Ein Jahr an der Regierung, hat Giorgia Meloni sich und ihre Fans mit einem weiteren Buch beschenkt. La versione di Giorgia (Giorgias Version) heißt das 270 Seiten starke Werk, das an ihren Bestseller Io sono Giorgia (Ich bin Giorgia) von 2021 anschließt, der zur damals anstehenden Wahlkampagne erschien. In den europäischen Leitmedien wird Melonis Realpolitik seit ihrer Vereidigung am 22. Oktober 2022 überwiegend als erstaunlich pragmatisch und „unideologisch“ bewertet. Die Regierungen der westlichen Partnerstaaten scheinen zufrieden, die Befürchtung, Italien unter Meloni könnte durch mangelnde Bündnistreue auffallen oder gar „russlandfreundlich“ agieren, erwies sich als gegenstandslos. Meloni liefert Waffen an die Ukraine und zeigt sich mit Vorliebe an der Seite Ursula von der Leyens, um EU-Antimigrationspolitik zu betreiben. Rhetorische Ausbrüche, etwa wegen finanzieller Hilfen Deutschlands für Seenotretter, dienen zur Profilierung gegenüber dem eigenen Anhang.
Das gilt auch für ihr neues Buch, das von einflussreichen Multiplikatoren sehr positiv aufgenommen wird. Dabei sind die ihrer Tagespolitik angehefteten fragwürdigen Attribute – moderat, pragmatisch, unideologisch – völlig ungeeignet, um darin festgehaltene Glaubenssätze zu beschreiben. Entstanden ist es in Kooperation mit einem langjährigen Freund, dem Journalisten Alessandro Sallusti, der Meloni nach ihrem Amtsantritt mehrfach interviewt hat. Herausgekommen ist eine Präsentation ideologischer Grundpositionen, an denen sich mit dem Regieren offenbar nichts geändert hat. Meloni findet, dass allenfalls ihr Ton ein anderer geworden sei – das Amt und die stete öffentliche Aufmerksamkeit verlangten Zugeständnisse, zumal die von links dominierten Medien nicht nur gegen sie, sondern überhaupt zutiefst unfair seien: jede Menge Fake News, um sie und die gesamte Rechte zu dämonisieren. So würden, nicht nur in Italien, die Menschen von links indoktriniert, und das mindestens seit dem verhängnisvollen Jahr 1968. Dessen schlimmste Langzeitwirkung zeige sich in der Abkehr vom Leistungsprinzip.
Allgemeine Amnesie
Für Meloni dagegen ist Arbeit ein Wert an sich. Aus einfachen Verhältnissen stammend, musste sie mit Tatkraft durchhalten, um es nach oben zu schaffen. Dort angekommen, bringe sie weiter täglich Opfer – für die „Nation“, ihr inflationär gebrauchtes Lieblingswort. Manchmal wird es ersetzt durch „Vaterland“. Beides Vokabeln, die sie mit Bedacht und in Abgrenzung zur „unpatriotischen Linken“ verwendet. Es sei „kein Zufall, dass die Linke von ‚Land‘ spricht und nicht von ‚Nation‘ oder ‚Vaterland‘. Die Bedeutung des Wortes ‚Vaterland‘ ist: ein Territorium, das von einem Volk bewohnt wird und dem sich jedes seiner Mitglieder durch Geburt, Sprache, Kultur, Geschichte und Traditionen zugehörig fühlt“.
Damit bleiben Zugewanderte, die seit vielen Jahren in Italien leben, aus der nationalen Gemeinschaft ausgeschlossen. Um zu begründen, dass ebendiese Zuwanderung eine massive Bedrohung darstelle, bedient sich Meloni beim Standardrepertoire der identitären Rechten, dem Narrativ vom planmäßig betriebenen Bevölkerungsaustausch. Darüber hatte im April auch ihr Parteifreund, Landwirtschaftsminister Francesco Lollobrigida, schwadroniert und damit eine heftige Debatte ausgelöst. Die Polemik gegen ihn habe sie irritiert, so Meloni. Minister Lollobrigida, der zugleich ihr Schwager ist, habe doch nur Italien schützen wollen, „vor dem Risiko eines Bevölkerungsaustauschs“. Dass es sich dabei nicht um eine rechte Verschwörungsfantasie, vielmehr um einen systematisch betriebenen Plan handelt, um Italiens „nationale Identität“ zu zersetzen, davon gibt sich Meloni überzeugt.
Melonis Verhältnis zum historischen Faschismus thematisiert der Interviewer in La versione di Giorgia nur widerwillig. Er „komme nicht umhin“, diese Frage zu stellen. Meloni antwortet auch hier mit einem Angriff auf die Linke. Diese habe, anders als „wir“, die eigene Vergangenheit nicht aufgearbeitet. An anderer Stelle, in Claudio Sabelli Fiorettis 2022 erschienenem Büchlein Giorgia on my mind, hatte sie Mussolini ganze drei „Irrtümer“ angelastet: die Abschaffung der Demokratie, die antisemitischen Rassengesetze von 1938, das Bündnis mit Nazi-Deutschland. Die schlimmsten faschistischen Gewalttaten hingegen kommen in Melonis Geschichtsbild nicht vor: der Kolonialkrieg 1935/36 in Äthiopien, ein Genozid mit Einsatz von Giftgas gegen die Zivilbevölkerung; die Intervention im Spanischen Bürgerkrieg; ab 1940 die Feldzüge in Jugoslawien, Griechenland, Nordafrika und der Sowjetunion; der Terror gegen die eigene Bevölkerung an der Seite der deutschen Besatzungsmacht zwischen 1943 und dem Kriegsende; die Mittäterschaft bei der Deportation in Italien lebender Juden.
Melonis Amnesie ist kein Alleinstellungsmerkmal der extremen Rechten, sondern seit Jahrzehnten auch in der „Mitte“ der italienischen Gesellschaft anzutreffen. Wer, wie die Partisanenvereinigung ANPI, die historische Wahrheit verteidigt, muss mit Gegenwind rechnen. Der dürfte demnächst noch zunehmen, weil die regierende Rechte auch die öffentlich-rechtlichen Medien sowie Kulturinstitute durch neues Personal in der Führungsebene unter Kontrolle zu bringen sucht. In der Wirtschaftspolitik schließlich hält sich Meloni an Margaret Thatchers Credo eines von staatlichen Eingriffen freien Unternehmertums.
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