Polens Premier Donald Tusk lässt im EU-Ranking die Muskeln spielen
Aufstieg Ein gesteigertes Selbstwertgefühl resultiert aus dem Part, der Polen als Frontstaat im Ukraine-Krieg zufällt. Die EU wird sich wohl oder übel damit arrangieren müssen, dass Warschau seinen Interessen mehr Geltung verschafft
Donald Tusk hat fest im Blick, was der rechtskonservativen Vorgänger-Regierung verwehrt war: In der EU eine Rolle zu spielen
Foto: Omar Marques/aa/dpa
Es waren nur Worte, doch noch in seiner ersten Amtszeit von 2007 bis 2014 hätte es Polens derzeitiger Regierungschef Donald Tusk kaum gewagt, dem wichtigsten Verbündeten deutlich und öffentlichkeitswirksam ins Gewissen zu reden. Als im US-Senat am 7. Februar wegen des Vetos der Republikaner ein Gesetzespaket für die militärische Unterstützung der Ukraine im Wert von 60 Milliarden Dollar zu Fall kam, kommentierte Tusk auf der Plattform „X“: „Ronald Reagan, der uns geholfen hat, unsere Freiheit und Unabhängigkeit wiederzuerlangen, muss sich heute im Grab umdrehen. Schämt euch!“ Und beim Besuch des kanadischen Premiers Justin Trudeau zu Wochenbeginn in Warschau monierte Tusk, die der Ukraine zugesicherten Waffen würden zu la
langsam geliefert. Da er Regeln der Gastfreundschaft nicht verletzen wollte, deutete er jedoch nur an, was aus seiner Sicht gesagt sein sollte.Ein gesteigertes Selbstwertgefühl, aus dem heraus andere auch einmal gemaßregelt werden, resultiert aus der Rolle, die Polen als Frontstaat im Ukraine-Krieg zufällt. Als direkter Nachbar hat das Land seit Februar 2022 mehr als jeder andere EU-Staat ukrainische Flüchtlinge aufgenommen, von denen noch knapp eine Million im Land leben. Die Vorgängerregierung der Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) sprach sich frühzeitig und vehement für massive Waffenhilfen aus, als die deutsche Regierung noch zögerte. Unterstützung im Wert von 4,3 Milliarden Euro ging bislang an Kiew, gemessen am Bruttoinlandsprodukt (BIP) das Doppelte von dem, was die USA und Kanadas aufbrachten, auch mehr als der deutsche Beitrag.Die PiS hat zudem energisch aufgerüstet, woran Tusk im Kern festhält. Die Verteidigungsausgaben, finanziert aus dem Staatshaushalt und einem Sonderfonds, liegen in diesem Jahr (wie noch von der PiS geplant) bei 4,2 Prozent des BIP. Im NATO-Ranking beschert das Polen Platz eins bei den Militärausgaben. Tusk hängt sich gerade weit aus dem Fenster, wenn er mit Blick auf die Finanzen der NATO verlangt, dass die Militärhilfe für die Ukraine auch aus dem im Westen eingefrorenen russischen Staatsvermögen bestritten werden sollte. Keine Frage, der Ukraine-Krieg hat Polen im westlichen Staatengefüge aufgewertet, weil sich der politische Schwerpunkt der EU nach Osten verschoben hat und Brüssel auf Polen angewiesen ist. Tusk ist zuzutrauen, dass er diese Position festigt und ausbaut.Ersehntes HoffnungszeichenGegenwärtig steigen die Umfragewerte seiner Partei Bürgerkoalition (KO), verglichen mit der nunmehr oppositionellen PiS. Nicht auszuschließen, dass der Trend bis zu den Kommunalwahlen im April und den Europawahlen im Juni anhält. Vor einer Woche konnte Tusk ein zentrales Wahlversprechen als faktisch erfüllt verkünden: Polen kann auf EU-Mittel von bis zu 137 Milliarden Euro rechnen. Die Gelder aus dem Corona-Wiederaufbaufonds „Next Generation“ sowie dem EU-Kohäsionsfonds blieben für PiS-Regierungen wegen der Reformen im Justizwesen lange blockiert. Dass die Freigabe so schnell erfolgte, obwohl die von der EU-Zentrale geforderte Rücknahme der PiS-Dekrete noch nicht gesetzlich geregelt ist, geht auf das Bestreben in Brüssel, Berlin und Paris zurück, den Wahlerfolg des Mitte-links-Lagers in Warschau maximal zu nutzen.Angesichts der EU-weit vernehmbarer werdenden rechtspopulistischen und nationalistischen Kräfte wirkt Tusk wie das ersehnte Hoffnungszeichen. Mit dem Warschau so zuerkannten Prestige lässt sich wuchern. Besonders Frankreich und Deutschland ist daran gelegen, die neue Regierung zu hofieren, was allerdings nur gelingen wird, werden polnische Interessen stärker respektiert. Etwa in der Logistikbranche, die unter ukrainischer Konkurrenz stöhnt. Oder im Agrarhandel, bei dem polnische Landwirte wegen des Wettbewerbers Ukraine noch mehr stöhnen und seit Monaten billiges, zollfreies Getreide von dort blockieren, teilweise vernichten. In Brüssel wird man sich entscheiden müssen, an Ursula von der Leyens „Green Deal“ mit all seinen Auflagen festzuhalten oder auf die polnische Landwirtschaft zuzugehen.Ob dabei die Wiederbelebung des „Weimarer Dreiecks“ zwischen Deutschland, Frankreich und Polen Warschau zum Vorteil gereicht, muss sich erst noch zeigen und wird in Polen genau registriert. Tusk steht quasi „unter Beobachtung“. Nicht nur des PiS-Lagers, das immer noch etwa 30 Prozent der wahlberechtigten Bevölkerung ausmacht, sondern auch vieler anderer. Die PiS hat nicht ohne Wirkung das Narrativ in die Welt gesetzt, Tusk handele im Interesse Berlins und Brüssels, erst dann denke er an das eigene Land. Der Posten des EU-Ratspräsidenten von 2014 bis 2019 sei ein Geschenk dafür gewesen, dass er sich bereitgefunden habe, „ein „deutscher Agent zu sein“, wie es einst PiS-Chef Jarosław Kaczyński formulierte.In nächster Zeit dürfte die PiS versuchen, besonders ein Thema als Beweis dafür zu ziehen, dass sich Tusk nicht geändert hat. Gemeint ist das noch von ihr angestoßene Großprojekt Centralny Port Komunikacyjny (CPK) – der Bau eines Großflughafens samt Bahn- und Straßen-Knotenpunkt in der Nähe von Warschau. Ein solcher Airport soll in der Anfangszeit 30 bis 40 Millionen Passagiere im Jahr abfertigen und könnte dem Berliner Flughafen BER Konkurrenz machen. Wichtiger als das sind freilich die begleitenden Investitionen, hauptsächlich der Bau von fast 2.000 Kilometern an neuen Hochgeschwindigkeitsstrecken der Bahn, um den CPK mit den großen und mittelgroßen Städten Polens zu verbinden. Allein bis 2030 soll das Gesamtprojekt um die 35 Milliarden Euro kosten. Wie jüngste Umfragen zeigen, haben sich gut 60 Prozent der Bevölkerung dafür ausgesprochen. „Die Polinnen und Polen haben mental die ‚Falle des mittleren Einkommens‘ verlassen. Sie erwarten mehr als nur weitere Zuschüsse zu ihren Einkommen, zu Krediten oder zur Rente, für die sie am Ende sowieso selbst zahlen“, schreibt Tomasz Wróblewski vom Wirtschafts-Thinktank Warsaw Enterprise Institute.Tusk sieht das Vorhaben CPK bisher skeptisch: „Alle Gutachten, die wir gesehen haben, stellen sowohl die Ausgangsberechnungen als auch die endgültigen Zahlen für diese Investition infrage“, meinte er Mitte Februar. Das Problem ist nur: Solche Expertisen mit Negativbewertung gibt es offenbar nicht. Zwar laufen von der Regierung eingeleitete Prüfverfahren, deren Ausgang ist jedoch offen. Die finale Entscheidung soll Mitte des Jahres fallen, doch werden deshalb laufende Arbeiten am CPK nicht etwa storniert.Tatsächlich würde das Projekt städtische Zentren vernetzen, aus denen einmal Hightech-Standorte werden könnten, in denen polnische Start-ups florieren und internationale Konzerne investieren. Breslau, Krakau, Posen sowie Warschau und Umgebung wollen bei Industrieansiedlungen keine verlängerten Werkbänke westlicher, vor allem deutscher Unternehmen mehr sein. Im Vorjahr hat der US-Chiphersteller Intel eine etwa fünf Milliarden Euro teure Investition für ein Halbleiter-Integrations- und Testzentrum in Breslau angekündigt, das mit 1,5 Milliarden Euro an staatlichen Zuschüssen gestützt wird. Für ein solches Vorhaben ist das die höchste Einzelförderung, die es je gab. Sofern das Ziel der EU Früchte trägt, Lieferketten mehr unter eigene Verantwortung zu stellen, könnte Polen schon mittelfristig zu den Gewinnern zählen. Die Lohnkosten sind – auch wenn sie steigen – immer noch geringer als in westeuropäischen Staaten Zugleich wächst die Zahl von Hochqualifizierten, der Anteil von Hochschulabsolventen unter den 30- bis 34-Jährigen ist inzwischen höher als in Deutschland.Gepaart mit einer gegenüber Berlin durchsetzungsfähigen Politik dürfte Warschau in der EU an Einfluss gewinnen. Auf Reparationen für von Deutschland im Zweiten Weltkrieg angerichtete Schäden, die von der PiS immer wieder gefordert wurden, hat Tusk bereits verzichtet. An der in Berlin verteufelten, zivil genutzten Kernenergie, die in gut zehn Jahren an der Weichsel Realität werden soll, hält er fest. Ebenso am Ausbau der Kais von Swinemünde zum Tiefseehafen, um Hamburg Paroli zu bieten. Also kein „deutscher Agent“? Polen sitzt noch längst nicht im europäischen Oberhaus. Seine Politiker aber reden bereits so, als wären sie dort angekommen.Placeholder infobox-1
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