„Essen. Die Folkwangstadt“ – so leuchtet es Besuchern in Bahnhofsnähe entgegen. Der Schriftzug, der anlässlich des 100-jährige Jubiläums des Museums Folkwang angebracht wurde, wird zwar im Herbst wieder abgebaut, doch an kulturellem Selbstbewusstsein mangelt es der Ruhrgebietsstadt nicht: Folkwang-Museum, Ruhr-Museum, Grillo-Theater, Aalto-Theater, Philharmonie Essen, PACT Zollverein, Folkwang Universität der Künste. Essen ist das kulturelle Schwergewicht des Ruhrgebiets – und denkt zukunftsorientiert. Das zeigen nicht zuletzt die Leitungswechsel in Oper und Schauspiel: Im Aalto-Theater sitzt seit dieser Spielzeit Merle Fahrholz auf dem Chefsessel, im Grillo-Theater das Duo Selen Kara und Christina Zintl. Die beiden Intendantinnen wolle
llen das Theater für migrantische und bildungsferne gesellschaftliche Gruppen weiter öffnen. Dafür wird eine zusätzliche Spielstätte im prekären Essener Norden eröffnet. Dementsprechend lautet das Spielzeitmotto „Neues deutsches Theater – under construction“.Der Auftakt der neuen Intendanz erfüllte diese Behauptung gleich mit der feministischen Überschreibung des deutschesten aller deutschen Klassiker: Doktormutter Faust von Fatma Aydemir. Die Autorin, die Redakteurin bei der taz war, hat sich mit den Romanen Ellbogen und Dschinns einen Namen gemacht, die beide in der Regie von Co-Intendantin und Regisseurin Selen Kara in Mannheim auf die Bühne gebracht wurden. Insofern schien es nur folgerichtig und zukunftsweisend, Fatma Aydemir den Auftrag zu ihrem ersten Theaterstück zu geben.Drei düstere Gestalten kriechen umwabert von Kunstnebel über die Bühne. Die als Dialog zwischen Autorin, Theaterdirektorin und Lustiger Person ausgewiesene Szene kommt zwar als dramaturgisches Making-off daher, es geht um misogyne Klassiker, um feministische Lesarten, um Publikums- und Ensembleinteressen – ein Schlagabtausch wie schon bei Goethe, doch das in elegantes Schwarz gekleidete Trio erinnert eher an die Hexenszene des Macbeth – ein Motiv, das mehrfach wiederkehrt. Das Theater wird hier auch als Beschwörungsapparat behauptet, dessen opaker Alchemismus und Animismus sein Gegenbild im vermeintlich aufklärerischen Forscherdrang von Margarete Faust (Bettina Engelhardt) findet.Margarete Faust, Gender-Studies-KoryphäeDiese Professorin für Gender Studies gilt als Koryphäe ihres Fachs, eine deutsche Judith Butler sozusagen; doch nun scheint sie bedroht durch eine rechtspopulistische Regierung, weil sie einer Studentin eine Abtreibung auf Unikosten bezahlt hat. Bettina Engelhardts Faust strahlt Selbstsicherheit aus, die Hände leger in den Taschen ihres blauen Hosenanzugs schaut sie souverän ins Publikum, während ihre Assistentin Valeria (Beritan Balci) sich an ihr abarbeitet. Doch diese/r Faust ist auf erschreckende Weise realitätsblind: „Wir widmen uns unserer Arbeit, Valeria, und unsere Arbeit ist die Forschung“, lautet ihr Rezept gegen den rechten Shitstorm. Gepaart wird das mit der lächelnden Nonchalance der Besserverdienenden: „Im schlimmsten Fall verliere ich meinen Job.“ Für Valerias gesellschaftliches Engagement hat sie kein Sensorium. Für die eigene Verzweiflung dann schon, wenn sie so beißend klar wie triftig eine Kurzanalyse der gesellschaftlichen Konstruktion des (alternden) Weiblichen durch den Blick hinlegt.Es ist Mephisto, der den Revolver zum Sinken bringt. Nicolas Fethi Türksever mit kajalumrandeten Augen spielt ihn als manipulativen Jongleur menschlichen Begehrens. Er entlarvt die Über-Ich-Konstruktionen des faustischen Idealismus genauso als Chimäre wie das Plädoyer für Diskursivität und die „Fruchtbarkeit“ wissenschaftlichen Arbeitens. Im Schlagabtausch gewinnt die Inszenierung Tempo und Mephistos Widerspruch offenbart auch die Untiefen im faustisch-gegenderten Argumentationsgang.Die Szene in Auerbachs Keller mit zwei torkelnden Studenten/Studentinnen hinter einem Vorhang leerer Flaschen (Bühne: Lydia Merkel) wirkt etwas platt, ähnlich die Szene in der Hexenküche. Aber dann hat endlich das Objekt der Begierde seinen Auftritt. Karim (Eren Kavukoğlu) trägt ein weißes Unschuldshemd und den Premiumstempel des Minderheitenstatus: Migrant, Arbeiterkind und schwul. Faust baut denn auch vermeintlich hohe moralische Hürden auf („Ich will ihn nicht anrühren, wenn er nicht möchte.“), belügt aber den neuen Doktoranden hinsichtlich ihrer bevorstehenden Entlassung. Die beiden vollführen auf dem niedrigen kreisrunden Bühnenpodest einen Tanz des Begehrens, sehr lustig kommentiert von Mephisto. Der Text nähert sich hier durchaus dem Campus-Roman-Niveau, zoomt dann hoch in Karims pathetischen Liebes-Kitsch, entwickelt Qualitäten der Screwball Comedy, wenn die Mutter-Thematik verhandelt wird.Nein heißt am Ende doch nicht Nein, sondern ist schlicht eine Frage der Macht der Doktormutter. Es ist aber dann nicht Gretchen, vulgo Karim, der dann im Knast landet, sondern Margarete Faust selbst. Fatma Aydemirs Überschreibung bringt das Thema Machtmissbrauch treffend auf den Punkt, ist leichtfüßig, gelegentlich auch etwas leichtgewichtig. Regisseurin Selen Kara setzt die Vorlage adäquat um, wenn auch gelegentlich etwas zu symbolverliebt (Hexenmotive, Granatapfel- oder Ecce-homo-Projektionen). Nichtsdestotrotz: ein vielversprechender Auftakt der neuen Intendanz am Essener Schauspiel.