75 Jahre NATO: Sie ist stärker denn je und fühlt sich bedrohter denn je
Zeitgeschichte Zwölf Staaten gründen am 4. April 1949 die NATO. Zunächst ist für den Militärpakt eine Frist von 20 Jahren vorgesehen, doch dann wird Existenzsicherung zum Markenzeichen
Kriegstüchtig 1958: Minister Strauß (dunkler Hut) und Kanzler Adenauer (heller Hut) lassen sich den Panzer HS 30 erklären
Foto: Ullstein
Ein Sprichwort sagt: „Totgesagte leben länger.“ Es könnte auch für die NATO gelten. Denn sie begeht am 4. April den 75. Geburtstag ihrer Gründung und hat nicht nur das Ende des Ost-West-Konflikts überlebt, sondern ebenso die erste Amtszeit von Donald Trump, der den Pakt für obsolet erklärte. Auch der Eindruck von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, die NATO sei hirntot, stellte sich als Fehlurteil heraus. Fünf Jahre später ist das Bündnis um Nordmazedonien (2020), Finnland (2023) und Schweden (2024) auf 32 Staaten gewachsen. Nach dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine ist seine verteidigungspolitische Relevanz für Europa unstrittig. Freilich setzt die NATO bislang zu einseitig auf die militärische Karte u
e und vernachlässigt die diplomatische.Lieferte früher die mutmaßliche Bedrohung durch den Warschauer Pakt den nötigen Kitt für die westliche Allianz, ist es heute Russland. Wenn es einen Gewinner der imperialen Politik Moskaus gibt, dann die NATO. Sie ist nicht nur größer geworden, auch militärisch so stark wie noch nie. Selbst wenn das Klagen über angeblich zu geringe Rüstungsausgaben nicht abreißt, bleibt festzuhalten, dass die Mitglieder ihre Militärausgaben stetig erhöhen – seit 2015 von 895 Milliarden Dollar auf 1,3 Billionen 2023. Ein Ende dieses Trends ist nicht abzusehen, da erst 19 Mitgliedstaaten das von der Allianz 2014 bekräftigte Ziel, zwei Prozent ihrer Bruttoinlandsprodukte für Verteidigung auszugeben, erfüllen und bereits einige Mitglieder fordern, es auf drei oder vier Prozent zu erhöhen. Über vier Prozent lagen die Verteidigungsausgaben der Bundesrepublik in der ersten Phase des Kalten Kriegs nach 1949, der zur Teilung Europas und Deutschlands in zwei verfeindete Lager – angeführt von den Supermächten USA und Sowjetunion – führteAm 4. April 1949 gründeten zwölf Staaten den Nordatlantikpakt, um eine Politik des Containments gegen Osteuropa verfolgen zu können. Zunächst sollte der NATO-Vertrag für 20 Jahre gelten, wurde dann jedoch, als die vergangen waren, auf unbestimmte Zeit verlängert. Das NATO-Hauptquartier wanderte von London (ab 1949) nach Paris (ab 1952) und Brüssel (1967). Die Bildung des Warschauer Pakts durch acht Ostblockstaaten erfolgte 1955 als Reaktion auf die Wiederaufrüstung des westdeutschen Staates und seines Eintritts in die westliche Allianz. Der erste Generalsekretär der NATO, der britische Diplomat Lord Hastings Ismay, beschrieb deren Funktion mit den Worten: „Die Sowjetunion draußen, die Amerikaner drinnen und die Deutschen nieder zu halten.“Ende der 1990er Jahre lautet die Devise: Out of area or out of businessNATO und Warschauer Pakt standen sich hochgerüstet an der deutsch-deutschen Grenze gegenüber, die Gefahr eines Nuklearkrieges war real. Während der Kuba-Krise 1962 schaute die Welt in den Abgrund eines Infernos. Diese Erfahrung trug maßgeblich dazu bei, dass sich die Supermächte darauf einigten, den Pfad der Konfrontation durch die Aufnahme von Rüstungskontroll- und Abrüstungsgesprächen zu ergänzen. Mit dem Harmel-Bericht von 1967 unterstrich die NATO überdies, dass sie nicht nur ein Militärpakt, sondern auch ein politisches Bündnis sei. Die Mitgliedstaaten sollten ihre Beziehungen zur UdSSR verbessern, um Spannungen zu reduzieren und Sicherheit zu garantieren. Voraussetzung dafür war die Anerkennung der Realitäten. Die Option, dass künftig Verteidigung und Entspannung als gleichwertige Aufgaben verfolgt werden sollten, ebnete den Weg, um Blockkonfrontation abzubauen und schließlich den Ost-West-Konflikt zu überwinden. Die UdSSR „draußen zu halten“, war nicht mehr nötig, als die sich aus ihrem strategischen Vorfeld zurückzog und Ende 1991 zerfiel. Der Nachfolgestaat Russland hatte nur noch rund die Hälfte der Einwohner und des Bruttoinlandsproduktes der Sowjetunion. Die zweite Funktion des Bündnisses, Deutschland unter Kontrolle zu halten, erledigte sich durch die Integration des wiedervereinten Landes in die NATO. Damit schien der Ost-West-Konflikt beendet und eine neue Sicherheitsordnung in Reichweite, zumal das um die DDR aufgestockte Deutschland den Verzicht auf Massenvernichtungswaffen bekräftigte.Das kurzzeitig vorhandene Fenster für ein kollektives Sicherheitssystem schloss sich angesichts der nur auf kooperative Sicherheit ausgerichteten Interessen und gegenläufiger politischer Dynamiken schnell. Dazu trug besonders die Entwicklung der NATO bei. Sie durchlief in den Jahren nach 1990 einen Anpassungsprozess, der den Willen ihrer Mitglieder unterstrich, sie als zentrales, exklusives Sicherheitsinstrument zu erhalten. Zwar betrieb sie kooperative Sicherheit über Institutionen wie den Nordatlantischen Kooperationsrat oder die Partnerschaft für den Frieden, doch dehnte sie sich zugleich immer weiter Richtung Osten aus. Russland versuchte man durch Formate wie die NATO-Russland-Grundakte und den Ständigen NATO-Russland-Rat einzubinden, gestand ihm aber keine Mitentscheidungsrechte zu. Zudem wurde nun außerhalb des Bündnisgebietes interveniert, erst regional, dann weltweit. Ende der 1990er Jahre lautete die Devise: Out of area or out of business.Mit dem Feuer spielenSeit 2014 steht wieder Abschreckung als Kernauftrag im Vordergrund, wofür besonders die russische Annexion der Krim den Ausschlag gab. Vorausgegangen war der Versuch, Georgien und die Ukraine über den Membership Action Plan den Weg in das Bündnis zu ebnen. Dafür hatte sich besonders der US-Präsident Georg W. Bush (2001 – 2009) starkgemacht. Auch wenn Deutschland und Frankreich 2008 diesen Schritt auf dem Bukarester NATO-Gipfel blockierten, wurde doch signalisiert, dass beiden Ländern eine Mitgliedschaft grundsätzlich offenstehe. Damit war für Moskau eine rote Linie überschritten. Manche sehen darin den Ursprung für den Krieg gegen die Ukraine.Seit der stattfindet, stellt sich die Frage, welche Rolle die NATO dabei einnimmt. Mehrere Möglichkeiten werden diskutiert. Nach einer von der Mehrheit der Mitgliedsländer unterstützten Option beschränkt sich der Pakt darauf, die Sicherheit seiner Mitglieder zu gewährleisten, die Abschreckung auszubauen und der Ukraine anhaltend beizustehen, ohne direkt Kriegspartei werden zu wollen. Zuweilen wird die Gefahr eines in einigen Jahren zu erwartenden russischen Angriffs auf die NATO suggeriert, wohl um weiter erhöhte Rüstungsausgaben zu legitimieren. Doch sind die NATO-Staaten bereits heute militärisch und ökonomisch stärker als Russland.Auch wird mit dem Gedanken gespielt, sich militärisch direkt in der Ukraine zu engagieren, etwa durch Bodentruppen. Wer dafür plädiert, nimmt das Risiko einer direkten Konfrontation in dem Glauben in Kauf, dass Russland davor gegenwärtig noch zurückscheut. In der Sprache des Kalten Krieges nennt man das „brinkmanship“ – mit dem Feuer spielen. Ein Ansatz, der auf Präsident Dwight D. Eisenhower (1953 – 1961) und seinen Außenminister John Foster Dulles zurückgeht, die durch den angedrohten Einsatz strategischer Kernwaffen den Ostblock von möglicher Expansion abbringen wollten. Eine dritte Variante in der Ukraine-Frage ist ein Wahlsieg Donald Trumps und der Austritt der USA aus der NATO. Damit würde sie ihre dritte von Lord Ismay genannte Funktion verlieren, nämlich die USA in Europa zu halten. Für diese Option sprechen der erratische Charakter Trumps und seine Drohungen – dagegen die geopolitischen Interessen der USA in Europa, am Erhalt einer Führungsrolle in der NATO und an deren Instrumentalisierung bei der globalen Rivalität mit China.Alle drei Möglichkeiten sind gefährlich, aber nicht alternativlos. Da in der Ukraine der Sieg einer Seite kaum zu erwarten ist, führt an Verhandlungen und einem Einfrieren des Krieges wie an einem Stopp des NATO-Beitrittsprozesses der Ukraine kein Weg vorbei. Die USA und Russland werden sich angesichts des Risikos einer direkten Konfrontation darauf besinnen müssen, dass es ihnen schon einmal gelang, eine brisante Feindschaft durch kleine Schritte in Richtung Vertrauensbildung und Rüstungskontrolle zu überwinden. Daraufhin initiierte die NATO 1967 den Harmel-Prozess, der ihre politische Funktion betonte. Davon im Ukraine-Konflikt Gebrauch zu machen, hieße Realitäten anzuerkennen.
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