Mehr steckt nicht dahinter

Künstliche Intelligenz Peter Reichls „Bericht aus Digitalien“ ist ein fachlich solides, launiges Traktat in guter aufklärerischer Tradition
Ausgabe 42/2023
Die Digitalisierung schreitet voran – ChatGPT ist nur ein Anfang
Die Digitalisierung schreitet voran – ChatGPT ist nur ein Anfang

Foto: Chris McGrath/Getty Images

ChatGPT weiß Bescheid. Zumindest hat es den Anschein, fragt man die inzwischen allgegenwärtige „künstliche Intelligenz“ nach dem Inhalt von Max Frischs Homo faber (1957): „Der Roman beschäftigt sich mit verschiedenen Themen, darunter die Technisierung der Welt, die Entfremdung des Individuums in der modernen Gesellschaft und die Suche nach Identität und Sinn im Leben.“ Dass sich die literarischen Kenntnisse unserer virtuellen Gesprächspartnerin auf Allgemeinplätze beschränken, merkt man allerdings, wenn es konkret wird. Denn plötzlich „weiß“ ChatGPT von einer Romanfigur namens Joachim Feldmann und ihrer Beziehung zum Protagonisten Walter Faber zu berichten. Zugegeben, die vorhergehende Frage war von mir nicht ganz fair gestellt, aber in der Kommunikation mit computergenerierten Intelligenzen sollten Tricks erlaubt sein.

Das wird sich auch der Mathematiker Peter Reichl gedacht haben, als er ChatGPT nach dem kürzesten Weg von seinem Büro im 9. Wiener Bezirk zur Pädagogischen Hochschule in Linz, wo er einen Vortrag halten sollte, fragte und die abenteuerlichsten Auskünfte erhielt. Was ihn nicht verwunderte. Denn „ChatGPT halluziniert aus Prinzip, immer und überall, und deshalb kann und sollte man sich darauf nicht, niemals und nirgendwo verlassen“. Das sind klare Worte, die einen guten Eindruck von Reichls kleiner Streitschrift Homo cyber vermitteln. Denn dem Professor an der Fakultät für Informatik der Universität Wien geht es um Grundsätzliches, nämlich die „Frage nach dem Menschen“. Dass sein Buchtitel auf Max Frischs Roman anspielt, ist deshalb nur folgerichtig. Schließlich wird am Beispiel des misogynen Ingenieurs Walter Faber, der sich scheinbar ahnungslos und technikgläubig in eine Schicksalstragödie antiken Ausmaßes verstrickt, nichts Geringeres als die Identität des Menschen im technischen Zeitalter verhandelt.

Er besitzt kein Smartphone

Da lag ChatGPT richtig. Oberflächlich betrachtet. Dass Reichl der Software nicht über den Weg traut, hat allerdings weniger mit solchen Stichproben als mit ihrer Funktionsweise zu tun. „ChatGPT würfelt für jedes Wort, das es ausspuckt, aus der Menge der verfügbaren Wörter eines aus, das in einer ähnlichen Situation wahrscheinlich ebenfalls fallen würde – mehr steckt nicht dahinter.“ Und doch flößt sie dem „Homo cyber“ Respekt ein. Mit Absicht. Selbst das bewusst langsame Generieren von Antworten geschehe nicht „aus technischer Notwendigkeit heraus, sondern solle vielmehr suggerieren, dass die KI tatsächlich über etwas nachdenkt und es erst danach Stück für Stück hinschreibt“. Skepsis ist also mehr als angebracht. Diese durch die Vermittlung von Sachkenntnis zu fördern, ist ein Hauptanliegen des Autors.

Deshalb beginnt seine Geschichte der Informatik auch vor genau 400 Jahren, als der deutsche Astronom, Sprachkundler und Mathematiker Wilhelm Schickard (1592 – 1635) eine erste digitale Rechenmaschine konstruierte. Ihm folgten Blaise Pascal (1623 – 1662) und Gottfried Wilhelm Leibniz (1646 – 1716), der vierzig Jahre seines Lebens auf die Entwicklung einer Apparatur verwandte, die alle Grundrechenarten beherrschte. Anschaulich und beflügelt von einem sympathischen Enthusiasmus erklärt der Autor die Funktionsweise dieser historischen Maschinen, nicht zuletzt, um die atemberaubenden Rechenleistungen ihrer elektrifizierten Nachfolger, die unseren Alltag bis in kleinste Verrichtungen wie den Erwerb eines Straßenbahntickets prägen, zu entmystifizieren. Zurückdrehen lässt sich diese Entwicklung nicht, das ist auch Peter Reichl bewusst. Dass er selbst kein Smartphone besitzt, um sich gegen zeitraubende „Online-Versuchungen“ zu wappnen, erklärt er zur individuellen Entscheidung eines privilegierten Hochschullehrers. Besorgt ist er dennoch. Und zitiert ausführlich aus dem „Versuch der Formulierung eines universellen hippokratischen Eides“, mit welchem der Philosoph Günther Anders 1963 angesichts von Hiroshima und Nagasaki eine Ingenieursethik begründen wollte. Dass ein solcher Eid auch für die Informatik sinnvoll wäre, ist Reichls Überzeugung.

Reichls Bericht aus Digitalien (so der Untertitel) ist ein philosophisch grundiertes, fachlich solides Traktat in guter aufklärerischer Tradition, launig formuliert, unterhaltsam und instruktiv. Gelegentliche Albereien inklusive. Der Homo cyber täte nicht schlecht daran, dieses ihm gewidmete Büchlein aufmerksam zu lesen.

Homo cyber. Ein Bericht aus Digitalien Peter Reichl Müry Salzmann 2023, 175 S., 19 €

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