Die Hüter der einen „Wahrheit“

Bildungspolitik in Polen. Die vereinigte Rechte versucht mit neuen Zentralisierungsmaßnahmen im Schulwesen, neuen Lehrplänen, dem Abbau der politischen Bildung und der Einführung eines neuen Fachs für jüngste Geschichte eine ganze Generation ideologisch zu formen

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Die Hexen ziehen gegen die Reformen des polnischen Bildungsministers Przemysław Czarnek
Die Hexen ziehen gegen die Reformen des polnischen Bildungsministers Przemysław Czarnek

Foto: Imago / NurPhoto

„Wir müssen alles tun, um sicherzustellen, dass die jungen Generationen die Wahrheit über die jüngste Geschichte erfahren“, sagte Przemysław Czarnek, Minister für Bildung und Wissenschaft am 14. Juni zu den versammelten Lehrkräften, die aus ganz Polen nach Warschau angereist waren.

Um „die Wahrheit“ über die Ereignisse in Polen und der Welt zwischen 1945 bis 2015 zu vermitteln führt die regierende vereinigte Rechte ab September das neue Fach „Geschichte und Gegenwart“ an Mittelschulen ein. Der Bildungsminister nutzte das Outdoor-Event in Warschau um die Dringlichkeit dieser Maßnahme erneut zu unterstreichen. Denn die Unterstützung des russischen Volkes für Putin und den Krieg käme nicht von ungefähr, sondern sei das Ergebnis eines Mangels an Wissen über die jüngsten historischen Prozesse, sagte Czarnek um gleich darauf eine Parallele zum eigenen Land zu ziehen. So seien sich, zumindest in den Augen des Bildungsministers, ebenfalls ganze Generationen von Polen ihrer eigenen jüngsten Geschichte nicht bewusst und seien somit für jede Manipulation empfänglich.

Das Museum der sog. „Verstoßenen Soldaten“ und politischen Gefangenen der Volksrepublik Polen diente als Kulisse des Events, an dem Minister Czarnek während seiner Rede nicht nur die kritische Geschichtsforschung seines Landes diffamierte sondern an dem er sagte:Diejenigen, die sich Liberale nennen, haben mit der Freiheit so viel gemeinsam wie diejenigen, die hier die Infanterie ermordet haben, sie hassen die Wahrheit und die Tatsache, dass jemand über die Wahrheit sprechen will.“ Das Framing aller Kritikerinnen und Oppositionellen als Feind und alles Böse, durch Vertreter der regierenden Parteien, darf Beobachter der Politik in Polen kaum überraschen.

Bildungsminister Przemysław Czarnek will gegen die linksliberale Diktatur kämpfen

Bereits bei seinem Amtsantritt im Bildungsministerium vor zwei Jahren, rief Minister Czarnek unverblümt „den Kampf gegen die Diktatur der linksliberalen Ansichten“ aus. Seinen Ruf als ultrakonservativer Hardliner hat er sich bereits davor mit vielen kontroversen Aussagen erarbeitet. Unter anderem sagte er, Angehörige der LGBT+ Community wären „keine Menschen, sondern bloß Ideologie“, die „gottgegebene Berufung der Frauen wären Kinder und nicht Karriere“ und Menschen mit linken Ansichten bezeichnete er als „Plage des Neomarxismus“, also „all das Böse“, das die Kultur und die christliche Gemeinschaft sowohl in Polen als auch in Westeuropa „angreife“. Was Assoziationen mit antiwestlicher Kreml-Rhetorik hervorruft, ist real stattfindender Einfluss radikal-konservativer Ideen auf die Bildungspolitik, die staatlichen Institutionen, die öffentliche Debatte, die Medien und das Rechtssystem in Polen, das seit der Machtübernahme durch die nationalkonservative Regierung im Jahr 2015, ungebrochen stattfindet. Auch die vielen Geflüchteten aus der Ukraine ändern nichts am Kurs.

Alicja Pacewicz, seit vielen Jahren am Puls des Bildungswesens, u. a. als Mitbegründerin des Zentrums für politische Bildung, Mitautorin zahlreicher Lehrbücher und Programme zur politischen Bildung und Expertin des Europäischen Netzwerks für politische Bildung stellt seit 2015 einen deutlichen Wandel in der Bildungsrhetorik und im öffentlichen Diskurs fest. „Rechte und Pflichten der Bürgerinnen und Bürger und die Notwendigkeit der politischen Bildung werden als Themen völlig verdrängt, dafür forciert die Regierung patriotische Erziehung im Sinne einer Gemeinschaft aus Nation und Blut.“ Sie bedauert, dass die Machthaber das Verständnis der Gemeinschaft als einer politischen Nation, die durch eine Verfassung und einen Vertrag zwischen dem Staat und den Bürgern geschaffen wird, konsequent demontieren.

So änderte der Bildungsminister Anfang des Jahres per Dekret, also ohne Abstimmung im Sejm und im Eilverfahren die Schullehrpläne für „Geschichte“ und „Politische Bildung“ um gleichzeitig das erwähnte, neue Geschichtsfach einzuführen. All das ungeachtet der massiven Kritik der Experten.

Vom handlungsfähigen Bürger zum Inhaltsempfänger

Łukasz Zamęcki, Soziologe, Politikwissenschaftler und Experte für Politische Bildung, sieht in den Änderungen der Lehrpläne und dem Curriculum des neuen Fachs den radikalsten Versuch, zumindest in den letzten zwei Jahrzehnten, mit der liberalen Vision von Gemeinschaft und folglich mit den bisherigen Grundlagen der politischen Bildung zu brechen. Die meisten Änderungen im Fach Geschichte zielen darauf ab, die Themen der Kirche und die Perspektive der Religion in der polnischen und der Weltgeschichte zu erweitern. Die neue Axiologie der Grundlagen zeigt sich in der Ablehnung der Renaissance, der Aufklärung, des Utilitarismus, des Szientismus und der Moderne sowie in der Betonung des Verhältnisses von Glauben und Vernunft im Geiste der christlichen Philosophie.

Besonders alarmierend findet Zamęcki den Abbau der politischen Bildung in den Grundschulen. Das Ermutigen zu grundlegender politischer, öffentlicher oder sozialer Partizipation und Wecken des Interesses der Schülerinnen an der Tätigkeit der regionalen Behörden, selbst auf schulischer oder kommunaler Ebene, wird ebenso aus dem Lehrprogramm gestrichen, wie die kritische Auseinandersetzung mit Wahlkampfmaterial, z. B. mit Werbespots, Flugblättern, Wahlslogans, oder der Interpretation von Meinungsumfragen. Das werde das politische Bewusstsein und die persönlichen Handlungs- und Gestaltungsspielräume der jungen Menschen massiv einschränken und ein Defizit grundlegender bürgerlicher Fähigkeiten nach sich ziehen, meint der Experte. Der Wandel in der Vision des polnischen Staatsbürgers mit Handlungsfähigkeit vollzieht sich somit in Richtung eines Schülers oder Inhaltsempfängers, der sich nicht mehr frei in der europäischen und globalen Gemeinschaft bewege, sondern mit Besorgnis in die Welt blicke.

In der Sekundarstufe wird das Fach „Geschichte und Gegenwart“ ab September den Gegenstand „Politische Bildung“ ersetzen und nur etwa ein Viertel der bisherigen Inhalte wird sich dem politischen System, dem Recht, den Menschenrechten oder der Zivilgesellschaft widmen. Für Alicja Pacewicz ist das keine adäquate politische Bildung für die Herausforderungen des 21. Jahrhunderts. Diese sollte ihrer Meinung nach bereits in den früheren Klassenstufen ernsthaft behandelt werden, doch im Zuge der Reform des Bildungswesens vor fünf Jahren wurden diese Themen auf die letzte Klasse der Grundschule beschränkt, in der sich alle auf die Abschlussprüfung konzentrieren. Mit der Einführung des neuen Geschichtsfachs werde nun auch den Schülerinnen der Sekundarstufe politische Bildung vorenthalten, kritisiert die Expertin.

Ökologie vs. Ökologismus

Das in der Fachwelt stark kritisierte Curriculum des neuen Fachs „Geschichte und Gegenwart“, spiegelt vielerorts das Weltbild der nationalkonservativen Regierenden wider, welches mit vielen Aspekten der heutigen Welt, wie etwa der Klimakrise, in Konflikt steht. So wird nicht etwa die Dringlichkeit der Klima-Maßnahmen ins Zentrum gestellt, sondern die „Klimapolitik und ihre Kosten", also die finanziellen und wirtschaftlichen Auswirkungen der Klimapolitik für die Gesellschaft, was eine pejorative Einschätzung dieser Politik nahelegt. Die eindeutige politische Färbung erkennt man z.B. am Ziel, den Schülern den Unterschied zwischen Ökologie und sog. „Ökologismus“ aufzeigen zu wollen. Letzteres ist ein Schlagwort, das von Geistlichen und rechten Politikern in Polen verwendet wird, um Umweltbewegungen zu diskreditieren. Es ist nicht genau bekannt, worum es sich dabei handelt, aber nach Aussagen aus dem rechten Lager könnte es unter anderem eine „neue Form der Ideologie“, oder „des Totalitarismus“, sein. Andrzej Friszke, Forscher und Experte für moderne Geschichte kritisiert die Dekonstruktion von historischen Zäsuren und Grundsätzen, die nach der politischen Wende im Jahr 1989 allgemein angenommen wurden. Dies sei für ihn reine Übersetzung der PiS-Propaganda. Der Historiker bemängelt ebenfalls den fehlenden Bezug zum Wesen des politischen Systems im jeweiligen Zeitabschnitt, der notwendig wäre um zwischen Demokratie oder Autoritarismus unterscheiden zu können.

Bialy Kruk Verlag, der sich auf religiöse und historische Bücher spezialisiert, hat vor kurzem Fragmente des Lehrbuchs zum Fach „Geschichte und Gegenwart“ veröffentlicht. Es befindet sich aktuell als einziges Lehrbuch, im letzten Stadium des Genehmigungsverfahrens des Bildungsministerium. Bereits wenige als Preview veröffentlichte Seiten des von Wojciech Roszkowski verfassten Buches, einem in Polen bekannten Historiker und ehemaligen PiS Politiker, lösten eine heftige Kontroverse aus. Roszkowski geht recht schonungslos mit der Europäischen Union um, die „Religionen einebnet, indem man in der EU Atheismus fördert und ihn sogar mit bürokratischen und administrativen Methoden durchsetzt“. Nach Ansicht des Autors könnte die EU nur unter dem Einfluss polizeilicher oder sogar militärischer Maßnahmen zu einer Föderation werden. Mit anderen Worten: Ohne Gewalt werden Sie uns nicht kriegen.

„Feminismus und Gender-Ideologie“

Im Kapitel mit dem vielsagenden Titel „Ideologien und Nationalsozialismus“, führt der Historiker aus warum Ideologien eindeutig als negativ zu werten seien. Er befasst sich u.a. mit der „Gender-Ideologie“. Wir erfahren unter anderem, dass es sich um eine vereinfachte Philosophie handelt, die für die Bedürfnisse verschiedener politischer Kräfte genutzt wird. Zu den „populärsten politischen Ideologien“ gehöre heute der Sozialismus, der Liberalismus, der Feminismus und die Gender-Ideologie. Die moderne christliche Demokratie wird ganz am Ende genannt jedoch mit dem Hinweis versehen, diese sei mit christlicher Demokratie von vor 40 Jahren nicht vergleichbar. Kurz darauf erfährt man, dass der Sozialismus nicht in den „kranken Köpfen“ von Lenin und Stalin geboren wurde, genauso wenig wie der Nationalsozialismus eine Erfindung Hitlers war. Beide, so lesen wir, sind aus „den tiefen Wurzeln der europäischen intellektuellen Verfälschungen, manchmal sogar intellektuellen Abweichungen“ entstanden.

Obwohl ein Schulbuch die Welt so unvoreingenommen wie möglich beschreiben sollte, so stellt bereits im ersten Kapitel der Autor fest, Polen wäre „das größte Opfer des Zweiten Weltkriegs“ gewesen und es versuche „erst jetzt“ (sprich: die PiS Regierung), die durch den Konflikt erlittenen Verluste zu schätzen, was auf heftige Proteste der „polnischsprachigen Medien in deutschem Besitz“ stoße. Das entspricht der gängigen Praxis der regierenden Kräfte, oppositionelle Medien in Polen zu diffamieren, in dem man sie als „deutsch“ bezeichnet ohne jemals auf ihre sachlichen Kritikpunkte einzugehen. Der Publizist des liberalen Magazins „Polityka“ Jacek Żakowski sagt, der Autor des Buches verwende das typische antiwestliche Narrativ der prorussischen Propaganda, die versuche, Polen auf jede erdenkliche Weise vom Westen zu trennen und unterstreicht dabei, dass diese Rhetorik auch in die antiwestliche Propaganda der polnischen Regierung passe.

„Nationale Unschuld“ statt „Pädagogik der Schande“

Was viele zu Beginn der Regierungszeit der Vereinigten Rechten befürchtet haben, nämlich dass die Geschichtspolitik in Polen von den "Hütern der nationalen Unschuld" gestaltet werden wird, bewahrheitet sich. So kritisiert das Komitee für Geschichtswissenschaften der Polnischen Akademie der Wissenschaften die eindimensionale, martyrologische und heroische Darstellung der Geschichte, ohne dabei andere als nur heroische Haltungen zu berücksichtigen. Als einen der wichtigsten Mängel der durchgeführten Lehrplan Änderungen, sehen die Experten der Kommission für Geschichtsdidaktik in der Vorgabe einer eindeutigen Interpretation und Bewertung bestimmter historischer Ereignisse, Personen und Prozesse: „Eine solche Formulierung von Unterrichtsinhalten birgt die Gefahr der Ideologisierung oder gar Indoktrination und kann auch eine Form der Entmutigung junger Menschen sein, über historische Ereignisse oder Probleme der Gegenwart kritisch nachzudenken", lautet es in der Stellungnahme. Ein ähnlicher Standpunkt wird von der Polnischen Historischen Gesellschaft vertreten: „Aus dem Kerncurriculum wurden Bestimmungen entfernt, die darauf abzielen, dass der Schüler die Vielfalt und Unterschiedlichkeit von Ansichten, Bewertungen und Positionen kennenlernt oder eine kritische Haltung ihnen gegenüber entwickelt.“

Minister Czarneks schlichte Verteidigungslinie auf Twitter und bei diversen Medienauftritten hat dieser komplexen, sachlichen Kritik folgendes entgegenzusetzen: „Dieses Lehrbuch ist pro-polnisch und passt daher der Opposition nicht. Diese hat drei Jahrzehnte lang die Pädagogik der Schande verbreitet und der polnischen Jugend eingeimpft. Dieses Lehrbuch zeigt Polen in der Welt, so wie es wirklich ist.“ Wobei wir wieder bei der „Wahrheit“ wären.

Ausweitung der ideologischen Kontrolle in der Bildung

Der Bildungsminister kündigte vor Kurzem an, die leicht überarbeitete Reform des Bildungsgesetzes, auch als „Lex Czarnek“ bekannt, befände sich in finaler Abstimmungsphase mit dem Präsidialamt und werde demnächst auf die Agenda im Sejm zurückkehren. Die Mehrheit der Expert*innen schlug bereits beim ersten Gesetzesentwurf Alarm, es sei ein politisches Manöver der Regierenden, um die ideologische Kontrolle im Bildungsbereich weiter auszubauen. Unter anderem sollten regierungsnahe Schulaufsichtsbehörden Kontrolle und Einfluss auf die Bildungsinhalte erhalten, die in den Schulen durch gemeinnützige Organisationen angeboten werden. Das wäre de facto das Ende der Bildung zu Themen wie Klimakrise, Sexualaufklärung, Diskriminierung, Menschen- und insbesondere Frauenrechte sowie aller anderen Themenbereiche, die nicht in die offiziell verkündete Regierungslinie passen. Der frühere Entwurf sah auch eine Erleichterung im Absetzungsverfahren gegen Schuldirektor*innen vor, die sich nicht an die Vorgaben des Ministeriums halten, ohne eine Möglichkeit, gegen die Entscheidung Berufung einzulegen. Bisher sind die Änderungen noch nicht bekannt, der Bildungsminister Przemysław Czarnek erklärte jedenfalls gegenüber den Medien, dass die zentralisierte Kontrolle der NGO´s an Schulen eines seiner Hauptziele sei.

Was zentralisierte Bildung in der Praxis bedeuten kann, zeigte ein Vorfall in der Region Kleinpolen. Die für ihre ultrakonservativen Ansichten bekannte Leiterin der regionalen Schulbehörde Barbara Nowak, legte während einer parlamentarischen Kontrolle den Abgeordneten Listen mit insgesamt ca. 200 angeblich „schädlichen“ gemeinnützigen Organisationen vor, darunter Amnesty International, das Jüdische Zentrum in Ausschwitz, die Roma-Vereinigung in Polen oder das Zentrum der UNESCO-Initiativen in Warschau. Es waren allesamt Organisationen, die für die Rechte der Frau kämpfen, zivilgesellschaftliche Werte vermitteln, sich für ausgegrenzte Gruppen einsetzen (insbesondere sexuelle Minderheiten) sowie solche, die einer bestimmten national-konservativen Vision der polnischen Geschichte oder der Lehre der katholischen Kirche widersprechen. All diese NGOs will die Regierung aus der Schule verbannen.

Alicja Pacewicz betont, dass nur wenige Menschen an die Ernsthaftigkeit einer solchen „schwarzen Liste“ glauben, doch die Lehrkräfte wollen das Risiko einfach nicht eingehen. Manche Schulleiter laden sogar keine Eltern mehr in die Schule ein, zum Beispiel Architektinnen, Juristinnen oder Ärztinnen, weil sie etwas „Unangemessenes“ sagen könnten, beispielsweise über die globale Erwärmung, die Verfassung oder Verhütung. Die Expertin sieht darin ein großes Problem, denn es komme zu einer Situation, in der sekundäre, ideologische Kriterien die Möglichkeit einer vernünftigen, wissenschaftlich fundierten und an den Bedürfnissen der jungen Menschen orientierten Bildung ausschließen. Die junge Generation lebe nun mal in einer komplexen Welt, in der es eine Klimapolitik, das kulturelle Geschlecht oder das Dilemma des Rechts auf Abtreibung gibt. In einer Welt zunehmender Ungleichheit und Streitigkeiten über Werte, auch über die Form der Demokratie. Die Expertin meint deshalb, es sei von entscheidender Bedeutung, dass junge Menschen in der Schule über die Argumente aller Seiten informiert werden und kritisch zu denken lernen.

Kampf der Visionen

In Polen herrscht ein Kampf zwischen zwei Visionen von Bildungswelten. In der Vision des Ministeriums ist die Schule ein Ort, an dem akademisches Wissen erworben wird und die Auswahl der Schüler für die nachfolgenden Bildungsstufen erfolgt. Es geht darum, möglichst viel Wissen in einzelnen Fächern zu vermitteln, alle Schüler*innen zu prüfen und die jungen Menschen zu Patrioten und Katholiken zu formen. Alicja Pacewicz sieht die polnische Schulbildung, wie unzählige andere Expertinnen, Lehrerkräfte, Jugendliche und ihre Eltern aus einem anderen Blickwinkel. Heimatliebe sei gut, aber es sollte ein konstitutioneller, bürgerlicher, offener Patriotismus, mit Respekt für andere Nationen, Religionen und Kulturen sein. Die moderne Schule spiele nicht mehr die Rolle des einzigen "Wissensvermittlers" und sollte kein Förderband für Millionen an Informationen sein, denn diese findet man jederzeit im Internet. Die Schule sei für sie ein Ort, an dem man lerne, die Informationen kritisch zu nutzen, Probleme auf der Grundlage des vorhandenen Wissens zu lösen, miteinander zu reden und gemeinsam zu handeln.

Die Aktivistin und Bildungsexpertin ist überzeugt, die Idee des zentralisierten Schulwesens werde nicht funktionieren. Bildung in Polen bedeute Millionen von vernünftigen, jungen Menschen und gut ausgebildeten, frei denkenden Erwachsenen. Die Lehrkräfte seien zunehmend bereit, die Schülerinnen und Schüler ganzheitlich zu betrachten und nicht nur durch das Prisma der Testnoten. Sowohl die Pandemie, als auch Hunderttausende von ukrainischen Kindern und Jugendlichen zwingen sie dazu, die Schule anders zu denken. Pacewicz räumt ein, dass der Ukrainekrieg das polnische Bildungssystem destabilisiert habe. Diese Destabilisierung zeige aber, welch wichtige Rolle zwischenmenschliche Beziehungen, Solidarität und Offenheit in der Schule spielen, während der Fokus bisher zu stark auf den Kernlehrplan und die Noten gelegt wurde.

Ob die Meinung des Bildungsministers, ganze Generationen von Polen wären sich ihrer eigenen jüngsten Geschichte nicht bewusst und wären somit für jede Manipulation empfänglich, stimmt, ist fraglich. Gruppierungen die behaupten, sie seien im Besitz der alleinigen „Wahrheit“ kennt man jedenfalls aus der Geschichte, auch in Polen, nur zu gut.

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