Westlicher Liberalismus in der Krise: Narzisstisch und selbstgerecht
Diskurs Der westliche bürgerliche Liberalismus scheint unfähig, sich selbst und die Welt aus den Augen der anderen zu betrachten. Damit offenbart er die eigene Schwäche – und schadet am meisten sich selbst
Stellen Sie sich vor, ein Individuum in einer Liebesbeziehung würde sich so verhalten, dass es zum Anderen sagt: Deine Perspektive interessiert mich nicht. Ich versuche nicht, sie nachzuvollziehen und mit meiner zu verschränken. Ich begegne dir auch auf der Sachebene nicht auf Augenhöhe – deine Argumente sind mir egal. Ich verzerre vor mir und unserem Umfeld deine Argumente, um dich schlecht aussehen zu lassen oder lächerlich zu machen. Ich anerkenne nicht einmal, dass die Konflikte zwischen dir und mir von uns beiden verursacht und Ergebnis einer Dynamik zwischen uns sind. Stattdessen sage ich mir und anderen, dass du alleine Schuld an unseren Zerwürfnissen bist, denn es hat etwas mit deinem Wesen zu tun, das böse ist; und ich schlussfolgere daraus, das
dass ich stets im Recht bin und du dich in das, was ich von dir verlange, fügen musst, ansonsten wirst du mich kennenlernen.Bei jedem Menschen, der von einer solchen Beziehungsdynamik Wind bekommt, schrillen sofort die Alarmglocken. Er oder sie würde dringlich raten: Halte dich von diesem Menschen fern. Der tut dir nicht gut. Er ist ein gefährlicher Narzisst, und er wird dir eines Tages Gewalt antun, wenn er nicht bekommt, was er will. Wenn sich jedoch hiesige Intellektuelle so verhalten, gilt das beschriebene Verhalten heute als völlig normal und akzeptiert. Die zunehmende, offenkundige Weigerung westlich liberaler Bürgerlicher, die Außenperspektive einzunehmen, indem sie sich so sehen, wie andere auf der Welt sie sehen und die Welt aus den Augen der anderen zu betrachten, frappiert. Und das gilt sowohl nach außen in den Beziehungen zwischen den Staaten und Bevölkerungen der Welt als auch nach innen gegenüber der eigenen Bevölkerung.Diplomatische Vernunft ist verdächtigMehr noch: Wer sich nicht so verhält und versucht, Perspektiven ins Gespräch zu bringen, nachzuvollziehen, zwischen Gegensätzen zu vermitteln und Konfliktursachen zu ermitteln, macht sich verdächtig. Analyse von Zusammenhängen und Wechselwirkungen, die Erklärung geschichtlichen Geworden-Seins, die Betonung von Interrelationalem und Dynamischem, das Abwägen, der Zweifel, das Wissen, dass jede Sache mit ihrem Gegenteil schwanger geht, das Wahrnehmen von Zwischentönen, die Ahnung von nicht intendierten Konsequenzen eigenen Handelns – das alles ist an sich schon suspekt. Wer in diese Richtung denkt, sieht sich alsbald mit dem vernichtenden Vorwurf des „Relativismus“ konfrontiert, erscheint als Bremser oder wird gleich als innerer Feind und „fünfte Kolonne“ fremder Mächte stigmatisiert.In den internationalen Beziehungen, auf dem internationalen Parkett wird diese Art von undiplomatischem Auftreten von westlich-liberalen Diplomaten mittlerweile sogar explizit eingefordert. In bestimmten, diskursiv dominanten Milieus gilt es als „werteorientiert“ und „prinzipienfest“, obwohl das Ausblenden von Realitäten und das Bemessen der Wirklichkeit an den eigenen abstrakten Maßstäben im Grunde von Extremismus zeugt. Zumal man jenen Maßstäben weder in der Vergangenheit noch in der Gegenwart jemals selbst gerecht geworden ist.In guter alter KolonialherrenmanierDies alles ist in einem Ausmaß vom Geiste der Aufklärung und den Ursprüngen des Liberalismus entfernt, dass es quietscht. Nur warum wundern sich die heutigen Liberalen dann, dass sich nach innen zwischen veröffentlichter Meinung und Massenmeinung so oft ein Graben auftut? Und warum wundern sie sich, dass sich der „Westen“ nach außen in einer, ob es einem gefällt oder nicht, in einer in Richtung Globalen Süden verrückenden Welt selbst isoliert, weil jenes selbstbezogene Auftreten dort nun einmal Empörung oder Verlachen hervorruft und zwangsläufig als die alte europäisch-westliche Kolonialherrenmentalität erscheint?Freilich müssen einem die Perspektiven der anderen nicht unbedingt gefallen. Aber im Mindesten sollte man sich in sie hineinversetzen können, schon allein aus dem einen Grund, sein eigenes Handeln darauf abstimmen zu können. Denken wir etwa an die Entwicklung der Spieltheorie als Ergebnis des Kalten Krieges, mit der man versuchte, das Handeln des Feindes zu antizipieren, um ihm immer einen Schritt voraus sein zu können. Sicherlich tun das Eliten in nicht öffentlichen Planungsstäben auch heute noch, und gelegentlich sickern entsprechend nüchterne machttaktische Überlegungen auch in die Öffentlichkeit. Der Trend geht jedoch woanders hin.Dennoch müsste aus der Perspektive der Machteliten großes Interesse daran bestehen, das empathische Hineinversetzen, die Perspektivenverschränkungen, das (Nach-)Denken auch in der Gesamtgesellschaft und unter seinen intellektuellen Eliten und deren medialer Öffentlichkeit zu fördern, um keinen Irrationalismus in der Bevölkerung zu befördern. Man müsste bemüht sein, Stimmungen national-kollektiver Selbstgerechtigkeit in der Gesellschaft im Zaum zu halten, um von ihnen später nicht in gefährlicher Weise getrieben zu werden.Denn es liegt ja auch auf der Hand, dass in gesellschaftlich und dadurch zwangsläufig auch politisch polarisierten Gesellschaften, die aus den Fugen geraten, in denen sich traditionelle Volksparteien auflösen, alte Parteiloyalitäten schwinden und Vereinzelung vorherrscht, bestimmte politische Kräfte existierende Irrationalitäten aus eigenen machttaktischen Erwägungen auch demagogisch einsetzen werden. Dies führt aber nicht bloß zum Schaden der liberalen Demokratie und der bürgerlichen Öffentlichkeit. Irrationalismus macht die bürgerlich-liberale Demokratie eben auch dysfunktional und „unregierbar“ im Sinne der ökonomisch und politisch Herrschenden, denn es behindert effizientes Regieren und die optimale Durchsetzung eigener Interessen nach innen und nach außen.Der Liberalismus ist in ErklärungsnotWie aber kommt es zu dieser großen Diskrepanz zwischen den Ursprüngen liberaler Aufklärungsphilosophie und dem realexistierenden Liberalismus heute? Wie erklärt er sich? Vielleicht ist es der Ausdruck eines Liberalismus, der ahnt, dass er auf argumentativer Ebene in Erklärungsnöte geraten würde. Vielleicht spiegelt sich im Zerfall der liberalen Aufklärungsöffentlichkeit das bürgerliche Bewusstsein, offensichtlich nicht mehr hegemonial zu sein, nicht mehr auf Zustimmung zählen zu können, weshalb nach innen Zwang, Gesinnungsprüfung und Antiintellektualismus an die Stelle von bürgerlichem Selbstbewusstsein, breiter Öffentlichkeit, lebendiger Debattenkultur und dem Glauben an das bessere Argument treten.Das wäre dann tatsächlich eine Art Kollektivnarzissmus, weil ja auch der Narzissmus, also die übersteigerte Selbstliebe, eben das Ergebnis eines Minderwertigkeitsgefühls und nagender Selbstzweifel ist. Wer sich selbst zu sehr liebt und lobt, sich ständig versichert, anderen kulturell, moralisch usw. überlegen zu sein, tut es eben, weil er innerlich den Verlust eigener Größe, Bedeutung und natürlicher Autorität spürt, aber diese Einsicht nicht zulassen kann, weshalb die Zelebrierung des Ichs als Korsett des Ichs notwendig geworden ist. In diesem Sinne ist die autosuggestive Unfehlbarkeit des westlichen Liberalismus nach außen womöglich sogar selbst ein nach innen gerichtetes, nationalistisches Herrschaftsmittel: Sie ermöglicht der Bevölkerung die Genugtuung, hat der marxistische Philosoph Michael Brie in Bezug auf den herrschenden Antichinadiskurs vermutet.Wenn man schon nicht mehr Weltmeister in Wirtschaftskraft, Technologieentwicklung, gesellschaftlich-politischer Stabilität, dem Management von Gesellschaftskrisen, bei Sportwertbewerben und in der Kultur ist, kann man sich wenigstens noch im Gefühl sonnen, dem Rest der Welt moralisch überlegen zu sein. Und derweil nonchalant ignorieren, dass man die eigenen Gesellschaften in Gewinner und Verlierer, Dazugehörige und Ausgeschlossene spaltet, deren CO₂-Fußabdruck immer tiefer in den Boden stampft, selbst völkerrechtswidrige Kriege führt oder Zehntausende Menschen im Mittelmeer ertrinken lässt, Flüchtlingsboote abdrängt und die nordafrikanischen Staaten finanziert, damit sie Menschen in der Wüste Verdursten und Verhungern aussetzt bevor sie überhaupt das Mittelmeer und damit das westliche Blickfeld erreichen können.Krise der bürgerlich-kapitalistischen GesellschaftSicherlich schadet dieser Liberalismus sich und den Interessen, auf denen er fußt, letztlich massiv. Aber vielleicht ist eben die Krise des Denkens auch bloß ein weiterer Ausdruck der tiefen Krise der bürgerlich-kapitalistischen Gesellschaft heute. Vielleicht kommt zur Krise der kapitalistischen Akkumulation, der Geschlechterverhältnisse, des sozialen Zusammenhalts, der Demokratie, der Weltordnung und der ökologischen Nachhaltigkeit und des Klimas heute noch eine Krise des Denkens hinzu. Oder diese Krise des Denkens ist eben der Ausdruck des Versuchs, ein moralisch unhaltbares und sich selbst zerstörendes System in seiner Krise noch ideologisch zu rechtfertigen und bestehende Machtverhältnisse aufrechtzuerhalten.Es war in diese Richtung, dass der marxistische Philosoph Georg Lukács in seinem 1954 veröffentlichten Werk Die Zerstörung der Vernunft versuchte, das Wachstum von irrationalistischen Philosophien auf dem Weg in den deutschen Faschismus zu erklären. So wie der Liberalismus ja historisch immer mit dem Irrationalismus schwanger ging, weil er von dem grundsätzlichen Widerspruch gekennzeichnet war, aus Gründen der Rechtfertigung von Klassenherrschaft, Patriarchat und Kolonialherrschaft den universalistischen Anspruch von Freiheit und Gleichheit einschränken und dem Großteil der Menschheit als „kindlicher Masse“ den bürgerlichen Subjektstatus, die Vernunftbegabtheit und damit die bürgerlich-liberalen Rechte abzusprechen zu müssen: nach innen der eigentumslosen Lohnarbeiterklasse, allen Frauen und den Illegitimen – zum Beispiel Kriminellen, denen heute in den USA noch das Wahlrecht entzogen wird – und nach außen, rassistisch begründet, der gesamten Kolonialbevölkerung, die mit allen genozidalen und kolonialkriegerischen Konsequenzen völkerrechtlich Inland, aber staatspolitisch Ausland blieb. Der italienische Philosoph Domenico Losurdo nannte dies die Demokratie der „Herrenrasse“.In jedem Fall gehört wohl zum Versuch, sich einen realistischen Begriff von der Gegenwart in all ihren Dimensionen und von der Gesellschaft in ihrer Totalität zu machen, dazu, auch über eine Krise des liberalen Denkens nachzudenken. Sie wäre systematisch zu kartografieren.
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