Zwischen zwei Fronten

Paris Wenn Frankreich weiter nach rechts driftet, haben die Attentäter ihr Ziel erreicht. Verteidigt das Land seine Freiheit auch nach innen? Im Dezember wird gewählt

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Gefährliche Rechtspopulistin: FN-Vorsitzende bei einer Rede, hier am 28. Oktober 2015
Gefährliche Rechtspopulistin: FN-Vorsitzende bei einer Rede, hier am 28. Oktober 2015

Foto: SEBASTIEN BOZON/AFP/Getty Images

Gegen uns wurde der Tyrannei blutiges Banner erhoben / Hört Ihr auf den Feldern die grausamen Krieger brüllen? / Sie kommen bis vor eure Arme /Eure Söhne, Eure Ehefrauen zu köpfen!
Zu den Waffen, Bürger! / Formiert eure Bataillone / Vorwärts, marschieren wir! / Damit unreines Blut / unserer Äcker Furchen tränke!
(Text der französischen Nationalhymne)

An den Schauplätzen der Attentate in Paris, in der Nationalversammlung und überall im Land singen in diesen Tagen Franzosen die Marseillaise, die Nationalhymne. Fahnen, Nationalhymnen, Luftangriffe in Syrien: Nach dem Blutbad in der Hauptstadt versuchen Politik und Bürger alles, um die eigene Identität zu verteidigen. „Ein Anschlag auf unsere Werte, auf unsere Zivilisation“, so nannte PräsidentFrançois Hollande die Attentate, und eröffnete seine Rede am Montag mit den Worten: „La France est en guerre“ – Frankreich befindet sich im Krieg.

Zwei Wochen vor dem Pariser Blutbad: In Umfragen zu den anstehenden Regionalwahlen ist die ultrarechte Partei Front National (FN) mit 28 Prozent die stärkste Kraft. Parteichefin Marine Le Pen tritt im Norden des Landes an, sie liegt in den Umfragen vorn: Die Sozialisten liegen bei 21 Prozent, die Konservativen bei 27, im Osten Frankreichs sind die Zahlen ähnlich. Am 6. und 13. Dezember soll gewählt werden. Jetzt, nach den Anschlägen ist der Wahlkampf offiziell ausgesetzt, der parteipolitische Streit soll aus Rücksicht auf die Opfer zurückgestellt werden.

Doch faktisch hat der Burgfriede nicht lange gehalten: Anders als nach dem Attentat auf Charlie Hebdo im Januar befindet sich Präsident Hollande schon 48 Stunden nach dem Attentat im Kreuzfeuer der Vorwürfe. Die konservative Partei von Expräsident Sarkozy verweigert dem Präsidenten die Gefolgschaft, die nationale Einheit der Parteien zugunsten der nationalen Beruhigung wird ausgeschlagen. "Premier Valls verbringt seine Zeit mit dem Kampf gegen den FN, statt gegen den radikalen Islamismus vorzugehen", sagte Front-National-Vize Florian Philippot am Sonntag: "Die Nationale Einheit hätte man vor dem Anschlag machen sollen, nicht hinterher, so wäre die Zahl der Särge kleiner geblieben." Die Rechte versucht, vom Attentat zu profitieren.

Nicolas Sarkozy fordert eine Kehrtwende der Außen- und Sicherheitspolitik. Der Front National will geschlossene Grenzen und einen Einwanderungsstopp. Und wie reagiert die Regierung auf die nationale Verunsicherung? Mit scheinbarer Entschlossenheit. Mit Kriegsrhetorik. Mit Ausnahmezustand. Mit Sicherheitsversprechungen, die sie schon nach dem Attentat auf Charlie Hebdo nicht halten konnte. Nils Minkmar schreibt im Spiegel: „Das Militär wird beschworen, Drohungen werden feste formuliert, aber wen sollen die beruhigen, wo doch das Schlimmste bereits eingetreten ist?“

Der innere Feind ist der Front National

Die Notfallstrategie Frankreichs lautet Selbstvergewisserung in Abgrenzung nach außen – ungeachtet dessen, dass die meisten Attentäter offenbar Franzosen waren und die Sprache akzentfrei beherrschten. Islamistische Terroranschläge, die auf Freiheitswerte zielen, lassen uns den Feind leicht lokalisieren: Draußen. Der Feind sitzt demnach zum Beispiel in Syrien, dort, wo die Drahtzieher des Attentats vermutet werden, aber auch in Libyen, Irak, Afghanistan. Der IS, der Feind dort draußen, hat es auf die Freiheitswerte Europas, hier speziell Frankreichs abgesehen? Die Lösung scheint einfach: Frankreich muss sich gegen diesen Feind im Ausland zusammenschließen. Luftangriffe fliegen. Aux armes, citoyens, formez vos bataillons – "Zu den Waffen Bürger, formiert eure Bataillone", heißt es im Refrain der Nationalhymne. Wie viele Zivilisten können eigentlich bei diesen Angriffen sterben? Hat der IS nicht genau das provozieren wollen? In der scheinbaren Entschlossenheit der französischen Regierung finden diese Fragen keinen Platz.

Der Philosoph Michael Schmidt-Salomon nennt die psychologischen Mechanismen dieses Moralreflexes, einen Krieg gegen das Böse „dort draußen“ auszurufen, „Ingroup- und Outgroup-Denken“: Die Annahme, es gebe so etwas wie das Böse bei den anderen, existiert durch die Annahme, es gebe gleichzeitig das Gute bei uns. Greift die Outgroup, also der IS, die Freiheitswerte einer europäischen Stadt an, greift er damit uns an, die Ingroup, und damit automatisch das Gute.

Die Hölle, das sind die Anderen

Dieses Denken ist überall, aber gerade in Frankreich brandgefährlich, denn es ist schlicht falsch. Frankreich ist – wie alle anderen europäischen Länder – alles andere als ein homogenes Land, das für Freiheitsrechte steht: Demonstrationen gegen die Akzeptanz von Homosexualität finden Tausende bis Millionen Anhänger, Migranten und Muslime werden marginalisiert, das soziale Gefälle ist hoch. Bei den Europawahlen 2014 war der rechte Front National erstmals stärkste Kraft, für die Nationalwahl 2022 wird Ähnliches erwartet.

Das Böse beim islamistischen Feind zu lokalisieren birgt dabei nicht nur die Gefahr, die eigene Freiheit als vollendet zu stilisieren; Es verschleiert auch den Blick auf die rechten Kräfte, die im Inneren Frankreichs, im Inneren der Ingroup, genau diese Freiheitswerte zerstören wollen anstatt sie auszubauen. Und nicht nur das: Der Front National profitiert ganz aktiv vom Denken, „das Böse“ komme aus der Fremde. Denn hat er nicht schon lange einen solchen Anschlag als Folge der Einwanderungspolitik prophezeit? Hätte seine Einwanderungspolitik den Anschlag nicht verhindert? Der Populismus hat in Zeiten der Angst seine große Stunde. Übrigens nicht nur in Frankreich: Die AfD ist Anfang dieser Woche laut Umfragen erstmals drittstärkste Partei in Deutschland.

Während sich die Europäer nun also nach außen gegen den Islamismus abgrenzen, kehren viele der Gefahr der Rechten den Rücken zu. Der Front National kann jetzt, wenige Wochen vor der Wahl, hinter den Franzosen stehen und ihnen ihre Propaganda ins Ohr flüstern, während sie in die Ferne nach Syrien schauen – und an die europäischen Außengrenzen. Dass einer der Attentäter womöglich getarnt als syrischer Flüchtling eingereist sein könnte, ist Wasser auf die Mühlen der Rechten: Sie haben seit Monaten Merkels Flüchtlingspolitik angeprangert, die auch die französische Regierung unterstützt hatte. Jetzt gibt die Rechte dieser Politik die Schuld am Attentat: Die Flüchtlinge untergraben nicht mehr nur kulturell die europäischen Freiheitswerte – die der FN immerhin am liebsten höchstpersönlich abschaffen würde – sondern einer hat jetzt auch noch Franzosen erschossen.

Solche Propaganda in Zeiten der Panik kann die Unpolitischen politisieren. Noch im Januar hat der französische Autor Michel Houellebecq gesagt, viele Franzosen seien „so politisch wie ein Handtuch“, und entwarf mit dieser These in seinem Buch Unterwerfung ein Szenario Frankreichs am Rande eines Bürgerkriegs zwischen Islamismus und Rechtsextremismus. Der Front National bietet scheinbar einfache, scharfe Lösungen, die Schutz versprechen vor den äußeren Angriffen auf die nationale und europäische Sicherheit, und die weiter gehen als die hilflosen Versprechungen der Regierung.

Doch die Rechte verfolgt ihre eigenen Interessen: Die Freiheit, die der IS bekämpft, ist auch ihr Feind. Die Rechte zeigt mit dem Finger nach draußen auf das Böse vor den Grenzen Europas, und während das Volk der Handbewegung noch mit den Augen folgt, frisst der Front National die Freiheit von innen langsam auf. Die Flucht in die National- und Kriegsrhetorik der Regierung hilft ihm dabei. Wenn die Franzosen diese Gefahr bei den Wahlen im Dezember ignorieren, sind die Attentäter ihrem Ziel einen großen Schritt nähergekommen.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Helke Ellersiek

Freie Journalistin. Leipzig, Köln, Berlin.Twitter: @helkonie

Helke Ellersiek

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