Ukraine-Krieg: Der sichere Abstand macht den Westen verantwortungslos
Selbstbetrug Ein ausufernder bellizistischer Zeitgeist erklärt es zur „Katastrophe“, wenn über das „Einfrieren“ dieses Krieges laut nachgedacht wird. Es gilt die Devise vom Sieg um „fast jeden Preis“, wenn ihn nur die Ukrainerinnen und Ukrainer zahlen
Am 14. März begegnete Rolf Mützenich als SPD-Fraktionsvorsitzender im Bundestag dem ausufernden bellizistischen Zeitgeist mit einem Fragezeichen: „Ist es nicht an der Zeit, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber nachdenken, wie man einen Krieg einfrieren und später beenden kann?“ Später erläuterte er, Einfrieren bedeute, in einer besonderen Situation zeitlich befristete lokale Waffenruhen und humanitäre Feuerpausen zu ermöglichen, „die überführt werden können in eine beständige Abwesenheit militärischer Gewalt“.
Ähnlich sah es auch Papst Franziskus, der für ein Interview um die gleiche Zeit wegen seines Plädoyers für das Hissen der
lich sah es auch Papst Franziskus, der für ein Interview um die gleiche Zeit wegen seines Plädoyers für das Hissen der „weißen Flagge“ heftig kritisiert wurde. „Wenn man sieht, dass man besiegt wird, dass die Dinge nicht gut laufen, muss man den Mut haben zu verhandeln“, so sein Fazit. Der Pontifex – das darf man ihm wohl abnehmen – hatte hauptsächlich die Kriegstoten in der Ukraine und Russland von gestern und heute im Blick. Dazu jene, mit denen noch und womöglich immer mehr zu rechnen ist. Dies verhindern zu wollen, den Schutz der Menschen an erste Stelle zu setzen – dies erfordert derzeit ziemlich viel Mut.Allerdings siedeln der Papst, Mützenich und ähnlich Denkende fern des herrschenden Zeitgeistes. Wer den wie unter einem Brennglas studieren will, lese in Ruhe den Beitrag Wie ‚Friedenspolitik‘ den Weg in die Katastrophe bahnt von René Pfister, Leiter des Spiegel-Büros in Washington. Es handelt sich um ein Paradebeispiel für Stimmungsaufwallungen, bei denen es inzwischen normal ist, wenn sich Politiker wie die FDP-Verteidigungsexpertin Marie-Agnes Strack-Zimmermann angesichts ihrer Waffenliefer-Rhetorik auf Wahlplakaten ungeniert als „Oma Courage“ feiern lassen.Der Vorwurf der Appeasement-PolitikEs gilt eben als normal, um (fast) jeden Preis den ukrainischen Sieg als das allein legitime Ziel zu propagieren, ohne zu erläutern, wie der konkret aussehen und was darauf folgen soll. Es ist ebenso normal, wenn Vergleiche Wladimir Putins mit Adolf Hitler die Analyse ersetzen und darauf bauen, durch permanente Wiederholung auf einen Anschein von Wahrheit bedacht zu sein. In die Putin-Hitler-Kerbe schlägt auch Pfister. Er beschreibt Mützenichs Haltung zum Ukrainekrieg als Analogie zur Appeasement-Politik Großbritanniens und seines damaligen Premierministers Neville Chamberlain im Spätsommer 1938 gegenüber Hitler. Mützenichs Rede vom „Einfrieren“ sei „der Ersatz von Politik durch eine Illusion [...]. Wie gefährlich das sein kann, zeigt die Geschichte. Der Gipfel von München garantiere ‚Frieden für unsere Zeit‘, verkündete Chamberlain [...]. Elf Monate später fiel die Wehrmacht in Polen ein“. In der „mit viel Pomp inszenierten Weigerung“ von Scholz in der Taurus-Frage, so Pfister weiter, stecke „immer noch das giftige Erbe der ‚Entspannungspolitik‘“.Das Problem dieser Behauptung ist, wenn es tatsächlich so wäre, dass Putin ein neuer Hitler auf Beutefeldzug gen Westen ist und ein „Einfrieren“ des Ukrainekrieges dem Münchner Abkommen gleichkommt, dann gibt es nur eine Konsequenz: Die Staaten des Westens müssen in den Krieg eintreten – und zwar jetzt. Und das mit Soldaten, gepanzerten Divisionen sowie Geschwadern von Kampfflugzeugen. Worauf läuft die wiedergegebene Argumentation sonst hinaus? Ihr nicht zu folgen, verhieße Inkonsequenz gepaart mit Feigheit. Wenn die NATO-Staaten wie die EU das nächste Kriegsziel Russlands sind, wie unablässig behauptet wird, wie kann man die Ukrainer dann allein sterben lassen, damit sie dem Westen das auf Angriff versessene Russland vom Leibe halten?„Das giftige Erbe der Entspannungspolitik“Es war dem „giftige(n) Erbe der Entspannungspolitik“ geschuldet, dass die Sowjetunion und der Ostblock 1989/90 weitgehend gewaltfrei implodierten, wovon die Deutschen am meisten profitieren konnten. Von Willy Brandt und Egon Bahr mitgetragen, kam es Anfang der 1970er-Jahre vorrangig auf Initiative der Warschauer-Pakt-Staaten zur Konferenz für Zusammenarbeit und Sicherheit in Europa (KSZE) mit ihrem Gipfeltreffen 1975 in Helsinki. Es entstanden belastbare Beziehungen und Gesprächskanäle sowie Abrüstungschancen. Dass Polen, Tschechien und Ungarn als erste ehemalige Ostblock-Staaten 1999 in die NATO aufgenommen wurden, konnten sie gleichfalls einem solche Erbe verdanken, zehrten sie doch bei ihrem Westkurs auch von Vertrauen, das dank Entspannungspolitik gereift war.Mittlerweile dauert der Ukrainekrieg über zwei Jahre, die Zahl der getöteten Zivilisten liegt bei annähernd 11.000. Laut Regierung in Kiew sind zudem mehr als 31.000 der eigenen Soldaten gefallen, doch sprachen bereits im August 2023 US-Beobachter von etwa 70.000 toten Militärs, während auf der russischen Seite bereits 120.000 umgekommen seien – vom Schicksal der körperlich und psychisch Verstümmelten auf beiden Seiten ganz abgesehen. Es ist schon deshalb keine „Materialschlacht“, da der Begriff zu Fehlschlüssen verleitet. Wie in jedem Krieg werden zunächst einmal Menschenleben zerstört. Und die Schützengräben und sich kaum verschiebenden Frontverläufe deuten weniger auf 1938 als auf die Jahre 1914 bis 1918, den Ersten Weltkrieg. Letzterer führte bei eingesetzten 60 Millionen Soldaten zu durchschnittlich 6.000 Kriegstoten pro Tag auf dem Schlachtfeld, ohne dass es danach zu signifikanten Grenzverschiebungen gekommen wäre. Dafür war die Saat eines noch verheerenderen Krieges gelegt.Angesichts dieser Erfahrung ein „Einfrieren“ der Kampfhandlungen in der Ukraine und eine Waffenruhe als „Katastrophe“ zu bezeichnen, offenbart viel verantwortungsloses Reden und Schreiben, gemessen an den geschehenen und weiter absehbaren Verheerungen. Es ist eine Verantwortungslosigkeit der sicheren Entfernung.Nur die Gebrochenen ...Wird im Westen wirklich gesehen und gefühlt, was Krieg – was dieser Krieg bedeutet? Die Fernsehnachrichten zeigen uns nichts von der Nähe und der ewigen Sekunde, in der ein ukrainischer Soldat von einer russischen Bombe zerfetzt wird. Sie zeigen stattdessen regelmäßig, wie ein ukrainischer Soldat gerade eine Bodenrakete zündet, deren Ziel, Flug und Explosionsopfer unbestimmt bleiben. Wir sehen nichts davon, wie ein ukrainischer Soldat, dessen Beine gerade weggesprengt worden sind, ausblutet, noch bei Bewusstsein, verzweifelt schreiend verloren ist. Gefragt ist allein das Interview mit einem Soldaten, der erläutert, wie Befestigungsanlagen errichtet werden. Wir fühlen nichts von der Angst all der ukrainischen und russischen Frontsoldaten, die jeden Tag und jede Nacht und jede Minute mit dem Bewusstsein leben müssen, dass sie gleich sterben können. Wir sehen Ukraine-Präsident Wolodymyr Selenskyj, der einen „Friedensplan“ präsentiert – vollständiger Abzug russischer Truppen, Reparationen für Kriegsschäden, Auslieferung von Kriegsverbrechern –, was alles wünschenswert sein mag, aber Galaxien entfernt ist von der brutalen Realität vor seiner Tür.Der US-Journalist Chris Hedges, der jahrzehntelang über Kriegsgebiete schrieb, hat 2022 The Greatest Evil is War (Das größte Böse ist Krieg) vorgelegt. Er merkt an: „Ich trage den Tod in mir. Den Geruch von verwesten und aufgedunsenen Leichen. Die Schreie der Verwundeten. Die Schreie der Kinder. Den Klang der Schüsse. Die ohrenbetäubenden Explosionen. Die Angst. Den Gestank von Kordit. Die Demütigung, die entsteht, wenn man sich dem Terror ergibt und um sein Leben bettelt. Den Verlust von Kameraden und Freunden. Und dann die Nachwirkungen. Die lange Entfremdung. Die Gefühllosigkeit. Die Albträume. Den Schlafmangel. Die Unfähigkeit, sich mit allen Lebewesen zu verbinden, selbst mit denen, die wir am meisten lieben. Das Bedauern. Die Absurdität. Die Verschwendung. Die Sinnlosigkeit. Nur die Gebrochenen und Verstümmelten kennen den Krieg. Wir bitten um Vergebung.“ Man trage dieses schreckliche Kreuz des Todes auf dem Rücken, so der Autor, denn das Wesen des Krieges sei der Tod und fresse unsere Seelen auf. „Er verlässt uns nie.“Rusland gegen Ukraine: Das ist kein ComputerspielViele der „Sieg-um-fast-jeden-Preis“-Befürworter im Westen sehen und fühlen nicht, was Krieg bedeutet. Was unser Polit- und weite Teile des Medien-Establishments westlich der Ukraine gut können, das ist zählen: eine Million Artilleriegeschosse, 500 Panzer, 50 Milliarden Euro an Zusagen der EU und 60 Milliarden Dollar ausstehende Kriegshilfe der USA und so weiter. Doch das Verhandeln lässt sich ebenso wenig zählen wie der viel beschworene „Sieg“, dessen halbwegs realitätsnahe Form und Folgen nirgendwo erläutert werden. Stattdessen wird die unausgesprochene, weil in ihrer Komplexität kaum zu fassende Realität in einer Art Computerspiel-Sprache ertränkt: Einer muss gewinnen, und einer muss verlieren. Allzu viele wollen nicht zur Kenntnis nehmen: Selbst, wenn es der Ukraine gelingen sollte, die russischen Truppen in diesem Jahr oder 2025 aus den besetzten Gebieten zurückzudrängen – was nach der momentanen Frontlage und laut Urteil westlicher Militärstrategen kaum möglich ist, und wenn, dann nur unter einem noch höheren Blutzoll als bisher, wäre das dann der Sieg? „Game Over“? Russland gibt auf, zieht seine Truppen in die Kasernen ab?Es scheint, als würden immer mehr Zeitgenossen, Politiker und Journalisten, die ernst genommen sein wollen, in diesen Kategorien denken; zumindest kommunizieren sie so, dass der Eindruck entsteht. Präsident Putin könnte dann stürzen, reagieren sie auf den Einwand, die siegbringende Strategie sei allzu vage. Und ist das, was gefühlsmäßig nachvollziehbar wäre, auch politisch wünschenswert? Kämen nach Putin in Moskau die Friedenstauben an die Macht, die einem nationalistisch gefärbten Land, sprich: seiner Bevölkerung, erklären, dass man nun aufgeben und sich fügen müsse? Hat es sich noch nicht herumgesprochen, dass hinter Putin eine ganze Reihe nationalistischer Hardliner steht und sich der engste Machtzirkel aus dem Geheimdienst FSB rekrutiert? Würde der Westen, würde die Ukraine mit ihnen eine Verhandlungslösung suchen? Lauter unbeantwortete Fragen. Statt dessen heißt es: Weiterkämpfen. Wer? Nicht wir! Die Ukrainerinnen und Ukrainer!Sie müssen dafür aufkommen. Das Ganze offenbart eine unheilvolle Verbindung, die von Hybris und Feigheit.
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