Selenskyj musste sich neu kalibrieren, damit kein Schatten auf den Gipfel fiel
Nato-Gipfel Die Frustration von Wolodymyr Selenskyj wegen der nicht erfolgten klaren Einladung zum Beitritt blieb den NATO-Staatschefs in Vilnius nicht verborgen, auch wenn die ostentative Enttäuschung eher für die eigenen Leute gedacht war
Wolodymyr Selenskyj auf einer gemeinsamen Pressekonferenz mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg in Vilnius
Foto: Imago/NurPhoto
Gemessen an den Maßstäben internationaler Gipfel war es eine undiplomatische Intervention. Ein offensichtlich frustrierter Wolodymyr Selenskyj twitterte, dass sich die NATO-Verbündeten der Ukraine gegenüber respektlos verhielten. Sie hätten über die Hoffnungen seines Landes diskutiert, ohne dem eine klare Beitrittsperspektive zu eröffnen. „Es scheint, dass es keine Bereitschaft gibt, die Ukraine in die NATO einzuladen, noch sie zu einem Mitglied des Bündnisses zu machen“, schrieb er.
Joe Bidens Hürde
Zu diesem Ausbruch kam es, kurz bevor Joe Biden, der britische Premier Rishi Sunak und die 29 anderen Staats- und Regierungschefs der Allianz eine abschließende Gipfelerklärung zu diesem Thema unterzeichnen sollten. Wie sich hera
lten. Wie sich herausstellte, handelte es sich um ein Kommuniqué, in dem sich weder ein Zeitplan für den Beitritt der Ukraine fand noch die Bedingungen aufgeführt waren, die sie erfüllen müsste. Es wurde noch nicht einmal eine Beitrittseinladung zu einem unbestimmten Zeitpunkt in der Zukunft ausgesprochen, sobald der Krieg mit Russland vorbei ist.Selenskyj tat, was sowohl auf die internationale öffentliche Meinung wie das Treffen der Staats- und Regierungschefs in Vilnius gemünzt war. Die NATO-Staaten gingen wie beabsichtigt vor und unterzeichneten eine sorgfältig ausgehandelte Erklärung, in der sie der Ukraine u.a. versprachen, beitreten zu können, sobald sie nicht näher bezeichnete „Reformen der Demokratie und des Sicherheitssektors“ abgeschlossen habe. Eine Hürde, wie sie besonders Joe Biden aufgestellt hatte.Zudem sagte sein Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan gegenüber CNN, dass die Ukraine nicht sofort der NATO beitreten könne, da es „eine unausweichliche Tatsache“ sei, dass die gegenseitige Verteidigungsklausel des NATO-Vertrages die Verbündeten zwingen würde, in einen direkten Krieg mit Russland einzutreten.„Wir sind nicht Amazon“Der ukrainische Präsident war am Dienstagnachmittag in der Hauptstadt eines Landes eingetroffen, das wie sein Heimatland bis zu deren Auflösung Ende 1991 Teil der Sowjetunion war. Die friedliche, wohlhabende Stadt liegt weniger als 20 Meilen (ca. 32 Kilometer) vom mit Russland verbündeten Belarus entfernt. Man sieht Wohnblöcke, die in vielem an ukrainische Städte erinnern. Geschützt durch die NATO-Mitgliedschaft konnten die Menschen in großer Zahl diese Quartiere verlassen, um Selenskyjs Rede im Stadtzentrum zu hören. Kiew, sagte er, sei bereits Litauens Verbündeter. Man werde für die „Verteidigung der eigenen und Ihrer Freiheit“ kämpfen.An diesem Abend hatten sich die Menschen im Stadtzentrum auch deshalb versammelt, um zu beobachten, wie die Staats- und Regierungschefs in ihren Autokolonnen bei einem der größten internationalen Meetings, die das baltische Land je ausgerichtet hat, bei Präsidentenpalästen und Königsschlössern ein- und ausfuhren.Selenskyjs Frustration drohte einen Gipfel zu überschatten, der zu weiterer praktischer Unterstützung für die Ukraine führen sollte. Bei den westlichen Staats- und Regierungschefs, deren Länder erhebliche militärische und wirtschaftliche Hilfe leisten, konnte das nicht unbemerkt bleiben.Ben Wallace: „Die Leute wollen ein bisschen Dankbarkeit sehen“So deutete Ben Wallace, der britische Verteidigungsminister, an, dass Selenskyj seiner Meinung nach vielleicht etwas zu weit gegangen sei. „Ob es uns gefällt oder nicht, die Leute wollen ein bisschen Dankbarkeit sehen“, sagte er und meinte damit, dass die Ukraine in ihrer Eile, dringend benötigte Militärhilfe zu erhalten, ein Waffengeschenk annehme und sofort mit der Lobbyarbeit für das nächste beginne. „Wissen Sie, wir sind nicht Amazon“, sagte er und verwies darauf, dass er einmal in die Ukraine gereist sei, um bei der Ankunft sofort eine Einkaufsliste zu erhalten.Bezeichnenderweise verwendete Sullivan eine ähnliche Sprache, als er sich über die Frage eines ukrainischen Aktivisten ärgerte, der meinte, die USA hätten „Angst vor einem Sieg der Ukraine“. Der hochrangige Biden-Berater meinte, dass das amerikanische Volk, also die US-Steuerzahler, „ein gewisses Maß an Dankbarkeit der Vereinigten Staaten wie seitens unserer Regierung“ verdient hätten und vermied damit sorgfältig eine direkte Kritik an der Ukraine.Schließlich hat das Land auf diesem Gipfel viel erreicht: eine Zusage aller G 7-Mitglieder, die militärische und wirtschaftliche Hilfe langfristig fortzusetzen. Dazu kamen eine Vereinbarung, mit Hilfe von elf NATO-Ländern ein Ausbildungsprogramm für ukrainische Piloten auf westlichen F-16-Jets zu starten, ein 700-Millionen-Euro-Militärhilfepaket aus Deutschland und viele andere neue Zusagen sowie ein formelles Versprechen, dass „die Zukunft der Ukraine in der NATO“ liege.Zerwürfnis vermiedenAls Selenskyj am Mittwoch dann direkt auf dem Gipfel in Erscheinung trat, musste er sich neu justieren, um zu verhindern, dass aus seiner Enttäuschung ein Zerwürfnis wurde. Er zeigte sich in einer gemeinsamen Pressekonferenz mit NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg ernst und zurückhaltend und achtete darauf, deutlich zu machen, dass er Biden, dem US-Kongress und dem amerikanischen Volk dankbar sei. „Wir wissen das sehr zu schätzen.“Aber trotz all dieser Rücksichten achtete Selenskyj auch darauf, an seiner Kernforderung festzuhalten, dass er weiter eine formelle Einladung zum NATO-Beitritt wünschte. Dies sei, wie er sagte, „ein Signal“, dass es der Allianz mit einer eventuellen Mitgliedschaft ernst sei. Nur wird nichts in dieser Richtung passieren, solange der Krieg mit Russland heiß ist, und die US-Wahlen im nächsten Jahr nicht durch sind.