Deborah Feldman: „Jüdische Vielfalt ist kein Kuschelbegriff“
Im Gespräch Die SPD will Antisemiten die Staatsbürgerschaft entziehen. Deborah Feldman hält für möglich, dass sie eines Tages mitgemeint sein könnte, weil sie die israelische Regierung von Benjamin Netanjahu kritisiert. Ein Gespräch mit Jakob Augstein
Deborah Feldman: „2022 sind meine Papiere aus den USA abgelaufen. Nun lasse ich die erneuern“
Foto: Philipp Plum für der Freitag
Helle Aufregung wenige Stunden vor der Veranstaltung: Das Kaminzimmer im Literaturhaus, wo sich Deborah Feldman und Jakob Augstein eigentlich unterhalten wollten, wird aus allen Nähten platzen! Feldman ist so bekannt, dass sich wahnsinnig viele Gäste angemeldet haben, die Warteliste ist lang. Also findet das Gespräch in einem größeren Saal statt, eine Etage höher. Dort spricht die Bestsellerautorin über jüdische Identität – und über die Kosten, wenn man sie aufgibt.
Jakob Augstein: Deborah, wie lässt sich das Judentum am ehesten definieren?
Deborah Feldman: Da gibt es sehr viele Antworten, und die konkurrieren alle miteinander. Es gibt die Religion, die Kultur, die Ethnizität. Israel versucht immer, die große Gemeinsamkei
n, die Kultur, die Ethnizität. Israel versucht immer, die große Gemeinsamkeit zwischen allen Juden zu betonen – aber die gibt es nicht. Genealogisch bin ich zum Beispiel eine Aschkenasi, was heißt, dass ich europäisch bin. Ich habe also mit Europäern mehr gemein als mit Juden, die aus Afrika oder dem Jemen stammen.Das Judentum ist also vielfältig.Schöner Euphemismus! Aber jüdische Vielfalt ist kein Kuschelbegriff. In den letzten Jahrzehnten haben sich tiefe Kluften in der jüdischen Welt gebildet, nicht nur in Deutschland. Und diese werden jetzt sichtbar aufgrund der Spannungen in Israel, das reicht bis tief in die Diaspora. Es gibt einen Trend, den die New York Times beleuchtet hat, dass mehr als 50 Prozent der jüngeren amerikanischen Juden sich von Israel abgewendet haben. Das ist sehr dramatisch. In Deutschland beobachten wir das auch: Mehr als die Hälfte der hier lebenden Juden sieht sich vom Zentralrat nicht vertreten.In deinem neuesten Buch schreibst du, du habest dich vom Jüdischsein verabschieden wollen: Mensch unter Menschen sein, eine Berlinerin unter Berlinern. So was würde ich nie über mich sagen.Na klar, du willst natürlich einzigartig sein! Ein Jakob Augstein unter Jakob Augsteins! (lacht)Very funny. Ist Identität kein ernstes Thema für dich?Ich habe das Gefühl, dass mir die Frage nach den Wurzeln mittlerweile ein bisschen wurscht ist. Ich habe mit der Zeit einfach verstanden, dass mir der Preis, den ich für meine Zugehörigkeit zum Judentum zahlen muss, persönlich zu hoch ist. Also verzichte ich darauf.Kannst du das?Ja. Indem ich nicht mehr versuche, mich unter- oder einzuordnen. Dann bleibe ich halt eine Außenseiterin. Das heißt vielleicht, dass das Leben einen ein bisschen umherwirft und man keine sicheren Visionen für seine Zukunft hat. Aber diesen Preis muss ich zahlen.Bei Reaktionen auf den 7. Oktober habe ich von Juden den Satz gelesen: Wir fühlen uns jetzt jüdischer als vor dem Angriff.Ja, den habe ich auch oft gehört.Geht es dir auch so?Überhaupt nicht. Ich muss sagen, ich fand diese Aussage von Anfang an enorm befremdlich. Aber das liegt wahrscheinlich an meiner persönlichen Lebensgeschichte.Du bist in der ultraorthodoxen Glaubensgemeinschaft der Satmarer in New York aufgewachsen.Ja, und da war ich dauernd mit einem unaufhörlichen Katalog von Leidensgeschichten konfrontiert, mit allen Erzählungen von den Verfolgungen der letzten 1.000 Jahre. Für mich war der 7. Oktober also ein Geschehnis in einer dichten Kette von Geschehnissen. Natürlich hat dieser Tag die gleichen Albträume bei mir ausgelöst wie bei anderen – aber es waren eben alte Albträume. Haben die Menschen, die sagen, der 7. Oktober hätte sie erst richtig zu Juden gemacht, diese Albträume vorher nicht gehabt? Wie haben sie es geschafft, so lange eine jüdische Identität zu besitzen, ohne sich Gedanken über das massenhafte Elend zu machen?Du bist 2014 nach Berlin gekommen. Was zog dich hierher?Ich war zu Besuch in der Stadt und habe Menschen kennengelernt, die auch ultraorthodox aufgewachsen waren. Die haben gesagt, hier ist ein guter Ort für Leute wie uns, um sich zu erholen, sich neu zu erfinden. Außerdem kommt mein Urgroßvater aus München. Also habe ich einen Familiennachweis zum Bundesverwaltungsamt geschickt und die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt.Meine Ururgroßeltern kamen aus Uppsala. Trotzdem wäre ich nie auf die Idee gekommen, dorthin zu ziehen und die schwedische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Bei jüdischen Menschen scheint die Rückkehr zu den eigenen Wurzeln eine andere Rolle zu spielen.Das liegt daran, dass deutsche Juden, deren Nachkommen heute in Amerika, Israel oder sonst wo leben, damals nicht freiwillig ihre Heimat verlassen haben. In ihrer Familiengeschichte blieb ein Verlustschmerz, ein Gefühl, dass man sich nicht verabschieden konnte. Ich würde sagen, das unterscheidet einen deutschstämmigen Juden in der Diaspora von jemandem wie dir, einem Hamburger mit schwedischem Hintergrund.Hat dein Urgroßvater durch die Nazis seine Staatsbürgerschaft verloren?Es ist viel komplizierter! Willst du die Geschichte hören?Ja, bitte.Also, mein Urgroßvater war das uneheliche Kind eines Katholiken, der eine Affäre mit einer jüngeren Jüdin aus dem Schtetl hatte. Die beiden sind 1893 nach München durchgebrannt. Als mein Urgroßvater dann aus dem Ersten Weltkrieg wiederkam, hat er versucht, die bayerische Staatsbürgerschaft zu beantragen. Aber weil seine Eltern nicht verheiratet waren, hat sich das Verfahren jahrelang hingezogen – bis die Nazis an die Macht kamen. Die haben dann gesagt: Du hast mütterlicherseits jüdisches Blut, dem deutschen Volk droht eine Verseuchung, eine Kontaminierung, du bekommst die Staatsbürgerschaft nicht!Du hast, nach einem langen Kampf mit den Behörden, 2017 den deutschen Pass bekommen. Hat sich deine Beziehung zu diesem Land nach dem 7. Oktober verändert?Ehrlich gesagt glaube ich, dass ich nicht mehr weit davon entfernt bin, aus Deutschland abgeschoben zu werden.Bitte? Wieso das denn?Weil die SPD ein Gesetz einführen will, das einem die Staatsbürgerschaft entzieht, wenn man antisemitisch ist. Und als antisemitisch gilt man ja schon, wenn man die rechte israelische Regierung von Benjamin Netanjahu kritisiert. Und das mache ich ziemlich regelmäßig …Ich denke nicht, dass man dich deswegen ausbürgern wird.Wieso? Weil ich eine Person des öffentlichen Lebens bin?Nein. Weil ich nicht glaube, dass es so weit kommt. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo musste seine Antisemitismusklausel doch auch zurückziehen, die alle Kulturbetriebe in der Stadt unterschreiben sollten. Die Empörung darüber, die Leute einem Gesinnungstest zu unterziehen, war einfach zu laut.Vor Chialo hatte ich keine Angst, der wollte die Rechtslage nicht ändern – die SPD schon. Ist dir eigentlich klar, dass ich nur eine bedingte Staatsbürgerschaft habe?Nein. Was heißt das?Dass man mir bei meiner Einbürgerung ein Papier gegeben hat, auf dem steht, dass ich hier wählen darf und alles, aber wenn ich mal konsularische Probleme im Ausland haben sollte, dann hält sich Deutschland raus. Und wenn mir eine Straftat angelastet werden kann, dann verliere ich meine deutsche Staatsbürgerschaft.So was gibt es?Das ist sogar Standard. All meine jüdischen Freunde, deren zweite Staatsbürgerschaft die deutsche ist, haben so ein Papier bekommen. Vor kurzem wurde mir klar, was das heißt. Nicht nur, dass ich wegen Antisemitismus ausgewiesen werden könnte. Stell dir doch mal vor, ich wäre am 7. Oktober in Israel als Geisel gefangen genommen worden: Deutschland hätte mir in diesem Fall nicht geholfen, aus Gaza rauszukommen.Du hast auch noch einen amerikanischen Pass.Ja, der ist nur leider 2022 abgelaufen. Ich habe diese Woche einen Antrag zur Erneuerung gestellt. Sicher ist sicher.Fühlst du dich ausgegrenzt in Deutschland?Es wird versucht, mich auszugrenzen. Aber das ist nicht so einfach. Ich bin immer noch die Autorin von Unorthodox, ich habe eine internationale Bühne.Wer versucht denn, dich auszugrenzen? Die jüdische Gemeinde? Oder die anderen Deutschen?Vor allem zwei Gruppen. Erstens: Menschen, die sich als jüdisch verstehen und aus diesem Grund Israel als zentral für ihr Selbstverständnis wahrnehmen. Die fühlen sich sofort bedroht, wenn Israel kritisiert wird, weil sie fühlen, dass die zentrale Säule ihrer Identität bedroht wird.Wer ist die zweite Gruppe?Diese Menschen in Deutschland, die aufgrund der Geschichte so ein besessenes Verhältnis zu Israel pflegen. Auch wenn Israel von einer jüdischen Perspektive aus kritisiert wird, fühlen sie sich in ihrem Verhältnis verunsichert, wenn nicht sogar angegriffen.Du warst vor kurzem in der Talkshow von Markus Lanz und hast da eine zehnminütige Rede in Richtung des ebenfalls anwesenden Robert Habeck gehalten. Die Quintessenz dieser Rede war: Die einzige Lehre, die aus dem Holocaust zu ziehen ist, ist die bedingungslose Beachtung der Menschenrechte. Egal wann, egal wo, egal um wen es geht. Das war ein sehr beeindruckender Moment.Danke. Es geht mir da auch nicht ausschließlich um Juden und Palästinenser. Die Verantwortung aus der Geschichte ist, sich gegen jeglichen Rassismus einzusetzen und immer für die Menschenrechte zu kämpfen. Denn nur so können wir für eine sichere Gesellschaft für uns alle sorgen. Eigentlich hatten wir uns auf diesen Standpunkt längst geeinigt.In deiner Rede ging es aber auch um die Palästinenser, weil dieser von dir formulierte Menschenrechtsanspruch für die Bewohner des Gazastreifens zurzeit nicht eingelöst wird.Richtig. Aber soll ich dir was sagen? In Wirklichkeit ist mein Einsatz für die Palästinenser total selbstsüchtig. Ich setze mich für die Palästinenser ein, weil ich mich für mich selbst einsetze. Weil ich verstehe: Sobald ich bereit bin, die Herabsetzung einer Gruppe zu dulden, unterschreibe ich mein eigenes Todesurteil. Das ist purer Egoismus.Habeck hat gesagt, er könne zwar verstehen, was du sagst, und er würde das als moralischen Standpunkt auch respektieren. Aber für einen deutschen Politiker gehe es nicht an, sich in Fragen der Sicherheit des Staates über die Position der gewählten israelischen Regierung hinwegzusetzen.Ich habe ihn auch verstanden und zweifle die Nachvollziehbarkeit seiner Position gar nicht an. Aber ich würde gerne etwas näher auf seinen Auftritt bei Lanz eingehen. Denn Habeck war natürlich nicht meinetwegen in die Show gekommen, sondern weil er sich für sein Video gegen Antisemitismus feiern lassen wollte, das er zuvor in den sozialen Netzwerken gepostet hatte. Leider gab es in diesem Video einen wirklich sehr problematischen Satz.Welchen?Er hat zu Muslimen gesagt: Ihr müsst euch klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um euren eigenen Anspruch auf Toleranz nicht zu unterlaufen. Was sollte das heißen? Ja wohl nichts anderes als: Ihr seid alle latente Antisemiten, und nur wenn jeder von euch einzeln davon Abstand nimmt, kann man über eure Rechte in diesem Land noch mal verhandeln. Das ist eine sehr, sehr schädliche Aussage gewesen. Ich bin mir sicher: Die Muslime in Deutschland haben Herrn Habeck hier ganz richtig verstanden.
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