Auszug aus „Die Farbe des Feuers“ von Jakob Augstein: Sternzart duften ihre Blüten
Roman Jakob Augsteins neuer Roman „Die Farbe des Feuers“ rankt sich um ein Anwesen mit Orangenhain in Südfrankreich. Um Liebende und die falsche Hochzeit im Garten eines Industriellen. Und um Sami, der einer ungeheuren Tat beschuldigt werden wird
Vielseitige Zitrusfrucht: Orangen spielen eine zentrale Rolle in Jakob Augsteins Roman „Die Farbe des Feuers“
Foto: Carles Rodrigo Monzo/Stocksy
Heinz Bächle hatte den ganzen Morgen damit verbracht, einen Ast zu verarzten, der in der Nacht zuvor unter dem Gewicht seiner Früchte zusammengebrochen war. Bächle hatte einen Riss festgestellt, der vom Stamm ausgehend mehr als einen halben Meter lang war. Er hatte zunächst den Ast von der Hälfte seiner Last befreit und die Orangen, von denen noch nicht alle reif waren, ein Stück weiter neben einer steinernen Bank ordentlich zu einem kleinen Haufen geschichtet. Um das äußere Ende des Astes legte er eine feste Hanfschlinge und befestigte das Seil in der Krone des Baums. Dann hatte er eine Schnur von mittlerer Stärke sorgfältig in dichten Reihen um das gerissene Holz gewickelt, sodass ein regelrechter Verband aus Hanf entstanden war, unter de
dem der Ast wieder zusammenwachsen konnte. Er war von seiner kleinen Leiter gestiegen und ein paar Schritte zurückgetreten, um mit ein bisschen Abstand den Erfolg seiner Bemühungen besser abschätzen zu können. Für einen Mann seines Alters war das eine mühevolle und langwierige Arbeit gewesen, mit deren Ergebnis er aber sehr zufrieden war.Als er vor beinahe 25 Jahren hierhergekommen war, hatte er den Orangenhain verwildert vorgefunden. Viele der alten Bäume waren krank und verwachsen, manche waren bei der großen Kälte von 1985 gestorben, als die Temperatur in Montpellier tagelang unter minus 10 Grad gelegen hatte. Orangen, Zitronen, Limonen, Bergamotten, Mandarinen, alles musste damals über dem Boden abgeschnitten werden. Aber Heinz Bächle dachte bei sich: „Im Garten gilt das Gleiche wie im Geschäft: Geduld führt zum Erfolg.“ Er beschloss, sich der Auswahl, Anpflanzung und Pflege seiner Orangenbäume mit der gleichen Gründlichkeit anzunehmen, mit der er sich daheim um die Entwicklung neuer Verfahren zur Herstellung technischer Textilien kümmerte.Er trat in Verbindung mit der Ecole Nationale d’Agriculture de Montpellier, wo ein schmaler junger Mann mit angenehmen Gesichtszügen ihm mitteilte, eigentlich sei die Geografie nicht auf seiner Seite. Die Schicksalslinie der Zitrusfrüchte sei der 43. Breitengrad, und Bächles Haus befinde sich ein Stück nördlich davon. Doch der junge Agraringenieur erklärte seinem interessierten Besucher, dass durch die Verbrennung fossiler Brennstoffe und die dadurch ausgelöste Anreicherung der Atmosphäre mit Kohlendioxid ein allgemeiner Klimawandel bevorstehen könnte, der Bächles Vorhaben vermutlich begünstigen würde. Ja, es sei, sagte er, eine „Tropicalisation“ des Südens Frankreichs vorstellbar. Die bislang vorherrschenden USDA Zonen 8a und 8b würden nach Norden wandern und an der Mittelmeerküste würde sich die bislang nur schmale, aber für Bächle interessante Zone 9a verbreitern und den ganzen Golfe du Lion mitsamt seinem Hinterland umfassen, vielleicht stiegen die Temperaturen sogar derart, dass Bächles Garten in den Einzugsbereich der Zone 9b komme.Was seine Orangen angehe, so sagte das damals der Dozent, müsse Bächle also auf den Klimawandel hoffen – er selbst, fügte der junge Mann hinzu, wünsche sich allerdings, dass die internationalen Bemühungen zum Schutz der Erde von Erfolg gekrönt sein würden und die Menschheit sich noch rechtzeitig ihrer sowohl einzigartigen als auch heiklen Position auf einem kleinen bewachsenen Felsen, der im Weltall herumtreibt, bewusst werden würde.Heinz Bächle verstand nichts von der Chemie des Kohlenstoffs. Aber von der Natur des Menschen. Wenn so ein Klimawandel tatsächlich das Ergebnis des menschlichen Gewinnstrebens sein sollte, dachte er damals, dann musste man sich über die Aussichten, ihn aufzuhalten oder gar umzukehren, keine Illusionen machen. Denn Bächle wusste: Der Mensch ist zum Guten zwar fähig, aber nicht geneigt, und ohne rechte Anleitung wird er die anstrengungslosen Güter immer denen vorziehen, die er sich erarbeiten muss.Seine Religion war, wie es sich für einen schwäbischen Ingenieur gehörte, die eines skeptischen Pietismus. Als Sinnbild dieser Lehre ließ er zwei Wege durch seinen weiträumigen Garten bauen, einen breiten und einen schmalen. Wer dem breiten Weg folgte, landete irgendwann am Rand des Grundstücks an einer sumpfigen Stelle, die sich im Dunkel des angrenzenden Waldes verlor. Wer dem schmalen folgte, kam nach einigen Wendungen zur lichten Südterrasse des Hauses. Aber in all den Jahren, die er Eigentümer von La Garrigue war, war nur einem einzigen Menschen dieser sonderbare Umstand aufgefallen – das war sein Gärtner Abd-Sami al Wafi, und der war ein Muslim.Das war für Bächle übrigens ein wichtiger Grund gewesen, ihn überhaupt anzustellen. Er hatte eine Annonce in der Landwirtschaftsschule ausgehängt, und Sami hatte sich beworben. Bächle gefiel der wortkarge junge Mann mit den traurigen Augen, die er selten vom Boden hob. Außerdem hatte er daheim in seiner Fabrik gute Erfahrungen mit dem türkischstämmigen Personal gemacht. Er pflegte zu sagen, dass diese Leute genauso seien, wie die Deutschen früher waren: fleißig, zuverlässig und gehorsam, und weil er diese Eigenschaften ohne zu zögern allen Muslimen zuschrieb, ließ er Sami gleich anfangen. Bächle bezeichnete diese Entscheidung immer wieder als eine der besten seines Lebens und wollte sich auch später davon nicht abbringen lassen. Während seiner von Jahr zu Jahr länger währenden Aufenthalte in La Garrigue verbrachte Bächle manchmal viele Stunden mit seinem Gärtner. Sie besprachen ihre Pläne, sie begutachteten den Fortschritt eines Projekts oder sie arbeiten still Seite an Seite an einem Weg oder in einem Beet.Mit Sami hatte Bächle auch schon früh die Frage der zu erwartenden Auswirkungen einer möglichen Klimaveränderung besprochen. Als gläubiger Muslim vertrat Sami ein eher optimistisches Menschenbild und war der Meinung, die Menschen würden aus einer Mischung aus eigener Einsicht und göttlicher Eingebung heraus das Richtige tun. Bächle hingegen wollte sich nicht einmal auf ihre Unbeständigkeit verlassen. Er hielt buchstäblich alles für möglich. Unter anderem auch, dass die Klimakatastrophe doch noch abgewendet würde. Er beschloss darum, in seinem Garten auch ein paar besonders kältebeständige Orangensorten zu pflanzen, die allerdings in der Gegend bislang kaum verbreitet waren: darunter die Moro Orange, eine kleine runde Blutorange, die an den Hängen des Ätna wächst und im Januar und Februar reift, die man aber bis zum März hängen lassen kann, wenn ihr Saft besonders dunkel sein soll, und die Cara Cara Orange, eine sehr süße Frucht, die sogar erst im Mai zu ernten ist und der man ihre Verwandtschaft zur Pampelmuse ansieht, so rosafarben ist ihr Fleisch.Was die Kälte anging, glaubten Bächle und Sami damit genug getan zu haben. Blieb noch der Wind. Im Frühjahr war der Mistral gefährlich für die Baumblüte und damit für die Früchte, die Bächle ernten wollte. Die beiden überlegten, ob man am nördlichen Rand seines Grundstücks eine Mauer gegen den Wind errichten sollte. Aber sie verwarfen die Idee. Denn eine Mauer würde zwar im Winter und im Frühjahr Schutz vor dem Wind bieten, aber auch die Sonne reflektieren, und das konnte in jeder Jahreszeit zu einem Problem werden. Also pflanzten sie nach Norden hin Zypressen, und zwar in drei Reihen, stille dunkle Bäume, die in gerader Ordnung die bunte Schar fröhlicher runder Orangen- und Zitrusbäume beschützten, die schon nach wenigen Jahren voller Früchte hingen.Denn der Erfolg ihrer Mühen ließ nicht auf sich warten. Ja, er war überwältigend. Im Garten von La Garrigue gediehen Bäume, die man in dieser Gegend noch nie gesehen hatte, darunter die Orange von Blidah, die der Nizza Orange ähnelt, nur etwas kleiner ist, die Orange von Beni-Salah, die kostbar ist, weil sie so langsam wächst, und die Rhobs el Arsa Zitrone, die von den sauren Orangen abstammt. Bächle hatte alles wohlbedacht, aber er wusste, dass der Garten eigentlich Samis Werk war. Und wenn im Sommer die Sonne unnachgiebig über der weiten Landschaft brannte, fragte sich Bächle, warum sie im Garten von La Garrigue die Früchte mit ihren warmen Strahlen nur sanft liebkoste. Und wenn im Frühjahr der Wind wie mit Holzknüppeln auf die Bäume der Nachbarn einschlug, freute er sich, dass er im Garten von La Garrigue nur liebevoll die Baumkronen streichelte. Und wenn doch einmal in einer Winternacht der Frost durch die Gegend zog, beehrte er zwar die umliegenden Gärten, machte aber einen großen Bogen um den Garten von La Garrigue. Es war eigentlich ein Wunder.Aber für Bächle zählte nur, dass die Orangen ihn glücklich machten – und zwar schon seit er sie als Kind zum ersten Mal gesehen hatte. Das war in der Wilhelma in Stuttgart gewesen. Sein Vater war mit ihm dahin gegangen, als der Zoo wieder öffnete. Aber Heinz interessierte sich gar nicht für die Tiere. Er wollte lieber die Pflanzen sehen. Also liefen Vater und Sohn durch das Damaszenerhaus, das als einziges der alten Gebäude im Krieg nicht zerstört worden war und in dem die Reste der früher weithin berühmten Bestände an Orangen und Azaleen aufbewahrt wurden.Es war April, die Bäume blühten, die ganze Weite der maurischen Halle mit ihren schlanken Säulen, mit ihren Kachelmosaiken und ihren hohen alfizgerahmten Fenstern war erfüllt vom süßen Duft der Orangenblüten. Da überfiel den Jungen eine Sehnsucht nach der Schönheit, die ihn danach nie wieder verließ. Er spürte sie jedes Mal in sich pochen wie einen süßen Schmerz, wenn er sich einer der sternzart duftenden Blüten des Orangenbaums näherte.Als er älter wurde, glaubte er, mehr der Kunst zuzuneigen als dem Unternehmertum, und er hatte zunächst gezögert, ob er im väterlichen Geschäft arbeiten sollte und sich damit einer Entscheidung fügen, die nicht er selber gefällt hatte, sondern die gefällt war im Moment seiner Geburt. Aber als ihm die alten Webmeister zum ersten Mal mit Stolz ihre feinen Fantasiegarne zeigten und die kostbaren gemischten Gespinste, war Heinz gleich ganz bewegt. Wie zarte Orangenblüten kamen ihm diese feinen Gewebe vor und die Vorstellung, in ihrer Nähe sein Leben zu verbringen, tröstete ihn über den Lärm der Hallen und die derben Späße der Textilarbeiterinnen hinweg.Bächle wurde ein erfolgreicher Unternehmer. Er begriff früher als andere, dass das neue Jahrhundert das chinesische sein würde. Und niemand in seiner Firma war so vernarrt in schöne Stoffe wie er selbst. Wenn seinen Entwicklern ein außergewöhnlich schönes Fantasiegarn gelungen war, dann ließ sich Bächle ein paar Meter von der Bahn schneiden und wickelte sich fest in das neue Tuch, weil er dessen Eigenschaften am eigenen Leib spüren wollte. Er pflegte zu sagen, der Stoff komme erst durch das Tragen zum Leben und erst in der Bewegung zeige sich seine wahre Güte. Bächle lief dann auf und ab, die Flure zwischen den Büros entlang, das alte Treppenhaus hinunter, über einen der weitläufigen Höfe, durch Wind und Wetter zu den großen Werkhallen, an den Materiallagern und Maschinen vorbei, und die Beschäftigten hielten nur kurz mit ihrer Arbeit an und sahen dem alten, in bunte Stoffe eingewickelten Mann hinterher.Placeholder infobox-1
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