60 Jahre Élysée-Vertrag: Mehr Erinnerung als Realität

Deutschland/Frankreich Für die Regierung Scholz hat das Einvernehmen mit Paris deutlich an Wert verloren. Die Partnerschaft mit den USA genießt Priorität
Ausgabe 02/2023

In die Jahre ist sie gekommen, die deutsch-französische Freundschaft, wie bei einem Paar, das sich nicht mehr viel zu sagen hat. Vor 60 Jahren, am 22. Januar 1963, besiegelten Präsident Charles de Gaulle und Kanzler Konrad Adenauer die deutsch-französische Zusammenarbeit mit dem Élysée-Vertrag. Man wollte sich künftig in allen wichtigen außen- und sicherheitspolitischen Fragen abstimmen. Nachdem Deutschland seinen Nachbarn dreimal mit Krieg überzogen hatte, gewiss ein großartiger Fortschritt. Dessen Motto – Frieden durch Kooperation – sollte nach gaullistischer Vorstellung den Kern bilden für ein eigenständiges (West-)Europa, das sich zwischen den Supermächten USA und Sowjetunion behauptet.

Freilich wurde das Abkommen bereits bei seiner Ratifizierung entwertet, weil der Bundestag eine Präambel hinzufügte, um die enge Bindung an die USA zu betonen. Damals gab es eine Debatte zwischen „Atlantikern“, die den US-Ordnungsvorstellungen folgten, und „Gaullisten“, die Europa als unabhängige Kraft sahen. Tempi passati! Das heutige Europa ist amerikanischer denn je, zum Leidwesen Emmanuel Macrons, dessen Vorstöße zur Stärkung der EU nie recht zündeten, weil der deutsch-französische Motor nur allzu oft stottert.

Der letzte gemeinsame Versuch liegt vier Jahre zurück. Im Januar 2019 unterzeichneten Angela Merkel und Macron den Aachener Vertrag, der den Élysée-Vertrag erneuern sollte. Heute muss man konstatieren, es hat sich nichts in Richtung europäische Souveränität durch mehr strategische Autonomie bewegt. Im Gegenteil: Während Macron Deutschland vor einer Politik der Selbstisolation warnte, lancierte Berlin mit 14 Nato-Staaten eine Initiative für eine europäische Luftabwehr – ohne Frankreich. Die USA bestimmen politisch und militärisch das westliche Handeln im Ukrainekrieg. Washington ist der Ansprechpartner Moskaus, nicht Berlin oder Paris.

Wie einst Tony Blair

Lange vorbei ist die Zeit, als Adenauer de Gaulle noch beschwor, ein Europa unter französischer Führung aufzubauen. Ob für Frankreich ein Europa unter deutscher Führung akzeptabel gewesen wäre, ist zu bezweifeln. Schon weil Bonn für Paris das mit Blick auf einen britischen EU-Beitritt befürchtete Trojanische Pferd war, das als Juniorpartner der USA deren Interessen in der – damals – EG besonders berücksichtigt hätte. Heute reicht es für eine Senior-Partnerschaft auf Augenhöhe wegen des immensen Machtgefälles zwischen Berlin und Washington auf keinen Fall. Möglicherweise winkt sogar die Rolle des amerikanischen Pudels, wie sie einst den britischen Premier Tony Blair ereilte.

Dann doch lieber ein stotternder deutsch-französischer Motor? Der müsste aber zügig überholt werden angesichts des amerikanisch-chinesischen Hegemonialkonflikts, der Berlin und Paris schon bald vor die delikate Frage stellen wird: Wie stehst du dazu? Bereits existierende Abhängigkeiten lassen die Antwort erahnen. Die jüngsten amerikanischen „Ertüchtigungsprogramme“ und ihre Folgen für Technologieführerschaft, nationale Re-Industrialisierung und militärische Dominanz zeigen ganz klar, wer Koch ist und wer Kellner. Im Dezember verabschiedete der US-Kongress den CHIPS Act, der 280 Milliarden Dollar für die nationale Halbleiterindustrie vorsieht, um wieder globale Nr. 1 zu werden mit neuen hochwertigen Arbeitsplätzen in den USA. Kurz zuvor wurde mit dem Inflation Reduction Act bei einem Volumen von 374 Milliarden Dollar das größte Investitionsprogramm aller Zeiten für den Klimaschutz verabschiedet. Allerdings nur für den heimischen Markt, sodass europäische Unternehmen abzuwandern drohen. Außerdem hat der Militäretat mittlerweile die schwindelerregende Höhe von 858 Milliarden Dollar erreicht. Der Wettbewerb mit China, das bis 2049 allenthalben die globale Nr. 1 sein will, ist voll entbrannt.

Weder Berlin noch Paris können sich dieser geopolitischen Konkurrenz entziehen. Woran es in solcher Lage besonders fehlt, das ist eine gemeinsame Vorstellung von einer Zukunft Europas nach dem Ukrainekrieg. Während sich Macron zumindest traut, unkonventionelle Vorschläge zu machen – wie etwa Sicherheitsgarantien für Russland –, reist Olaf Scholz im US-Geleitzug und bestellt Waffen wie Flüssiggas in den Vereinigten Staaten.

Hans-Georg Ehrhart ist Senior Research Fellow am Friedensforschungsinstitut in Hamburg

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