Von der Ökonomie der Armut

Arme Europäer Roma sind die Indikatoren dafür, was in der EU schief läuft. Norbert Mappes-Niediek war zu Gast in Berlin, wo er ein Buch vorstellte, das (nicht nur) von Roma handelt

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Es geht nicht um Roma, sondern es geht um arme Menschen egal welcher Ethnie, die in Slums in Berlin, Bukarest oder – wie hier auf dem Bild aus dem Jahr 2012 – in Paris leben
Es geht nicht um Roma, sondern es geht um arme Menschen egal welcher Ethnie, die in Slums in Berlin, Bukarest oder – wie hier auf dem Bild aus dem Jahr 2012 – in Paris leben

MIGUEL MEDINA/AFP/Getty Images

Wolfgang Schäuble sprach im Zuge der Fluchtbewegungen des letzten Jahres einmal von einem „Rendevouz mit der Globalisierung“. Die Verantwortung für weltweite Elendsszenarien holt uns ein.
Norbert Mappes-Niediek sprach in seinem Vortrag anlässlich der Interkulturellen Woche in Berlin von einem „Rendevouz mit der Europäisierung“. Er stellte die Thesen seines Buches Arme Roma, böse Zigeuner vor, was inzwischen in der dritte Auflage vorliegt.

Anders als der Titel vermuten lässt, hat der Journalist und Südosteuropa-Kenner Mappes-Niediek nicht ein Buch über Roma geschrieben, sondern über Armut in der Europäischen Union. Die seit 2013 medial wieder stärker diskutierte „Armutszuwanderung“ und die als ihre Protagonisten wahrgenommenen rumänischen und bulgarischen RomNja sind nur der Anlass des Buches. „Was an den Vorurteilen über die Zuwanderer stimmt“ ist denn auch ein Untertitel, der den Inhalt des Buches und das Anliegen des Autors bestenfalls knapp berührt, keinesfalls aber wirklich trifft.

„Je nach ihrem spezifischen Modell von Ordnung und Norm hat […] jede Gesellschaft ihre Armen nach ihrem eigenen Bild geschaffen, indem sie verschiedene Erklärungen für ihr Dasein angeboten, unterschiedliche Verwendungen für sie gefunden und unterschiedliche Strategien entwickelt hat, das Problem der Armut anzupacken“, schrieb der Philosoph und Soziologe Zygmunt Bauman vor 20 Jahren.

Mappes-Niediek versucht in seinem Vortrag genau auf dieses Phänomen hinzuweisen: dass „die Roma“ eine Erfindung (west-)europäischer Gesellschaften seien. Sie werden gebraucht, um die eklatanten Mängel der europäischen Sicherungs-, Bildungs- und Gesundheitssysteme zu reduzieren. Mangelnde gesellschaftliche Teilhabe, fehlende berufliche Perspektiven und Ghettoisierungsphänomene können so bequem als Folgen von (rassistischer / antiziganistischer) Diskriminierung der Mehrheitsgesellschaft behandelt werden. Die Rezepte bestehen aus Roma-Bildungsprogrammen, Roma-Dekaden (2005-2015), Roma-NGO's, Roma-SchulmediatorInnen, …

Die Probleme, die Europa hat, sind die Probleme der Roma. „[Sie] eignen sich dazu, ihren Volksnamen an eine ganze Reihe von anderen Problemen zu verleihen: an das Armutsproblem, die Arbeitslosigkeit, die Verödung des ländlichen Raumes durch Vernachlässigung der Infrastruktur, an das ausgehungerte Bildungs- und das fehlgesteuerte Gesundheitswesen, die defekte Demokratie und das prosperierende organisierte Verbrechen“ (204). Von manchen als ein „Werk von wissenschaftlicher Genauigkeit“ missverstanden und (damit zu Recht) kritisiert (Esther Quicker), ist Mappes-Niedieks Buch ein Einführungswerk zu einer weiteren Beschäftigung mit Armut in Europa.

„Wir lernen eine Armut kennen, von der wir gar nicht ahnten, dass es sie gibt“, sagte Mappes-Niediek in Berlin. Seine anekdotenhaften und keiner strengen Systematik folgenden Berichte aus Südosteuropa illustrieren diese Armut. Er berichtete davon, dass in Rumänien immer noch Menschen als Jäger und Sammler in den Wäldern leben. So etwas lässt einen erschauern.

Dass sich Mappes-Niediek kaum oder gar nicht mit Roma selbst unterhalten habe, geschweige denn eine der geschilderten Elendssiedlungen an den Rändern der Europäischen Union für längere Zeit besucht hätte, wirft ihm die Romanistin und Soziolinguistin Esther Qicker vor. Dies gründet jedoch auf dem Fehlschluss, dass der in Graz lebende Autor ein Buch über Roma, ihre Lebensweise und ihre Probleme schreiben wollte. Sein Anspruch ist nicht die letztgültige Beschreibung einer wie auch immer zu verstehenden europäischen Minderheit. Im Gegenteil: er dekonstruiert diese Vorstellung sogar, indem er darauf hinweist, dass die Rede von einer europäischen Minderheit eine europäische Nation voraussetze (206). Ein Buch über Roma hat er nicht geschrieben, vielmehr ein Buch, das auf die Mechanismen verweist, die Menschen zu „Roma“ machen.

„Die Wurzel des Übels liegt nicht nur nicht bei den Roma. Sie liegt nicht einmal im Verhältnis der Mehrheit zur Minderheit. Sie liegt vielmehr in der Mehrheitsgesellschaft selbst“ (200). Damit bringt Mappes-Niediek die Sache auf den Punkt.
Dankenswerter Weise ist sein Buch ein Beitrag zur Erweiterung der Perpektiven: es geht nicht um Roma, sondern es geht um arme Menschen egal welcher Ethnie, die in Berliner, Bukarester oder Pariser Slums leben. Erklärungsansätze für ihre Lebenslagen finden sich nicht (nur) im engen kultur- oder sozialwissenschaftlichen Rahmen, sondern sind (auch) bei den Politik- und Wirtschaftswissenschaften zu finden. Nicht nur Roma können etwas zur Beschreibung der Lage beitragen, sondern auch Gadsche (Nicht-Roma). Schließlich spannt sich der argumentative Bogen bis zu den brasilianischen Favelas und den südafrikanischen Townships, wo die Lebenslagen ihrer BewohnerInnen denen europäischer RomNja absolut gleichen. Es sind also vielleicht gar keine Roma-Probleme, mit denen wir es hier zu tun haben.

Mappes-Niediek hat sich mit Oscar Lewis' Konzept der „Kultur der Armut“ beschäftigt. Er hat sich Charles Karelis Vorstellung von der „Ökonomie der Armut“ angesehen, die ebenso vernüftig wie die „Ökonomie der Bessergestellten“ sei. Er wagt den Sprung aus dem Sumpf des Roma-Diskurses. Vieles von dem, was die wie auch immer zu beschreibende Mehrheitsgesellschaft als Roma-spezifisch wahrnimmt, erklärt sich so von ganz allein als Anpassung an prekärste Lebensbedingungen. Der Schleier des Exotismus wird gelüftet. So wie „der Balkan“ „Europas bequemes Vorurteil“ ist (Maria Todorova), so sind es in gewisser Weise auch „die Roma“.

Ellen Bareis und Thomas Wagner haben mit „Politik mit der Armut“ ein Buch herausgebracht, was hier weitere Erklärungen liefern kann. Sie beschreiben Armut als politisches (Neben-)Produkt: „Wer in diesem ‚Wirtschaftsraum Europa‘ nicht als ‚wettbewerbsfähig‘ und ‚dynamisch‘ adressiert werden kann, wessen Fähigkeiten und Wissen sich nicht als ‚Humankapital‘ warenförmig machen lassen, besitzt für die Zukunft dieses Europas keine Relevanz. Gerade dieses jedoch markiert einen sozialen Konflikt, der die Einheit dieses Projektes ‚Wirtschaftsraum Europa‘ gefährden kann“.

Kritikwürdig ist an Mappes-Niedieks Buch weniger die fehlende exakte Zitation, die Esther Quicker, die den Autorennamen konsequent falsch schreibt, bemängelt, sondern eher der Titel, der falsche Erwartungen weckt. Schade ist schließlich, dass die zu ausführlichen, zu facettenreichen Schilderungen mancher Szenen und Verhältnisse in Südosteuropa den Eindruck erwecken, dies sei Hauptanliegen des Buches. Die Ergründung Roma-spezifischen Verhaltens und Lebens schließlich hätte Mappes-Niediek vielleicht gänzlich unterlassen sollen, obwohl er sowohl die Definition des Gegenstandes „Roma“ als auch Anleihen bei TsiganologInnen weitestgehend vermeidet und sogar kritische Anmerkungen zu rassebiologischen Forschungen der NS-Zeit macht. Mehr Raum hätten seine Thesen zur „Puzzle-Existenz“ und vor allem zu den Parallelen zu Armen auf der ganzen Welt verdient. Aber dann wäre es kein Buch über Roma geworden. Und dann hätten es weniger Menschen gekauft.

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