Noch nie war die NATO so wichtig wie heute, noch nie hat sie sich so wichtig gemacht. Ihr langjähriger Generalsekretär Jens Stoltenberg platzt schier vor Stolz und Selbstbewusstsein. Überall verkündet er, die NATO sei einiger und stärker denn je. Sie müsse aber noch härter, noch besser, noch schneller und noch stärker werden.
100 Milliarden Euro würde Deutschland für Waffen und Militär ausgeben – jedes Jahr
Medien und Sicherheitsexperten folgen dieser Rattenfänger-Melodie wie in Trance und stempeln jeden, der auch nur die geringsten Zweifel hegt, zum Putin-Lakaien. Dabei müsste die NATO dem russischen Präsidenten eigentlich Dank abstatten. Er hat das Bündnis wiederbelebt und zu dem gemacht, was es immer sein wol
s es immer sein wollte: die mächtigste Militärmaschine aller Zeiten.Allein die Zahlen sind beeindruckend. Die NATO hat 3,3 Millionen Soldaten unter Waffen, verfügt über 3.400 Kampfflugzeuge, 10.000 Hubschrauber, 12.400 Kampfpanzer, eine Million gepanzerte Fahrzeuge, 16 Flugzeugträger, 112 Zerstörer, 143 U-Boote und 6.000 Atomsprengköpfe. Sie wendet über zwei Billionen US-Dollar jährlich fürs Militär auf, die Zuwachsrate liegt derzeit bei 8,3 Prozent. Nicht zwei Prozent des Bruttoinlandprodukts sollen NATO-Staaten künftig in ihre Armeen stecken, sondern 2,5 oder drei oder gar vier Prozent. Der Verteidigungsetat Deutschlands würde von 32 Milliarden Euro im Jahr 2014 auf 100 Milliarden aufgebläht. Wie bizarr der gegenwärtige NATO-Hype ist, erkennt man vor allem daran, dass das Militärbündnis noch vor wenigen Jahren von US-Präsident Donald Trump für „obsolet“ und von Frankreichs Präsident Emmanuel Macron für „hirntot“ gehalten wurde.Dieser Stimmungsumschwung von „zu Tode betrübt“ zu „himmelhochjauchzend“ ist ein typisches Merkmal von Depressionen. Schon deshalb sollte man die NATO nicht schwarz-weiß malen, sondern nüchtern betrachten. Ihre graue Wirklichkeit sieht eher durchwachsen aus. Das hat mit drei Entwicklungen zu tun, die ihr zunehmend Probleme bereiten.Die rein zahlenmäßige Ausdehnung auf bald 32 Mitglieder macht das Bündnis so schwerfällig wie die EU. Hinzu kommt das Bestreben der USA, die NATO auch geografisch zu überdehnen, und zwar in Richtung „Indo-Pazifik“. China soll genauso eingedämmt werden wie Russland. Aber will Slowenien die US-Interessen in der Straße von Taiwan verteidigen?Das Problem mit den Radikalnationalisten, die an die Macht kommenNoch problematischer ist die wachsende Zahl von NATO-Staaten, die ganz eigene Sicherheits- und Großmachtinteressen verfolgen. Sie werden so manchem Bündnisgenossen in die Quere kommen. Man denke an die Türkei oder – künftig – an Polen und Deutschland. Die inneren Widersprüche des Bündnisses werden umso stärker zutage treten, je mehr Zuspruch radikalnationalistische Parteien finden. In einigen NATO-Ländern regieren sie bereits oder stehen an der Schwelle zur Macht.Um solche potenziell bündnissprengenden Entwicklungen aufzuhalten, erarbeitet die NATO allerlei Konzepte, deren Namen möglichst harmlos klingen sollen, um keinen Verdacht zu erregen. So hat Deutschland die Idee der „Rahmennation“ ins Bündnis eingebracht. Zusammen mit dem Konzept zur „Regionalisierung“ läuft dies auf eine Hierarchisierung der NATO hinaus, auf eine Einteilung in wichtige Führungs- und unwichtige Hilfsnationen.Als „Rahmennation“ fungieren derzeit Großbritannien, Deutschland und Italien. Die Deutschen sollen „die Ostflanke“ sichern und dazu 15 kleinere NATO-Staaten unter ihre Fittiche nehmen. Das weckt den Argwohn anderer ehrgeiziger NATO-Mitglieder, denen bislang kein Status als Rahmennation zuerkannt ist. Polen und Frankreich haben bereits protestiert. Sie fürchten nicht nur den Verlust von Kommandostrukturen, sondern auch die Benachteiligung ihrer heimischen Rüstungsindustrie.Eine Erinnerung an Henry Wallace würde US-Präsident Joe Biden guttunÜberdehnung, Nationalismus und Hierarchisierung – diese drei Gefahren bedrohen die NATO von innen. Sie könnte eines Tages implodieren wie das Römische Reich. Gibt es einen Ausweg? Durchaus. Die NATO könnte, statt immer nur auf Artikel 5 des Nordatlantikvertrags zu starren (auf die Beistandspflicht im Kriegsfall), den viel wichtigeren Artikel 1 beherzigen. Dort steht: Die Aufgabe der NATO ist es, Konflikte friedlich beizulegen.Sie könnte auch, statt die Eindämmungspolitik von 1947 stur zu wiederholen, auf Entspannung setzen. Der heute weitgehend vergessene Gegenkandidat von US-Präsident Harry S. Truman war Henry Wallace, vormals Vizepräsident unter Franklin Delano Roosevelt. Er kandidierte für die Progressive Partei gegen Trumans „alternativlose“ Politik des Kalten Krieges. US-Präsident Joe Biden, der nicht selten als Wiedergänger Trumans gesehen wird, könnte etwas vom wallaceschen Geist der Entspannung vertragen.Sollte Biden den „Spinner“ Wallace aber wegen dessen „Russlandnähe“ verschmähen, könnte er sich auch an Richard Nixon orientieren. Der hatte, um den Imageschaden des Vietnamkriegs zu beheben, 1969 (!) vorgeschlagen, die NATO in ein zivileres Bündnis umzuformen, das den Klimawandel bekämpft, nicht die Sowjetunion oder China. Solche Utopien, obwohl dringlicher denn je, sind heute schwer zu vermitteln. Es ist aber die einzige Chance der NATO, zu überleben.