Hilma af Klimt und Wassily Kandinsky im K20 in Düsseldorf: Zwei außer Rand und Band
Malerei Wer hat die abstrakte Kunst erfunden? Das K20 in Düsseldorf stellt Hilma af Klint und Wassily Kandinsky in einer phänomenalen Ausstellung einander gegenüber
Wassily Kandinsky, Komposition No. 350, 1926 (links), Hilma af Klint, Die Zehn Größten, Gruppe IV, Nr. 7, Was Erwachsenenalter, 1907
Fotos: bpk/Staatsgalerie Stuttgart (links), The Moderna Museet, Stockholm, Schweden
Bis zu ihrem Tod 1944 träumte Hilma af Klint von einem Tempel, der ihre Kunst beherbergen sollte: Schon 35 Jahre zuvor fertigte sie erste Entwürfe dafür an, immer wieder zeichnete sie das Gebäude in neuen Variationen. Einige fixe Parameter allerdings wiederholten sich: Eine Treppe sollte den Saal schneckenhausförmig Richtung Kuppel durchlaufen, am höchsten Punkt sollte ein Observatorium den Blick zum Himmel öffnen. Als dann das New Yorker Guggenheim-Museum mit seinen spiralförmig ansteigenden Gängen ihre Werke 2019 zeigte, schien sich diese Vision auf fast unheimliche Art zu bewahrheiten. Dass allerdings mehr als 600.000 Menschen ihre Bilder sehen wollten – das hätte die schwedische Malerin wohl auch in ihren allzeit kühnen Tr
00 Menschen ihre Bilder sehen wollten – das hätte die schwedische Malerin wohl auch in ihren allzeit kühnen Träumen nicht gehofft. Für das berühmte Museum bedeutete diese Zahl sogar einen Rekord, keine Ausstellung hatte seit seiner Eröffnung 1939 so viele Besucher angezogen.Damit ist auch die Empörung darüber, dass eine Pionierin der abstrakten Malerei von der Kunstgeschichte fast hundert Jahre lang schlichtweg unterschlagen wurde, ein wenig abgeebbt: Lange stritt hierzulande vor allem die Kuratorin Julia Voss für eine Anerkennung des bahnbrechenden Werks von Hilma af Klint (1862 – 1944). Spätestens seit dem Erfolg in den USA kann die Malerin auch Wassily Kandinsky (1866 – 1944), dem allgegenwärtigen Platzhirsch, wenn es um die mörderische Frage geht, wer die abstrakte Kunst erfunden hat, ebenbürtig gegenübertreten.Hilma af Klint und Wassily Kandinsky gehören zusammenVielleicht sogar mehr als das: Im Düsseldorfer K20 sind die beiden, kuratiert von Julia Voss und Daniel Birnbaum, unter dem Motto Träume von der Zukunft in einer Doppel-Ausstellung vereint, doch die Perspektive stiftet af Klint: Ihr gehört nicht nur der größere Anteil an den rund 120 gezeigten Werken, auch die Choreografie der Hängung macht klar, dass es die schwedische Künstlerin ist, von der der Blick ausgeht und in deren Werk er mündet: Wie kam die Abstraktion in die Kunst? Was brauchte es, um die allmächtigen Dogmen des Realismus zu verwerfen und die Malerei in einer gewaltigen Explosion aus Formen und Farben neu auferstehen zu lassen? Ekstatisch befreit, diesmal, von den Fesseln des Gegenständlichen, jeder Pinselstrich eine Wette auf die Zukunft und auf ein neues Sehen. Das Geheimnis, die offenen Fragen, das noch zu Ergründende tritt auch hier gegen das längst – nur leider ganz falsch – Auserzählte an.Das emanzipatorische Pathos hat auch in dieser Schau Bestand. Es wird zusammengebracht, was längst zusammengehört hätte, und eine kunstgeschichtliche Unwucht behoben.Dabei geht es nicht um eine akademische Mission, sondern um ein Fest der Fantasie, die die sichtbare Welt aus sich herausholt, verwandelt, in Bewegung und Schwingung versetzt und einen inneren Blick aufs Unsichtbare wagt. Mit der sensationellen Neuentdeckung von Hilma af Klint ab den 1980er Jahren musste ein entscheidendes Kapitel der künstlerischen Moderne neu geschrieben werden. Kandinsky, geboren in Moskau, den die politischen Wirren des 20. Jahrhunderts vor sich hertrieben, galt sich und der Welt als Erfinder der ungegenständlichen Malerei, doch af Klint hatte da schon längst unfassbare Gebilde, die keiner dinglichen Wirklichkeit entsprachen, auf schaufenstergroße Leinwände gemalt. Auf einmal war es nötig, einen Perspektivenwechsel zu vollziehen und sicher Geglaubtes neu zu bewerten.Hilma af Klints Kunst könnte man heute queer nennenSchon 1907 schuf Hilma af Klint ihren monumentalen Zyklus mit dem Titel Die Zehn Größten, für den der hinterste Raum dieser Ausstellung reserviert ist: Über vier Wände reihen sich die mehr als drei Meter hohen und zweieinhalb Meter breiten Gemälde aneinander, ein erhabenes und rauschhaftes Erlebnis purer Schaulust, das in dem geräumigen Saal seine ideale Präsentation erfährt. Jedes der zehn „Evolutionsbilder“ repräsentiert eine Lebensphase, von der Kindheit über die Jugend und das Erwachsenendasein bis ins hohe Alter.Die Grundfarben ändern sich, von Blau zu Rot zu lila- und rosafarbenen Mischtönen. Organische Formen wechseln sich ab mit rätselhaften Gebilden, die manchmal an Schnecken, Lilien oder Rosen erinnern. Der Blick durchs Mikroskop und auf Petrischalen schrieb sich bei af Klint, die zeitweise an einem veterinärmedizinischen Institut arbeitete, auch in ihre Kunst ein, die man heute gut als queer bezeichnen könnte. Sie lebte und arbeitete in Frauenkollektiven, die bürgerliche Familie lehnte sie für sich ab.Placeholder image-1Beide, af Klint wie Kandinsky, wollten erklärtermaßen ein Werk erschaffen, das durch seine formale Radikalität neue Lebens- und Gesellschaftsentwürfe denkbar machte. Auf beide hatte die Anthroposophie entscheidenden Einfluss, Entdeckungen in den Naturwissenschaften brachten alte Gewissheiten durcheinander. Röntgenstrahlen oder Radioaktivität waren fremde Kräfte, die einen Blick hinter die Oberfläche des Sichtbaren einforderten. 1913 notierte Kandinsky: „Das Zerfallen des Atoms war in meiner Seele dem Zerfall der ganzen Welt gleich. Plötzlich fielen die dicksten Mauern. Alles wurde unsicher, wackelig und weich.“ Landschaften, Bäume, Häuser: Im ersten Raum der Ausstellung zeigen knallbunte Ansichten aus Riegsee und Murnau in Oberbayern, wo Kandinsky wohnte, wie sich die Konturen für den Maler nach und nach auflösten und die Farben aus den Umrissen ausbrachen.Wassily Kandinskys Dingwelt zerfiel langsamDer Zerfall der Dingwelt war eben keine brachiale, urschreiartige Geste, sondern ein schleichender und oft quälender, von Tausenden Tagebuchseiten begleiteter Prozess. Reste des Gegenständlichen drifteten weiter in den Bildern umher und sollten die Betrachter ins Werk hineinführen, um im zweiten Schritt eine meditative Versenkung ins Abstrakte zu ermöglichen. Blau und Gelb, männlich und weiblich, Diesseits und Jenseits, Mikro- und Makrokosmos: Die Verbindung des Gegensätzlichen, die Erschütterung statischer Ordnungen jeder Couleur, sie findet ganz konkret auch im spektakulären Zusammentreffen dieser beiden Künstler im Museum statt. Die Karrieren von Hilma af Klint und Wassily Kandinsky hätten unterschiedlicher nicht verlaufen können, doch beide formulierten ihre jeweiligen Utopien als fortwährende Metamorphosen.Einen von Hilma af Klints Tempelentwürfen gibt es auch in Düsseldorf zu sehen, als architektonisches Modell.
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