Es hat schon eine gewisse Symbolik, dass Polens Agrarminister Henryk Kowalczyk just am Tag des Besuchs des ukrainischen Staatschefs Wolodymyr Selenskyj in Warschau von seinem Amt zurückgetreten ist. Der Ukraine-Krieg hat zuletzt hunderttausende Landwirte an der Weichsel in die Bredouille gebracht. Der Grund: ukrainische Getreideexporte werden seit Monaten verstärkt über Polen und andere osteuropäische Länder wie Bulgarien abgewickelt.
Polens Bauernverbände kritisieren, das Getreide komme größtenteils nicht in den eigentlichen Zielländern an, sondern werde verstärkt in Polen verkauft. Dadurch fallen die Preise, Polens Landwirte sitzen auf vollen Speichern und protestierten seit 20 Tagen landesweit. Unter Druck gesetzt und von steigenden Umfra
nden Umfragewerten des nationalistisch-libertären und Ukraine-kritischen Parteienbündnisses „Konfederacja“ aufgeschreckt, forderte Polens Regierung unlängst von der EU „den Einsatz aller ordnungspolitischen Instrumente wie Quoten und Zölle, mit denen sich die Einfuhr ukrainischen Getreides nach Polen begrenzen oder blockieren“ lasse, so Premierminister Mateusz Morawiecki vergangene Woche.Es sind ganz neue Töne aus Warschau. Bislang galt für die Regierung eine nahezu bedingungslose Unterstützung zugunsten der Ukraine. Auf Belange der eigenen Bevölkerung wurde relativ wenig Rücksicht genommen. Auch übermäßig Gegen- oder Kompensationsleistungen der EU waren nicht im Gespräch. Diese scheinbare Bedingungslosigkeit stand in Polen zuletzt immer mehr in der Kritik – der Besuch Selenskyjs wirkt demgegenüber wie ein Füllhorn an Deklarationen und Verträgen.Part beim WiederaufbauKiew orderte unter anderem 150 polnische Rosomak-Panzerfahrzeuge, unterzeichnete Verträge über die Zusammenarbeit der Rüstungsindustrien beider Länder und zur Kooperation mit Polen beim geplanten Wiederaufbau der Ukraine. Mit seltener Deutlichkeit sagte Morawiecki: „Polen hat als erstes gewarnt, und Polen hat als erstes die Ukraine unterstützt, nun erwarten wir eine Beteiligung am Wiederaufbau.“ Selenskyj zeigte sich offen, sagte aber eher mehrdeutig: „Wir wünschen uns, dass die polnische Wirtschaft eine der führenden auf unserem Markt wird – unter anderen. Wer eher da sein wird, wird mehr verdienen.“Gleichwohl weiß Selenskyj, warum er nach Polen reiste. Ihm ist bewusst: Polen ist eine treibende Kraft westlichen Beistandes im Kampf gegen Russland. „Wir werden nicht müde, den Polen zu danken“, so der Präsident. Er dankte besonders Städten und ländlichen Kommunen für die Aufnahme von Millionen von Flüchtlingen.Im ersten Kriegsjahr hat Polen militärische, finanzielle und humanitäre Leistungen an die Ukraine im Umfang von 0,9 Prozent seines Bruttoinlandsprodukts (BIP) erbracht. In Deutschland beträgt der Anteil mit 0,41 Prozent knapp die Hälfte. Das Land setzt sich für einen massiv ausgeweiteten westlichen Waffentransfer ein – und liefert selbst nach Kräften. Bei der Weitergabe von Leopard-Panzern an die Ukraine hat sich Warschau als Antreiber gezeigt. Zuletzt wurden gemeinsam mit der Slowakei, MiG-29-Kampfjets aus eigenem Bestand an die Ukraine geschickt.Aus Sicht Selenskyjs und seiner Armeeführung freilich dürften weniger die MiGs als solche freuen; das Luftwaffenkommando Kiews bezeichnete diese bereits als „veraltet“. Sie seien russischen Maschinen unterlegen. Man brauche F-16-Flugzeuge, die MiGs seien hoffentlich nur „ein erster Schritt dazu“, so der Sprecher der Luftwaffe Jurij Ihnat. Tatsächlich könnte der Warschauer Vorstoß – laut der US-Regierung eine „souveräne Entscheidung“ Polens – auf mittlere Sicht ein weiterer polnischer Türöffner sein. Denn nun wurden erstmals Kampfflugzeuge aus NATO-Beständen an die Ukraine geliefert – mit einem solchen Anliegen war Polen vor einem Jahr noch gescheitert.Polnische MinenräumerPolens Führung gefällt sich in der Rolle des mutigen Pioniers. Doch worin die einen eine Vorreiterrolle sehen, ist das für andere ein Spiel mit dem Feuer. Es gibt noch weitere umstrittene Vorstöße, die Polens Lage verschärfen könnten. So gab die Regierung im Februar bekannt, dass ein geheim in die Ukraine entsandtes „humanitäres Kollektiv“ nun zurückgekehrt sei. 98 polnische Polizisten waren als „Freiwillige“ auf Wunsch Kiews in die Ukraine gefahren, um bei der Minenräumung zu helfen. Kritiker fragen, ob es eine rechtliche Basis für diesen Einsatz gegeben habe, und was es bedeutet hätte, wenn diese Personen in russische Gefangenschaft geraten wären.Außer Polen sendet kein Land des ATLAS-Verbundes, der Polizeieinheiten europäischer Länder vereinigt, Spezialisten in die Ukraine – zu groß die Angst vor den Folgen. Offenbar nicht in Warschau. „Auf diese Weise wird Polen sukzessive nicht zu einem Beispiel des Mutes, sondern zu einem der Gedankenlosigkeit und des leichtsinnigen Umgangs mit der eigenen Sicherheit“, kommentiert der konservative Publizist Lukasz Warzecha. Gemessen an den Interessen der polnischen Bürger, ist es angesichts derartiger Risiken gewiss von einiger Bedeutung, dass im Herbst Parlamentswahlen anstehen. Wäre die polnische Regierung im Stillen froh darüber, wenn Russland einen größeren Cyberangriff oder Ähnliches in Polen verüben würde und eine verängstigte Bevölkerung sich um die aktuell Regierenden scharen könnte?Bei der Lösung konkreter Probleme ihrer Landsleute muss Polens Führung vorerst passen: Die Getreide-Frage bleibt ungelöst. Denn es liegt an der EU, ob erneut Zölle eingeführt werden, die seit Kriegsbeginn ausgesetzt blieben. Warschau kann nur einen Entschädigungsfonds einrichten – bis auf Weiteres aus eigenen Mitteln.