Giorgia Meloni war gut vorbereitet, als sie Ende Juli während ihres Staatsbesuchs in den USA zum Interview bei Fox News vorbeischaute. Eines ihrer Themen: der eigene Erfolg, während die europäischen Linke im Krisenmodus verharrt. „Der große Unterschied zwischen den Konservativen und den Linken besteht darin, dass wir uns um die Realität kümmern“, meinte sie. Die Linke wolle dagegen „eine andere Welt als die, in der wir leben“. Unter ihrer Regierung verzeichne Italien ein höheres Wirtschaftswachstum als Deutschland und andere EU-Länder; kurzum: „Die Dinge laufen gut.“
Melonis politische Gegner in Italien gaben den Vorwurf der Realitätsverweigerung gern zurück. Das Selbstlob der Regierungschefin sei völ
ng gern zurück. Das Selbstlob der Regierungschefin sei völlig unbegründet, auch weil mit der Rezession in Deutschland die Nachfrage nach italienischen Produkten zurückgehe. Vor allem aber verschließe Meloni die Augen vor der tiefen sozialen Krise im eigenen Land.Protest vor der SozialbehördeTage später wurde das offensichtlich. Auslöser für viel Kritik war die Entscheidung der Regierung, etwa 169.000 Haushalten das ohnehin kärgliche „Bürgereinkommen“ (reddito di cittadinanza) zu streichen. Was besonders empörte – den Betroffenen wurde das Ganze per SMS oder Mail mitgeteilt. Absender war die staatliche Sozialbehörde INPS, die daraufhin in etlichen Städten zum Ziel spontaner Protestaktionen wurde. Geleitet wird sie von Maria Elvira Calderone, gleichzeitig Ministerin für Arbeit und Soziales. Unter massivem Druck räumte Calderone Mängel in der Kommunikation ein, verteidigte aber die von der Regierung getroffene Entscheidung.Anfang Januar 2024 soll das Bürgereinkommen ganz entfallen. Bei seiner Einführung 2018 – maßgebend dafür war die mit der Lega regierende Fünf-Sterne-Bewegung – tönte deren damaliger Chef Luigi Di Maio, damit werde in Italien „die Armut abgeschafft“. Das war offensichtlich gelogen, denn es gab monatlich höchstens 780 Euro für maximal zwei Jahre. Die Bezieher waren außerdem zu unentgeltlicher „gemeinnütziger“ Arbeit verpflichtet. Wenn sie drei angebotene Jobs abgelehnt hatten, wurde die Unterstützung umgehend gestrichen.30 Euro Lohn für zehn Stunden ArbeitFür viele war und ist diese Zulage überlebenswichtig, was vorrangig für den von Armut betroffenen Süden des Landes gilt – dort hauptsächlich für Frauen und ältere Menschen, aber auch junge. Letztere finden am ehesten noch einen zeitlich begrenzten, schlecht bezahlten Job in der Gastronomie. Immerhin ist nun die Diskussion über einen staatlich garantierten Mindestlohn neu entbrannt. Die Oppositionsfraktionen fordern neun Euro die Stunde – das ist wenig, aber immer noch mehr als in den traditionell unterbezahlten Sektoren üblich. Viele migrantische Tagelöhner in der Landwirtschaft erhalten gerade einmal dreißig Euro für einen zehnstündigen Arbeitstag.Die Regierung lehnt jede Art von Mindestlohn ab und verweist auf die Tarifautonomie. Jedoch nicht überall sind Löhne und Arbeitszeiten zwischen Unternehmen und Gewerkschaften vertraglich geregelt. Oder es werden „Piratenverträge“ geschlossen, die lediglich Hungerlöhne garantieren. Daran hat auch die heutige Opposition ihren Anteil.Matteo Renzi schleifte den KündigungsschutzSo wurde 2015 unter dem Mitte-links-Kabinett von Matteo Renzi der Kündigungsschutz stark eingeschränkt. Renzis neoliberales Gesetzespaket „Jobs Act“ diktiert bis heute die Regeln eines kaltblütig liberalisierten Arbeitsmarkts. Viele Menschen mit akademischer Bildung können nur auf prekäre Jobs hoffen, etwa an den Schulen. Dort werden mit dem neuen Schuljahr ab September 150.000 befristet Beschäftigte arbeiten. Nach Berechnungen der Gewerkschaft Bildung und Wissenschaft (FLC CGIL) fehlen allerdings immer noch 85.000 Lehrkräfte.Angesichts solcher Zustände ist die regierende Koalition auch mit Kritik aus den eigenen Reihen konfrontiert, zumindest in den Kommunen, die wachsendes soziales Elend verwalten müssen. Die Opposition präsentiert Vorschläge, um die Staatseinnahmen zu erhöhen, sie will, dass mehr gegen Steuerhinterziehung geschieht und Extraprofite besteuert werden, etwa von Energiekonzernen und Gesundheitsunternehmen, die während der Pandemie Reichtümer anhäuften. Angekündigt hat Melonis Regierung nun eine Übergewinnsteuer für Banken. Angetreten ist sie mit dem Versprechen, die „kleinen Leute“ zu schützen, stattdessen mussten die abhängig Beschäftigten bei einer offiziellen Inflation von sechs Prozent in den vergangenen zwei Jahren einen Kaufkraftverlust von zehn Prozent hinnehmen.Wenn Kabinettsmitglieder überhaupt ökonomische oder soziale Defizite einräumen, dann sind fremde Mächte dafür verantwortlich, etwa die Europäische Zentralbank, die mit Zinserhöhungen Italiens Ökonomie belaste. Infrastrukturminister und Vizepremier Matteo Salvini von der Lega verhöhnt die Armen noch zusätzlich – die Abschaffung des Bürgereinkommens richte sich vorzugsweise gegen 30-jährige Faulenzer, die sich bei den Eltern auf dem Sofa räkeln, statt zu arbeiten.Was die Linke Elly Schlein sagtGiorgia Meloni wiederum verweist nicht nur auf die florierende heimische Wirtschaft, sondern auch auf Italiens gewachsene Bedeutung in der internationalen Politik, man sei anerkannte Größe in der „westlichen Wertegemeinschaft“, besonders beim Ausbau einer europäischen Migrationsabwehr. Meloni in Tunesien an der Seite Ursula von der Leyens bei Deals mit dem dortigen Regime – solche Bilder mögen die rechte Klientel begeistern. Ob sie auf Dauer reichen, Meloni die immer noch stabilen persönlichen Umfragewerte zu erhalten, muss bezweifelt werden. Damit ist nicht gesagt, dass die Opposition von wachsendem Unbehagen profitiert. Große Teile des Partito Democratico (PD) wie auch der Fünf Sterne sehen keinen Grund, das eigene Regierungshandeln zurückliegender Jahre selbstkritisch zu bewerten. Anders PD-Generalsekretärin Elly Schlein. „Zivile und soziale Rechte sind untrennbar verbunden. Wer sie gegeneinander ausspielt, will beides nicht“, sagte sie der linken Tageszeitung Il Manifesto. Damit kritisierte sie nicht nur die Regierung, sondern ermahnte zugleich die eigene Partei.