NATO-Osterweiterung 1999: Der Konflikt mit Russland ist gewollt

Zeitgeschichte 1999: Michail Gorbatschows Idee vom „Gemeinsamen Europäischen Haus“ hat ausgedient. Die westliche Allianz verschafft sich durch die Aufnahme ehemaliger Ostblock-Staaten neue Sinnstiftung und nimmt den Konflikt mit Russland in Kauf
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Prag, 12. März 1999: Tschechische Soldaten hissen die NATO-Flagge
Prag, 12. März 1999: Tschechische Soldaten hissen die NATO-Flagge

Foto: ctk Zelezny/dpa

Es war der Herbst 1996, als Bill Clinton seine Osteuropa-Politik akzentuierte, was bis heute für unterschiedliche Bewertungen sorgt. Der damalige demokratische US-Präsident erklärte bei einer Rede kurz vor seiner Wiederwahl am 5. November 1996, dass „die erste Gruppe von Ländern, die wir zum Beitritt einladen, in drei Jahren zu vollständigen Mitgliedern werden soll, und zwar anlässlich des 50-jährigen Bestehens der NATO“. Diese Erweiterung sei gegen niemanden gerichtet. Sie solle die Sicherheit „für alle erhöhen – für alte und neue Mitglieder der NATO –, auch für die Nicht-Mitglieder“. Er wisse, dass „einige in Russland immer noch durch das Prisma des Kalten Krieges auf die NATO“ blicken und die Erweiterung negativ bewerten würden, doch werde sie Sicherheit und Stabilität bringen und „Russland zu den Nutznießern gehören“. Moskau erhalte die Chance, dabei zu helfen, „ein friedliches und ungeteiltes Europa zu errichten“.

Ein ungeteiltes Europa mithilfe neuer Teilung? Anfang Juli 1997 beim NATO-Gipfel in Madrid wurden Polen, die Tschechische Republik und Ungarn offiziell zu Beitrittsgesprächen geladen. In Ungarn sprachen sich bei einem Ende 1997 abgehaltenen Referendum 85 Prozent für eine solche Mitgliedschaft aus. In den beiden anderen Ländern gab es keine Plebiszite, doch verwiesen allein in Polen die Umfragen auf eine Akzeptanz von 70 bis 80 Prozent. Mitte März 1999 war es so weit: Die drei ehemaligen Mitglieder des Warschauer Paktes wurden in Kansas City (USA) feierlich aufgenommen. Wenig später, am 24. März 1999, begann der NATO-Luftkrieg gegen die Bundesrepublik Jugoslawien (Serbien/Montenegro). Zugleich wurde mit den Feiern zum 50-jährigen Bestehen der Allianz ein neues Strategiekonzept fällig, das der Devise folgte: „Going out of area or going out of business“. Aufgebracht hatte das 1993 der republikanische US-Senator Richard Lugar, bevor diese Agenda 1999 mit dem NATO-Jubiläumsgipfel in Washington offiziell abgesegnet war. Der Pakt verschrieb sich einem globalen Aktionsradius, Russlands Widerspruch blieb wirkungslos.

Die Vorgeschichte der Osterweiterung hatte im September 1990 begonnen. Als Konsequenz des Zwei-plus-vier-Vertrags mit den beiden deutschen Staaten und den drei Westalliierten USA, Frankreich und Großbritannien begann die Sowjetunion, ihre Truppen vom Territorium einstiger Verbündeter zurückzuziehen. Zudem billigte sie eine NATO-Mitgliedschaft für das in Kürze vereinigte Deutschland, sofern dies nicht zu einer NATO-Militärpräsenz in Ostdeutschland führe.

Die Konzessionen, zu denen sich Präsident Michail Gorbatschow bereitfand, gingen weit, urteilte der Hamburger Friedensforscher Reinhard Mutz. Die Sowjetunion räume nicht nur einen ihrer Westgrenze vorgelagerten Verteidigungsriegel, sondern ebenso die westlichen Militärbezirke, vormals Stationierungsgebiet der „zweiten Angriffsstaffel“. Und sie stimme zu, 40 Prozent der schweren konventionellen Waffen zu verschrotten – oder aus dem europäischen Landesteil hinter den Ural zu verlegen. Angesichts dieses Rückzugs, so Mutz, habe wenig dafür gesprochen, bezogen auf die UdSSR oder – nach deren Auflösung Ende 1991 – auf Russland, das Bild „der feindlichen Supermacht künstlich zu konservieren“. Zumal der Warschauer Pakt am 31. März 1991 die Endlichkeit seines Daseins besiegelte und sich auflöste.

In einigen osteuropäischen Ländern herrschte anfangs keine Hurra-Stimmung ob einer NATO-Mitgliedschaft. In Prag stieß Präsident Václav Havel die USA vor den Kopf, als er die Auflösung der beiden Militärbündnisse und einen Abzug aller ausländischen Truppen aus Zentraleuropa ins Gespräch brachte. Auch der letzte DDR-Ministerpräsident Lothar de Maizière sah Vorteile für ein neutrales Deutschland. Krzysztof Skubiszewski, Außenminister der Ende 1989 gebildeten ersten nichtkommunistischen Regierung in Warschau, verneinte zunächst, dass Polen in die NATO strebe. Dann jedoch, im September 1991 – nachdem es in Moskau einen Putschversuch der alten Nomenklatura gegeben hatte –, äußerte der polnische Premier Jan Bielecki, der Schirm der NATO solle erweitert werden, sodass auch Mittel- und Osteuropäer darunter Platz fänden.

Michail Gorbatschow wollte alles andere, als der NATO eine Führungsrolle in Europa einzuräumen. Er strebte mit seinem „gemeinsamen europäischen Haus“ Ähnliches an wie Frankreichs damaliger Präsident François Mitterrand, der von einer europäischen Konföderation sprach, die „alle Staaten unseres Kontinents“ in „konzentrischen Kreisen umfassen“ werde, „um die Sowjetunion nicht zu isolieren“. Doch eine solche Politik – sie hätte durch die Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) wirksam gestützt werden können – war nicht im Sinne der USA, die seit jeher eine Nähe zwischen der Sowjetunion und der Bundesrepublik Deutschland fürchteten – und bekämpften. Dennoch herrschte auch in Washington zu Beginn der 1990er Jahre kein Konsens über eine nach Osteuropa expandierende NATO. Deren Gegner, die im Grunde Realisten gewesen seien, „vertraten die Ansicht, dass eine Osterweiterung Russland zum Feind machen und dies irgendwann zu einem ernsthaften Konflikt führen werde“, so der US-Politologe John Mearsheimer. Letztlich habe sich die Perspektive „einer einflussreichen Gruppe außenpolitischer Liberaler“ überparteilich durchgesetzt.

In Polen, Tschechien und Ungarn waren nach 1989/90 die neuen, teilweise alten politischen Eliten schnell auf Westkurs. Dies gründete auch auf Assoziationen, wie sie nach dem Kollaps der UdSSR mit Russland als Großmacht im Osten ausgelöst worden waren. Für die Tschechen wirkte das Erbe des gewaltsam beendeten Prager Frühlings von 1968 nach. In Polen war die Abneigung durch weiter zurückliegende Ereignisse begründet: die Teilung Polens in der Zeit des Zarenreiches bis 1918 etwa oder den polnisch-sowjetischen Krieg von 1920. Auf den Hitler-Stalin-Pakt von 1939 folgte die Annexion Ostpolens durch die Sowjetunion. Auch dass in Polen 1981 die Solidarność-Bewegung durch einen Ausnahmezustand niedergehalten wurde, verband die Erinnerung mit Druck aus Moskau. Es konnte daher kaum verwundern, dass nach 1991 in Warschau, Prag und Budapest einer erkennbar defizitären Demokratisierung Russlands unter dem Präsidenten Boris Jelzin misstraut wurde. In Polen erklärten die bei den Parlamentswahlen von 1993 siegreichen Postkommunisten, dass ein NATO-Beitritt angestrebt werde. Ein Jahr später bestätigte der erste Tschetschenienkrieg Befürchtungen, wonach Russlands Machtverständnis Gewalt nicht scheue.

Eine Fußnote

Die Jelzin-Regierung verwahrte sich klar dagegen, dass die NATO durch eine Osterweiterung nach neuer Sinnstiftung strebe, nur fehlte es international an Einfluss, um sich Gehör zu verschaffen. Die von den USA 1994 initiierte „Partnerschaft für den Frieden“, die neben osteuropäischen Beitrittsaspiranten Russland einbezog, blieb eine Fußnote. Als relevanter erwies sich die 1997 vereinbarte NATO-Russland-Grundakte, mit der vertraglich festgelegt war, dass es bei etwaigen Erweiterungsrunden strikte Begrenzungen ob der dauerhaften Stationierungen von Truppen oder Kernwaffen geben sollte. Um daraus erwachsende Konflikte zu moderieren, wurde Ende Mai 1997 der NATO-Russland-Rat gegründet, änderte aber nichts am gegenseitigen Misstrauen, vor allem wegen des strategischen Konzepts der NATO, das 1999 die erste Erweiterungsrunde flankierte. Demnach sollte das Bündnis global schlagkräftiger und flexibler werden. Auch wenn man davon ausgehe, dass ein Angriff gegen ein Mitgliedsland unwahrscheinlich sei, bestehe doch die Möglichkeit, dass sich „eine Bedrohung längerfristig entwickelt“, hieß es. Die Sicherheit der Allianz bleibe „einem breiten Spektrum militärischer und nichtmilitärischer Risiken unterworfen“, wie der Entstehung regionaler Krisen an ihrer Peripherie, die sich rasch entwickeln könnten.

Eine sich selbst erfüllende Prophezeiung, erinnert man das Diktum der Clinton-Regierung von 1999, die drei NATO-Novizen Polen, Tschechien und Ungarn seien nur „die erste Gruppe“, und hält man sich vor Augen, was am 24. Februar 2022 geschah.

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