Philosophie Im März 1899 brach in Frankreich eine Philosophen-Diskussion über Krieg und Frieden los. 125 Jahre später wiederholt sie sich – mit vertauschten Rollen: Jetzt sind es die selbsterklärten Progressiven, die an die Waffen rufen
Der Sorbonne-Professor Ferdinand Brunetière wetterte gegen „Freunde des Friedens“ und Gefühlsduselei
Montage: der Freitag, Foto: Archives Zephyr/dpa
Jüngst, am 17. März, das Datum ist bedeutsam, erklärte die Göttinger Philosophieprofessorin und Spezialistin für analytisch-feministische Philosophie Christine Bratu im Deutschlandfunk Kultur: Der Papst habe mit seinem Plädoyer für Verhandlungen zur Beendigung des Krieges in der Ukraine zwar das Richtige gesagt, denn Frieden sei „an sich“ wünschenswert. Aber das Richtige könne eben auch falsch sein, wenn man den Kontext beachte, den der Papst „im Eifer des Gefechts“ (sic!) zu erwähnen versäumt habe. Den Kontext liefert die Philosophin nach. Er bestehe in der historischen Erklärung und moralisch-völkerrechtlich gebotenen Einordnung des Kriegs in der Ukraine, nämlich „dass es sich bei dem Konf
onflikt in der Ukraine um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg handelt, ein Angriffskrieg, der zurückgeht auf die Großmachtfantasien eines menschenverachtenden Diktators, der seine Kritiker:innen in aller Öffentlichkeit ermorden oder in Arbeitslagern verschwinden lässt“.Damit hat der Papst, wie die analytische Philosophin uns lehrt, aber nicht nur „offensichtlich relevante“ Hintergrundinformationen unterschlagen. Obendrein mache er sich auch einer „affektiven Ungerechtigkeit“ schuldig, erklärt Bratu im Rückgriff auf ein Konzept von Amia Srinivasan. Opfer von Gewalt und Ungerechtigkeiten, so Srinivasan, die als erste Frau und erste Person of Color auf einem renommierten Lehrstuhl für Politische Theorie in Oxford lehrt, stehen vor einem Zwiespalt: Ihr Gerechtigkeitsgefühl verlangt nach Bestrafung des Täters, während der Wunsch nach einer raschen Verbesserung ihrer Situation zugleich – und unvereinbar – Kompromissbereitschaft verlangt.Des Papstes Forderung nach „Mut zur Verhandlung“, so die Göttinger Philosophin, sei ein Schlag ins Gesicht der Menschen in der Ukraine, also der Opfer dieses Konflikts. Der Papst missachte ihr Gerechtigkeitsgefühl. Wir sollten uns vor dieser affektiven Ungerechtigkeit hüten. „Denn viele von uns halten es für notwendig, dass jemand Putin die Stirn bietet, und sind gleichzeitig sehr froh darüber, dass wir nicht unsere eigenen Köpfe hinhalten müssen. Wir haben das Privileg, von weit hinter der Frontlinie Ratschläge zu erteilen. Umso mehr sollten wir darauf achten, dass unsere Ratschläge dem Leid der Opfer angemessen Rechnung tragen.“Wladimir Putin, der Papst und Zar NikolausDas Datum ist Zufall, aber der sonntägliche Radiokommentar schickt uns auf eine Zeitreise, auf den Tag genau 125 Jahre in die Vergangenheit. Krieg und Frieden waren auch damals ein „hot topic“ in der politischen wie philosophischen Diskussion. Damals brachte nicht der Papst, sondern ausgerechnet der Zar Bewegung in die Debatte. Wenn Putin in der russischen Geschichte nach einem Vorbild als „menschenverachtender Diktator mit Großmachtfantasien“ suchen wollte, würde er bei Nikolaus II. fündig. Als aber dessen imperialistische Bestrebungen mit denen Westeuropas, Japans und des Osmanischen Reiches ins Gehege gerieten und sich jene explosive Situation aufzubauen begann, die sich wenige Jahre später im Ersten Weltkrieg so mörderisch entlud, versuchte der Zar im August 1898 mit einem „Friedensmanifest“ gegenzusteuern, das den Anlass zur Haager Friedenskonferenz gab. Das Dokument liest sich sehr aktuell. Der Zar geißelt die Aufrüstung, die nicht nur die Ressourcen der Länder „in unproduktiver Weise aufzehrt“, sondern durch die „Kriegsstoffansammlung“ die Welt in ein Pulverfass verwandelt. Wie wahr!Und nun, am 17. März 1899, exakt 125 Jahre vor jenem Interview mit Christine Bratu, meldete sich schon einmal die Universitätsphilosophie zu Wort. Der prominente Philosoph und Literaturhistoriker Ferdinand Brunetière, Professor an der Sorbonne, legte im Journal des débats seine Ansichten zur Friedensfrage dar. Er teilt aus gegen die „Feinde der französischen Seele“: Intellektuelle (wir sind inmitten der Dreyfus-Affäre!), Freidenker, Individualisten und Internationalisten, und von Letzterem vor allem die „humanitären oder gefühlsduseligen“ Vertreter: „So nenne ich jene alten Leute von 1848, der Erben der Ansichten von George Sand und des Geredes eines Lamartine, – ‚Wer denkt – wes Volkes auch – ich will ihn Landsmann nennen! / Die Freiheit ist mein Vaterland!‘ – die Freunde des Friedens, jene, die Engländer, Franzosen, Slaven, Germanen, Spanier, Amerikaner, Schwarze und Chinesen ‚als Brüder‘ zusammenleben sehen wollen“.Den Ruf nach Frieden hält Brunetière für naiv. Er beschwört im Namen von Tradition, Würde und Nation die Kriegstüchtigkeit der Franzosen. Und auch die oberste Parole der militaristischen Logik darf nicht fehlen: Si vis pacem, para bellum — wenn du Frieden willst, sei für den Krieg gerüstet. Dann aber begeht Brunetière einen strategischen Fehler. Er beruft sich ausgerechnet auf den Autor der Schrift Zum ewigen Frieden als Gewährsmann der Ansicht, dass der Krieg der Garant von Unabhängigkeit und Freiheit sei: Immanuel Kant. Das bringt ihm böse Reaktionen ein. Eine davon stammt von Louis Couturat, der schon am Vortag in Le Temps eine Zusammenfassung des Vortrags seines einstigen Lehrers liest und – als Pazifist und Kant-Kenner – außer sich ist. Couturats Name ist hier bedeutungsvoll. Man kennt den französischen Philosophen vielleicht als Erfinder der internationalen Hilfssprache Ido. Der Kämpfer für die Völkerverständigung sollte tragischerweise als eines der ersten zivilen Opfer des Ersten Weltkrieges sterben, als er bei der Mobilmachung der französischen Armee nahe Paris in einen Autounfall mit einem Militärlaster gerät.Opfer, aber wessen Opfer?Zwischen den Philosophen entfaltet sich im März 1899 in Le Temps genau jene unvermeidliche Polemik, in die, zurück im Jahr 2024, ich mich nun auch mit Christine Bratu einlassen müsste. Und ich hätte einiges auf dem Herzen: Dass die Göttinger Kollegin nämlich ihrerseits just den Fehler begeht, den sie dem Papst vorwirft, nämlich „offensichtlich Relevantes“ wegzulassen. Hat denn der Krieg wirklich gar nichts mit der offensiven Osterweiterung der selbst um das Völkerrecht nur selektiv bekümmerten NATO zu tun? Wäre der Rekurs auf die ukrainischen Opfer dann nicht perfide, da er sie ein zweites Mal funktionalisiert: Der Westen schickt erst die Ukrainer in den Krieg für einen Konflikt, der nicht der ihrige ist, und benutzt sodann ihr höchst reales Leid, um alle Kritik an der eigenen zynischen Politik im hochmoralischen Gestus im Keim zu ersticken.Die Ukrainer sind zweifellos Opfer – aber wessen Opfer eigentlich? Und sind in einer komplizierten historischen Situation die Opfer und Täter wirklich so klar zu identifizieren? Hat nicht die ukrainische Regierung einen Krieg gegen einen Teil ihrer Bevölkerung geführt? Das Drama nationalistischer Verblendung, das sich hier auch zeigt, spielt auf beiden Seiten.Allein, wozu sollte diese Erwiderung dienen? Polemiken folgen, wie der historische Vergleich zeigt, bis ins kleinste Detail dem immer gleichen Drehbuch, und vor allem: Sie ändern nichts. Nutzen wir lieber die formidable Chance, die uns die unverhoffte Zeitreise bietet, denn der historische Vergleich bietet weitere verblüffende Einsichten. Die über die historischen Epochen hinweg bestehenden Gemeinsamkeiten liegen auf der Hand: Die Konfliktlinie ist dieselbe, die Positionen gleichen sich, sogar der Ton – z.B. in der Verächtlichmachung des Pazifismus: Viel zu lang habe in Deutschland eine „Friede-Freude-Eierkuchen-Stimmung“ geherrscht, lässt der Präsident eines Lehrverbandes am selben 17. März via Bild verlauten.Schützenhilfe im Namen postkolonialer TheorieNoch lehrreicher als die Gemeinsamkeiten sind allerdings die – vermeintlichen – Unterschiede. Brunetière war, wie damals alle wussten, ein bekennender Reaktionär: chauvinistisch, kolonialistisch, katholisch, antimodern. Seine Opponenten verstanden sich als das gerade Gegenteil: kosmopolitisch, internationalistisch, antiklerikal, antimilitaristisch, sozialistisch. Wir sind hier in der guten alten Zeit der französischen Dritten Republik, als links noch links und rechts noch rechts war.Und hier liegt der frappierende Unterschied im Jahr 2024. Die philosophische „Schützenhilfe“, um im Duktus der bereits militarisierten Sprache zu bleiben, erfolgt heute nicht unter Anrufung von Nation, Tradition und Kirche, sondern – im Namen des Feminismus und der postkolonialen Theorie! Hier liegt der Gewinn der Zeitreise, zu der uns die magische Koinzidenz des Datums einlud, denn aus dem Jahr 1899 kehren wir nicht mit leeren Händen heim, sondern können einen kalibrierten Kompass mitbringen, der uns auch im dichten Nebel der heutigen Debatten glasklar die Richtung weist.Und dieser Kompass zeigt nicht nach links, wenn hier im Namen von Feminismus und Postkolonialismus gegen Friedensbemühungen getrommelt wird. Verräterisch ist der Duktus der moralischen Überlegenheit, den die heutigen angeblichen Postkolonialen zu einhundert Prozent mit den Kolonialherren von damals teilen. Ein Diskurs der absoluten Moral, der den Krieg als ihr Mittel immer gerechtfertigt erscheinen lässt, notfalls im Namen seiner eigenen Opfer!Gewechselt haben nur die Kategorien, auf die sich diese Überlegenheit beruft: nicht mehr Tradition, Glaube und Kultur, sondern, ausgerechnet, Diversität und Gleichberechtigung. Die praktischen Folgen sind dieselben, die Gewinner und die Verlierer auch. Oben klingeln die Kassen, unten stirbt man im Schlamm. Und die Philosophie gibt ihren Segen. Links ist noch immer links und rechts rechts, wenn man hinter den Schleier schaut. Insofern: im Westen noch immer nichts Neues – bis vielleicht auf eins: Brunetière wusste wenigstens noch genau, auf welcher Seite er wirklich stand, und er machte daraus auch keinen Hehl.Placeholder authorbio-1
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