Können russische Devisenvermögen für den Wiederaufbau der Ukraine genutzt werden?
Sanktionen Der Westen würde das eingefrorene russische Staatsvermögen gern für den Wiederaufbau der Ukraine nutzen. Deutschland ist zurückhaltend wegen alter Entschädigungsforderungen aus dem Zweiten Weltkrieg und möglicher neuer Präzedenzfälle
Mit Beginn des Ukraine-Krieges verlor Russland schlagartig die Verfügung über ein Devisenvermögen von 400 Milliarden Dollar
Foto: Imago/Panthermedia
Die Staaten des Westens hatten für den Fall einer russischen Invasion in die Ukraine Sanktionen von noch nie da gewesenem Ausmaß angekündigt. Bereits am 24. Februar 2022, dem ersten Tag des Angriffs, wurden – offenbar zuvor abgestimmt – Russlands Zentralbank-Guthaben eingefroren: gut 400 Milliarden Dollar. Zur Rechtfertigung wurde von den G-7-Staaten erklärt, dass man die „Stärke des Rechts“ gegen das „Recht des Stärkeren“ durchsetze, was nicht nur alle Optionen offenhielt, sondern vor allem das Recht des Stärkeren auf westlicher Seite bediente. Dies berührt die Frage nach dem rechtlichen Rahmen für diese Form des Kampfes westlicher Demokratien gegen antiwestliche Autokratien.
Auf den Geschmack kamen die USA im
#252;hrt die Frage nach dem rechtlichen Rahmen für diese Form des Kampfes westlicher Demokratien gegen antiwestliche Autokratien.Auf den Geschmack kamen die USA im August 2021 nach der Machtübernahme der Taliban in Kabul. Die vorherige Regierung unter Präsident Aschraf Ghani hatte – vorwiegend aus den immensen Zahlungen ihrer westlichen Unterstützer – Devisenreserven von knapp zehn Milliarden Dollar angehäuft, von denen sieben Milliarden bei der US-Zentralbank-Filiale in New York geparkt waren. Als sich die neuen Machtverhältnisse am Hindukusch als zunächst unumkehrbar erwiesen, sperrten die USA dieses Depot. Selbst als in Afghanistan eine Hungersnot ausbrach, die durch diese Mittel hätte gelindert werden können, blieb es dabei. Zugleich wuchsen die Begehrlichkeiten gegenüber diesem mutmaßlich auf lange Zeit herrenlosen Schatz.Opfer der 9/11-Anschläge machten vor US-Gerichten Ansprüche auf Schadensersatz geltend, die sich aus jenem Guthaben bedienen ließen. Die US-Regierung erklärte, der Sieben-Milliarden-Fonds sei beschlagnahmt worden für einen allfälligen Gebrauch zu humanitären Zwecken, aber nicht blockiert gemäß dem „Terrorism Risk Insurance Act“. Das heiße, für Schadensersatzzwecke seien die Gelder nicht verfügbar, blockiert blieben sie dennoch. Gemäß dem „Foreign Sovereign Immunities Act“ sind Zentralbank-Guthaben von Drittstaaten in den USA vor der Beschlagnahme durch Gerichte geschützt, wenn damit bestimmte Forderungen durchgesetzt werden sollen. Nur ist es so, dass die US-Regierung die Taliban nicht als legitime Regierung des Drittstaates Afghanistan anerkennt. Sie argumentiert daher, gerichtlich sei zu entscheiden: Steht dieses Guthaben den Taliban als illegitimen Vertretern des afghanischen Staates zur Verfügung oder darf es genutzt werden, um Ansprüche nach dem Terrorism Risk Insurance Act zu bedienen, sodass sämtliche Schutzvorkehrungen dahinter zurückzustehen haben? Das ist eine haarspalterische, rechtlich diffuse Argumentation. Mit der Macht eines vorübergehenden Besitzes im Rücken wird auf Zeit gespielt. Nur ist der „Besitzende“ kein Privatier, sondern der Staat. USA. Und der dominiert mit seinem Dollar das Weltfinanzsystem. Beinahe alle Zentralbanken weltweit sind daher gezwungen, einen Gutteil ihrer Währungsreserven in Dollar zu halten und das Risiko einzugehen, unter US-Jurisdiktion zu fallen.Russland hatte Großteil seiner Devisenreserven aus den USA abgezogenFolglich versuchte Russland, sich abzusichern, seit der „Fall Afghanistan“ keine Zweifel ließ, welch heißes Pflaster die USA für Devisenreserven sein können. Russland diversifizierte seine Devisenanlagen, indem in den USA per 1. Januar 2022 nur noch 6,4 Prozent von 640 Milliarden Dollar Reserven deponiert blieben – rund 40 Milliarden. Mehr als 50 Prozent wurden in andere westliche Staaten verlagert – nach Deutschland 15, nach Frankreich und Japan je zehn Prozent, doch es half nichts. Mit Beginn des Ukraine-Krieges verlor Russland schlagartig die Verfügung über ein Devisenvermögen von 400 Milliarden Dollar. Dies galt zudem für sämtliche Devisen, die durch den Handel erwirtschaftet wurden. Dass Russland in der Folge darauf bestand, sich Ausfuhren nicht länger in Dollar bezahlen zu lassen, lag auf der Hand. Wo hätte man die Mittel gegen Beschlagnahme sicher deponieren sollen?Diese drakonische Maßnahme traf die russischen Eliten einigermaßen überraschend, wie Außenminister Sergej Lawrow mittlerweile einräumte: „Dass sie die Reserven der Zentralbank einfrieren, konnte sich niemand vorstellen, der vorhergesagt hatte, welche Sanktionen der Westen beschließen würde. Es handelt sich schlichtweg um Diebstahl.“ Den „Diebstahl“ von 400 Milliarden Dollar? Von etwa 100 Milliarden durch Deutschland? Angesichts dieser nicht ganz irrelevanten Frage ist der Widerhall, den das Thema hierzulande in den Medien wie in Juristenkreisen findet, bemerkenswert schwach.Die EU beruft sich zur Rechtfertigung auf das Dritte Sanktionspaket, in das mit der Verordnung 334/2022 folgender Absatz eingefügt wurde: „Transaktionen im Zusammenhang mit der Verwaltung von Reserven sowie von Vermögenswerten der russischen Zentralbank, einschließlich Transaktionen mit juristischen Personen, Organisationen oder Einrichtungen, die im Namen oder auf Anweisung der russischen Zentralbank handeln, sind verboten.“ Das kann man problemlos als „Einfrieren“ bezeichnen, auch wenn der Begriff expressis verbis nicht auftaucht.Russisches Staatskapital für Wiederaufbau der UkraineRechtssystematisch ist festzuhalten: Die EU wirft Russland wegen seines militärischen Handelns Völkerrechtsbruch vor und legitimiert ihre Strafmaßnahmen mit dem Hinweis, diese fänden in einem völkerrechtlichen Niemandsland statt. Und wo kein Recht sei, gäbe es keine einschränkenden Regeln für den Gebrauch von Sanktionen. Zu dem Vorwurf, es handle sich beim Einfrieren der Staatsvermögen um Rechtsbruch, beruft sich die EU auf ihre nicht durch internationale Rechtsgrundsätze beschränkte Kompetenz, Dritten – auch Staaten – Vermögen zu entziehen. Was sie zur Klärung anbiete, sei der Klageweg durch die EU-Gerichtsinstanzen. Wegen des Zeitbedarfs und der Möglichkeit für die EU, ähnliche Maßnahmen mit leicht verändertem Wortlaut notfalls erneut in Kraft zu setzen, ist das nicht ernst zu nehmen.In den USA wird derzeit zum eingefrorenen russischen Staatskapital im Prinzip die gleiche Debatte geführt wie zuvor zum afghanischen. Diesmal geht es darum, ob man das viele Geld nicht nutzen könne, um es für den Wiederaufbau in der Ukraine einzusetzen. Die EU-Kommission bewegt die gleiche Frage. Vom deutschen Finanzminister Christian Lindner (FDP) ist zu hören, er sei dafür politisch offen. Die Betonung auf „politisch“ soll vermutlich besagen, „rechtlich“ äußere ich mich nicht. Wofür es einen triftigen Grund gibt. Die Bundesrepublik Deutschland hat wegen Klagen Griechenlands und Italiens, die Entschädigung für deutsche Kriegsverbrechen während des II. Weltkrieges verlangten, stets das Prinzip der Staatenimmunität hochgehalten. Da sind Präzedenzfälle unerwünscht, die das unterlaufen.Es ist daher kaum zu erwarten, dass Deutschland explizit russisches Staatsvermögen „konfisziert“, um dann aus eigener Macht über die Verwendung dieser Gelder zu entscheiden. Jedoch steht die Option im Raum, eine Art Marshall-Plan für die Ukraine aufzulegen, Forderungen zum Schadensersatz an Russland zu stellen und deren Begleichung als neues Sanktionsziel zu definieren. Dann wäre es denkbar, das blockierte russische Staatsgeld gegen entstehende Kosten aufzurechnen. Damit umgeht man Probleme mit der Staatenimmunität, erspart sich eine formelle „Enteignung“ – und erreicht genau das.