Kapitalismuskritiker Joseph Vogl: „Liberale denken oft, es wird schon alles wieder werden“
Interview Klima, Krieg, Flucht, Pandemie – der Begriff „Krise“ hat sich erledigt, sagt der Kapitalismuskritiker Joseph Vogl. Wieso er zu einem pessimistischen Realismus im 21. Jahrhundert rät, erklärt er hier im Gespräch mit Jakob Augstein
Joseph Vogl am 22. Mai 2023 im Literaturhaus Berlin
Foto: Philipp Plum für der Freitag
Ein Begriff geistert durch die Feuilletons: Polykrise. Die eine Schieflage ist noch nicht gemeistert, da kündigt sich die nächste an. Erst der Finanzcrash 2008, dann der Syrien-Krieg, vor dem viele Menschen nach Europa flüchteten. Auch die Pandemie war noch nicht beendet, da marschierte Russland in die Ukraine ein. Wie entkommen wir dem Teufelskreis, wo eine Katastrophe die nächste jagt? Joseph Vogl spricht mit Jakob Augstein über eine Welt im Dauerstress.
Jakob Augstein: Lieber Joseph Vogl, im „Spiegel“ wurde über einen 19-jährigen Aktivisten von Fridays for Future berichtet, der sagt: „Wir wollen einfach in einer Gesellschaft leben, in der nicht ständig eine Krise auf die andere folgt.“ Was würden Sie dem jungen Mann sag
Spiegel“ wurde über einen 19-jährigen Aktivisten von Fridays for Future berichtet, der sagt: „Wir wollen einfach in einer Gesellschaft leben, in der nicht ständig eine Krise auf die andere folgt.“ Was würden Sie dem jungen Mann sagen, wenn er Ihr Sohn wäre?Joseph Vogl: Auch wenn er nicht mein Sohn wäre, müsste ich ihm sagen, dass er sich an solche Zumutungen gewöhnen sollte, aus psychohygienischen Gründen. Einerseits. Andererseits sollte er auch schleunigst sein Unterscheidungsvermögen schärfen und aus dem Krisenpotpourri alles herauskürzen, was den Namen nicht verdient. Es gibt keine Ukraine-Krise, sondern Krieg. Es gab keine Corona-Krise, sondern eine Seuche oder Pandemie, auf die man irgendwie reagieren musste. Und die so genannte Flüchtlingskrise ist schlicht ein Desaster, nämlich für die Flüchtenden.Wie blicken Sie denn auf die aktuellen Krisen?Wenn man denn an diesem Titel festhalten will: eher düster. Das allerdings mit unterschiedlichen Schattierungen.Dunkel-, mittel- und helldüster?Je nachdem. Der Ausdruck „Krise“ ist ja zu einem Bindestrichwort geworden: Klima-Krise, Wirtschafts-Krise, Energie-Krise, Schulden-Krise, Nahost-Krise, Midlife-Crisis. Dabei funktioniert der Krisenbegriff als handlicher Je-nachdem-Macher, der die verschiedensten Dinge auf denselben Nenner bringt und sie damit im Grunde bagatellisiert. Wer heute „Krise“ sagt, meint irgendwie auch: Es wird schon wieder werden. Und besonders attraktiv ist die Vorstellung von Krisen auch deshalb, weil sie persönliche Unpässlichkeiten mit dem Weltgeschehen verknüpfen kann. Die eigene Lebenszeit wird bedeutsam und lässt sich in den Maßstab der Weltzeit übersetzen.„Die Liberalen stellen sich den Geschichtsverlauf vor, als sei er ein Markt, der sich schon irgendwann wieder selbst reguliert. Aber sind sie deswegen furchtlos? Nein, sie haben auch Angst – und zwar vor Linken! Da können sie laut oder weinerlich werden“Der Harvard-Historiker Niall Ferguson behauptet, wenn wir „Krise“ sagen, meinen wir Geschichte. Überhaupt haben die Liberalen weniger Angst als die Linken.Die Liberalen haben doch recht viel Angst – nämlich vor den Linken! Da können sie laut oder weinerlich werden. Dabei sollte man nicht vergessen, dass für Liberale wie Ferguson Geschichte ungefähr so wie der Markt abläuft. Zwar gibt es dort Konjunkturschwankungen, Störungen, Krisen oder sogar Chaos. Aber alles wird wieder gut, wenn man den Markt nur machen lässt. Der Lauf der Geschichte fordert eben Opfer, genau wie das fröhliche Marktgeschehen.Sie haben in einem Buch Guido Westerwelle zitiert, der nach der Finanzkrise 2008 gesagt hat, man müsse die Verwerfungen nutzen, um die ohnehin notwendigen Reformen durchzusetzen. Das denkt Robert Habeck auch.Wo ist der Zusammenhang?Habeck begreift die aktuelle Krise als Chance zum schnelleren Rückzug aus den fossilen Energien: Wegen des Ukraine-Kriegs wird Energie teurer, da können wir dann schnell viele Wärmepumpen einbauen.Der Vergleich hinkt.Finde ich nicht. Wer den Hebel in der Hand hat, kann in krisenhaften Momenten das durchsetzen, was er sowieso vorhatte.Der Vergleich hinkt nicht nur, er hat auch keine Beine. Westerwelle hatte einfach Milton Friedman zitiert: Jede Finanzkrise ist eine gute Gelegenheit, um lästige Regelungen loszuwerden – mehr Privatisierung, Steuersenkungen, Abbau von Arbeitnehmerrechten. Die Gründe für den Crash, die Finanzmärkte, blieben unbehelligt. Im gegenwärtigen Wirtschaftsministerium geht es dagegen darum, die Abhängigkeit von fossiler Energie zu reduzieren, also die Ursachen von Energieknappheit und Klimaveränderung zu bekämpfen.Kann man den Begriff der Krise benutzen, ohne eine dahinterstehende Ideologie zu haben?Placeholder authorbio-1Nur selten. Nehmen Sie so genannte Finanzkrisen als Beispiel und Passepartout. Die Tatsache, dass man den Kollaps von 2008 als Finanz- und Bankenkrise ausgerufen hat, enthält einen harten ideologischen Kern. Damit sollte nämlich suggeriert werden, dass man es mit einer Abweichung, mit einer Anomalie, mit etwas höchst Ungewöhnlichem zu tun hat ...Obwohl der Kapitalismus dauernd in der Krise ist.Ja. Denken Sie an die Serie solcher Ereignisse: an den Börsenkrach am Schwarzen Montag im Oktober 1987. Oder an die Asien-Krise 1990, von der sich Japan zwei Jahrzehnte lang nicht erholt hat. An das Rentenmarktdebakel von 1994, die Russland-Krise von 1998, das Platzen der Dotcom-Blase im Jahr 2000. Tatsächlich haben pedantische Zählungen seit den 1970er Jahren weltweit mehrere hundert solcher Banken- und Währungskrisen registriert.Worauf wollen Sie hinaus?Darauf, dass sich der Begriff der Krise wohl erledigt hat – zumindest auf dem Gebiet der Finanzökonomie. Er beschreibt dort keinen konzisen oder spezifischen Zusammenhang mehr. Die Krise ist stationär, und man müsste eher von der strukturellen Instabilität des Systems sprechen.Ist ein System, das stabil instabil ist, nicht irgendwie auch stabil?Nur im Kalauer. In der Wirklichkeit ist es schädlich, in volkswirtschaftlicher Hinsicht. Das konnte man nach der Eurokrise 2010 und 2011 sehen, wo die Lasten und Kosten konsequent von oben nach unten umverteilt wurden. Die Supercitizens, die herumjettenden Überbürger, haben sich noch stärker von den erdschweren Staats- oder Unterbürgern separiert.„Ich würde nicht von Klimakrise sprechen, sondern von einer Klimakatastrophe. Man muss sich schließlich nicht mehr über Symptome streiten, man hat greifbare Tatsachen zur Hand: Dürren, Flutkatastrophen und Waldbrände“Damit wären wir bei der Klimakrise …Die ja wohl eher eine Klimakatastrophe ist. Denn was bedeutet „Krise“? In der antiken Medizin, etwa bei Hippokrates, meinte „Krise“ eine Phase der Entscheidung, in der sich eine Krankheit zum Besseren oder zum Schlimmsten, also zum Tod wendet. In dieser Zeit muss man genau auf Symptome achten, um die richtigen Maßnahmen zu treffen. Was Klimaveränderungen betrifft, hat man diese Zeit bereits verstreichen lassen. Man muss sich nicht mehr über Symptome streiten, man hat bereits greifbare Effekte und Tatsachen: Dürren, Flutkatastrophen, Waldbrände, Gletscherschmelze.Welche Rolle spielt die Apokalypse im westlichen Denken?Sie ist eine der beliebtesten und ärgerlichsten Geschichtsdeutungen, voller Ressentiments. In der Apokalypse, das heißt, in der Offenbarung des Johannes, meinte krisis das Gottesgericht, angetrieben vom Zorn Gottes. Zuerst werden die Plagen angekündigt, dann werden die Feinde des rechten Glaubens vernichtet, ein Exzess von Grausamkeiten, dann kommt das Tausendjährige Reich Jesu Christi auf Erden, dann der letzte Schlag, die Vernichtung der Welt.In dieser Zeit vor dem Jüngsten Gericht spielt sich ab, was Ferguson Geschichte nennt?Das weiß ich nicht. Aber liberale Geschichtsvisionen spielen häufig mit einem apokalyptischen Ton, mit dem man Sehertum und eine gewisse Deutungshoheit beansprucht: Ihr werdet schon spüren, was passiert, wenn ihr von der reinen Lehre abfallt! Und wenn man dann über das Ende der Geschichte fantasiert, wie es Francis Fukuyama Ende der 1980er getan hat, dann ist damit zwar nicht ein himmlisches Jerusalem, aber wenigstens ein endgültiger und universeller Kapitalismus gemeint. Danach kommt nichts mehr.Und der wird uns unweigerlich ins Verderben führen?In den 1930er Jahren hatte Walter Benjamin geschrieben: „Dass es so weitergeht, ist die Katastrophe.“ Das war gegen den apokalyptischen Ton gerichtet und gegen die Ausmalung eines irgendwie bevorstehenden Verderbens. Und es war mit dem Appell verbunden, praktisch zu werden, hier und jetzt.Und, wie sollen wir das hinbekommen?Ein paar zaghafte Vorschläge, eine unabgeschlossene Liste: die Häme gegen Aktivistinnen und Aktivisten mäßigen; die Kampagnen nicht unterschätzen, die von der Bild-Zeitung über Industrielobbys, CDU und FDP bis hin zur AfD reichen und sich gegen „Heiz-Stasi“ oder „Heiz-Hammer“ richten; sich der Unbequemlichkeit aussetzen, die ein nüchterner Pragmatismus mit sich bringt, ein Pragmatismus im wörtlichen Sinn, der sich auf Gegebenheiten und Sachen, auf Handlungen und auf die Folgen von Handlungen bezieht.Mir macht die Vorstellung Unbehagen, politische Entscheidungen zu treffen, deren Erfolg sich erst in Hunderten Jahren zeigt. Beim Streit um die atomare Endlagerung ist der Zeitraum, den wir in den Blick nehmen, noch viel länger als bei Klimafragen. Das sprengt doch das menschliche Maß, oder?Kommt auf die Erziehung an. Meine mehr oder weniger bürgerliche Erziehung hat mir angeraten, den von mir selbst produzierten Abfall auch selbst wegzuschaffen, alles andere wurde unanständig genannt. Jedenfalls würde ich nicht auf die Idee kommen, meinen Wohnungsmüll im Treppenhaus endzulagern.Aber die Zukunft ist nicht vorhersehbar. Der Club of Rome hat prophezeit, dass in den 1990er Jahren das Erdöl versiegt sein würde. Und heute sprudelt es noch immer.Und was soll das heißen? Dass es tatsächlich unendlich lang sprudeln wird? Dass man verheizen soll, was noch verheizbar ist? Und dass uns der Rest nichts angeht, weil wir Gott sei Dank vorher tot sein werden?„Während Corona sollten Wissenschaftler verlässliche Prophezeiungen bieten. Das war ein falsches Verständnis von Wissenschaft: Die operiert nicht mit endgültigen Gewissheiten, sondern mit offenen Ausgängen“Nein. Aber Wissenschaft ersetzt bei uns mittlerweile die Religion als Glaubenssystem und Wahrheitslieferant. Wir haben bei Corona gesehen, dass das problematisch sein kann.Ja, das mag sein. Während der Pandemie sind tatsächlich die seltsamsten Vorstellungen von Wissenschaft und Wissenschaftlichkeit verbreitet worden: Wissenschaften müssten endgültige Gewissheiten schaffen, sie müssten verlässliche Prophezeiungen bieten, alle Zweifel beseitigen, eindeutige Handlungsanweisungen liefern. Und wenn sie das nicht leisten können, seien sie nichts wert: Solche Haltungen sind im Grunde vergleichbar mit dem Realitätsverhältnis von Psychotikern. Stattdessen muss man wohl konzedieren, dass wissenschaftliche Forschung mit offenen Ausgängen operiert, mit Umwegen und Irrtümern rechnet, manche Ergebnisse revidiert und Sachverhalte oft nur mit Fehlertoleranzen und Wahrscheinlichkeitsgraden konstatieren kann. Die Feindseligkeit gegenüber Wissenschaftlern war von recht idiotischen Phantasmen über Wissenschaft inspiriert.Also müssen wir nur auf die Prognosen der Klimaforscher hören – und dann wir sind gerettet?Ich plädiere für einen pessimistischen Realismus. Tierarten sind verschwunden, das Arktis-Eis wird nicht zurückfrieren. Andere Prozesse sind nach wie vor offen: Man wird in Vietnam im Frühjahr 45 Grad haben. Aber man wird lernen, damit zu leben.