingen gern bereit, die Entscheidungen der jungen Generation zu überlassen, die viel länger mit den Konsequenzen leben muss. In einem Punkt sind „Die Humanisten“ erstaunlicherweise sogar freiheitlicher als ich – ein generelles Tempolimit auf Autobahnen halte ich für eine vergleichsweise geringe Freiheitseinschränkung. Über Kreuz liege ich mit ihnen nur bezüglich der Beobachtung der Querdenker durch den Verfassungsschutz, die ich gesondert diskutiere.

In Rheinland-Pfalz schlägt mir das Orakel „Die Freien Wähler“ vor. Angesichts des restlichen Angebots und der Grundeinstellungen der Freien Wähler (Freiheitlichkeit, Subsidiaritätsprinzip, Bodenständigkeit) folge ich hier dem Orakel. Natürlich stimme ich auch nicht mit allen Antworten dieser Partei überein. Aber auch dort, wo ich es nicht tue, halte ich die Begründungen für vernünftig, die sie für ihre Position anbringen.

Geheimdienste und ihre Instrumentalisierung

„Die Humanisten“ wurden vom Orakel degradiert, weil ich mein „Nein“ zur Beobachtung der Querdenker doppelt gewichtet habe und es auf ein „Ja“ der Humanisten traf. Im ersten Satz machen die Humanisten klar, dass sie für das Recht der Querdenker sind, sich politisch zu betätigen und auch zu demonstrieren. Die Notwendigkeit einer Beobachtung begründen sie mit rechtsextremen Verstrickungen. Als ehemaliger DDR-Bürger reagiere ich auf diese Art von Argument allergisch.

Ich halte es für sinnvoll, dass auch eine Demokratie einen Inlandsgeheimdienst unterhält. Der Ruf nach seiner Abschaffung erscheint mir machtpolitisch naïv. Ich halte es auch für angebracht, rechtsextreme Bewegungen zu beobachten, wobei man sorgfältig zwischen rechtsextrem und rechtskonservativ trennen muss. Dass die Querdenker mehrheitlich rechtsextrem wären, ist jedoch eine Legende. Regierungen und ihre Geheimdienste haben immer die Tendenz, jede echte Opposition behindern zu wollen. Das trifft in der Corona-Krise umso mehr zu. Dass sich bei den Querdenkern diese ganze Opposition, von Familien über Professionelle, denen es stinkt, bis hin zu Irren und Verschwörungstheoretikern sammelt, ist einfach ein Resultat dessen, dass die Fragen dieser Leute nicht ernsthaft und objektiv in der Öffentlichkeit diskutiert werden.

Allgemeiner ist es so, dass es Geheimdienste zwar braucht, sie aber immer auch selbst eine Gefahr für den demokratischen Prozess sind. Das Parlament soll sie kontrollieren, aber dieser Kontrolle sind naturgemäß Grenzen gesetzt, denn ein ordentlich kontrollierter Geheimdienst ist keiner mehr. In diesem Spannungsfeld irrt man besser in Richtung von weniger Befugnissen und weniger Beobachtung. Kurz gesagt, soll man Rechtsextreme beobachten, aber es besteht kein Anlass, sie als Teil der Querdenker zu beobachten.

Nachdem ich all das gesagt habe, möchte ich betonen, dass es mich nicht davon abhält, für Baden-Württemberg eine Wahlempfehlung für „Die Humanisten“ abzugeben und zwar ohne Einschränkung. Anhänger der Querdenker, die selbst moderat sind und die ich damit verstöre, könnten ja immerhin überlegen, ob sie bei den Humanisten nicht besser aufgehoben wären, mindestens, was die kommende Landtagswahl betrifft.

Humanisten und Freie Wähler – Wie geht das zusammen?

Die Humanisten sind im Durchschnitt sehr jung und - wo nicht der Herkunft, so doch der Geisteshaltung nach - urban. Wenn links und rechts noch irgendeine Bedeutung hätten, wären sie links der Mitte zu verorten. Die Freien Wähler sind eher von den älteren Generationen dominiert, kleinstädtisch bis dörflich und rechts der Mitte zu verorten. Wenn die Humanisten in Rheinland-Pfalz antreten würden, hätte ich sie auch dort zur Wahl empfohlen. Die Unterschiede in der Haltung sind aber geringer, als man denken sollte. Es lohnt durchaus, auf den jeweiligen Wahl-O-Maten alle Kurzbegründungen zu lesen, die beide Parteien für ihre Positionen geben. Nichts davon ist Politikergewäsch, alles ist moderat, die Grundhaltung ist in beiden Fällen freiheitlich. Es handelt sich in beiden Fällen nicht um Sektierer. Ich sehe keinerlei Inkonsistenz darin, diese beiden Parteien zu Wahl zu empfehlen.

Gegen Wahlempfehlungen dieser Art wird gern angeführt, man solle doch bitte seine Stimme nicht an Parteien verschwenden, die es eh nicht über die Fünf-Prozent-Hürde schaffen. Dieses Argument ist so offensichtlich im Interesse der etablierten Parteien, dass man sich fragen darf, ob es nicht absichtlich gestreut wird. Wenn dem alle glauben, wird sich nie etwas ändern. Jetzt ist aber die Zeit, in der sich etwas ändern muss.

Vor allem ist jetzt die Zeit, in der es eine Chance gibt, etwas zu ändern. Dass die Freien Wähler prinzipiell keine Chance hätten, in einen Landtag einzuziehen, ist augenscheinlich falsch. Warum sollte das bei den Humanisten anders sein? Welche andere Partei in Baden-Württemberg ist für die junge Generation akzeptabel? Oder einfach nur für Leute, die professionell sind, aber nicht rechts?

Ist das hier ein Bärendienst?

Falls Politiker der beiden Parteien diesen Blogbeitrag lesen, könnte es sie durchaus schaudern. Keine und keiner von ihnen, würde das böse Wort „Zwangsmaßnahmen“ in den Mund nehmen. Zuviel Angriffsfläche bietet es dem politischen Gegner. Es könnte auch potentielle Wähler erschrecken, die dahinter Extremismus vermuten. Und Recht haben sie ja – Zwangsmaßnahmen haben etwas mit Extremismus zu tun. Nur eben nicht auf Seiten derjenigen, die sie beim Namen nennen.

Andererseits ist es so, dass sowohl die Humanisten als auch die Freien Wähler ihr größtes Wählerpotential unter denjenigen haben, denen die Regierungspolitik deshalb so sauer aufstößt, weil sie selbst moderat sind und weil sie für Verhältnismäßigkeit und Professionalismus sind im Umgang mit Problemen. Es ist das Privileg des parteilich ungebundenen Bloggers, das Kind unverblümt beim Namen zu nennen. Was nicht geht, wenn man eine heterogene Gruppe von Menschen einigen will (und ich weiß, wovon ich rede), geht sehr wohl, wenn man dezidiert eine Meinung in den politischen Prozess einbringt.

Ich erhebe keinen Anspruch darauf, dass Parteien, die ich zur Wahl empfehle, in allem meiner Meinung sind. Das wäre auch unrealistisch. So wie die Demokratie die schlechteste Regierungsform ist, mit Ausnahme aller anderen, die bisher ausprobiert wurden, genügt es, die aus eigener Sicht schlechteste Partei zu wählen, mit Ausnahme all der anderen, die auch noch zur Wahl stehen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Gunnar Jeschke

Naturwissenschaftler, in der DDR aufgewachsen, gelebt in Schwarzheide, Dresden, Wako-shi (Japan), Bonn, Mainz, Konstanz und Zürich.

Gunnar Jeschke

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