Im Universum der Süchte

Theater Christine Eder adaptiert David Foster Wallaces Roman “Unendlicher Spaß” für die Bühne an der Wiener Garage X

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Im Universum der Süchte

David Foster Wallaces Roman “Unendlicher Spaß” ist ein Universum. Er hat weder Anfang noch Ende, dafür ein Aufgebot an Figuren, Handlungssträngen und Schauplätzen, das unmöglich zu umreißen ist. Er ist die Zukunftsvision einer Welt, in der Jahre keine Zahlen mehr tragen, sondern nach Konzernen benannt sind. In der Jugendliche bis zum Burnout für das Whataburger-Tennisturnier trainieren, während wenige Gehminuten entfernt eine Gruppe Verzweifelter im “Ennet House Drug and Alcohol Recovery House” gegen ihre Süchte anzukommen versucht. Eine Welt, in der menschliche Nähe und Kommunikation mit der Außenwelt fast nur durch den gemeinsamen Rausch möglich sind – wenn überhaupt.

1996 geschrieben, spielt der Roman in der nahen Zukunft, also ziemlich genau jetzt. Vieles an der Geschichte ist in der Tat very nineties: die Drogengeschichten etwa erinnern an “Trainspotting”, an Grunge, an Kifferkomödien und an die Generation X. Auch die Kritik am Fernsehen wirkt heute seltsam anachronistisch. Aber die Erfahrungen, um die der Roman sich dreht, sind universell. Es geht etwa um eine große, existenzielle Einsamkeit, die mit der Sucht in einer Wechselwirkung steht. David Foster Wallace sprach in einem BBC-Interview von einem Phänomen, das er “the solipsism of addiction” nannte und dem kaum eine der endlos vielen Romanfiguren entgeht.

Da ist zum Beispiel Hal Incandenza, die eigentliche Hautfigur: ein hervorragender Tennisspieler, der Enzyklopädien liest, brillante Essays schreibt, gehemmt und schweigsam ist; ein hochbegabter Teenager, der genau weiß, wie “komplex” er ist und der nicht von Dope spricht, wenn er kifft, sondern von Hope. Bob Hope. Da sind seine Brüder. Zum einen Mario, die – so die Regisseurin Christine Eder – einzig wahrhaftige Figur des Stücks, ein deformierter, liebevoller Junge, der mit einer Kamera die Schülerinnen und Schüler der Eliteakademie filmt. Ein Außenseiter unter Außenseitern. Zum anderen Orin, der Frauen “Subjekte” nennt und sie konsumiert wie andere das Fernsehprogramm oder Junkfood, der Albträume hat und an seiner sportlichen Karriere scheitert. Über allen wacht Avril Incandenza, die Mutter, die “Moms”, die den Freitod ihres Mannes durch eine an Euphorie grenzende Fröhlichkeit kompensiert und die dazu neigt, ihre Söhne gnadenlos zu bemuttern. Ihr erster Auftritt im Roman: eine Panikattacke, weil einer ihrer Söhne (damals Kleinkind) sich etwas Schmutziges in den Mund gesteckt hat, eine überzogene, komische und irgendwie traurige Szene.

Neben Familie Incandenza und der Gruppe Süchtiger im “Ennet House” sind da noch Remy Marathe, der einer frankokanadischen Separatistengruppe angehört, und Hugh “Helen” Steeply, der mit Remy gemeinsam nach einer besonderen Waffe sucht: nach dem “Unendlichen Spaß”, einem Film, der seine Zuschauer so gut unterhält, dass sie ihn immer und immer wieder sehen wollen und darüber sämtliche lebenserhaltenden Maßnahmen vergessen. Tödliches Erstarren. Gedreht wurde der Film von Hals Vater.

Der kindliche Collegehumor des Romans setzt auch in der Bearbeitung ein wirksames Gegengewicht zu den vielen Tragödien, ohne diese unglaubhaft oder lächerlich erscheinen zu lassen. Überhaupt hat Eder es gewagt, den Roman zwar zu reduzieren, aber nicht auf wesentliche Nebenhandlungen zu verzichten. Viel wichtiger ist jedoch, dass sie dem Ton des Romans gerecht wird. Das zeigt sich nicht zuletzt anhand von Details, wenn etwa Infografiken gezeichnet werden, die an den nerdigen Gestus der Vorlage erinnern. All das deutet darauf hin, dass das gesamte Ensemble sich dem Roman mit großer Sorgfalt und Genauigkeit genähert hat. Dass dabei ein Stück herausgekommen ist, das das Publikum fordert, aber nicht überfordert, das Spaß macht und nachdenklich macht, ist ein großer Verdienst.

1500 Seiten, in denen manchmal ein Buchstabe, ein Wort, eine Redewendung so gewichtig ist, dass man nicht weiß, wie man das Buch ohne sie überhaupt verstehen kann. Ergänzt um 388 Endnoten, einige davon seitenlang, andere kaum mehr als eine Formel. An einem Roman, der aus Marginalien – im Sinne von: Randnotizen – besteht und von marginalisierten Figuren handelt, ist letztlich alles wichtig. Die Bearbeitung des Romans war vor allem ein Streichen. Mit offensichtlichem Respekt vor diesem in jeder Hinsicht großen Text haben Christine Eder, Meike Sasse und Anna Laner daraus ein Bühnenstück geschaffen, das viel verlangt, besonders von den fünf SchaupielerInnen, die alle in Mehrfachrollen auftreten und durchweg überzeugen. Und auch vom Publikum, das über drei Stunden ohne Pause verharrt, hinsieht, unterhalten wird.

Das ist durchaus eine sportliche Leistung. “Bedenken Sie: Sie befinden sich in ihrer Freizeit”, steht auf einem Schild, das irgendwann hochgehalten wird, als das Stück noch lange nicht zuende ist und die Stühle in der Garage X langsam hart werden. Wie eine Wallace'sche Randbemerkung hängt der Satz im Raum. Zwei, drei Leute aus dem Publikum schleichen sich gegen Ende der Aufführung unauffällig aus dem Saal. Man wird das Gefühl nicht los: Das könnten diejenigen sein, die David Foster Wallaces Roman ohne die Endnoten lesen. Kurz darauf erwischt man sich dann selbst beim Blick auf die Uhr. Aber das Ausharren hat auch etwas Triumphales, und es wird auf vielfältige Weise belohnt: Es ist ein großes Glück, dabeizusein.

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