Philosophin Isolde Charim: „Narzisstische Funktionsweisen sind in den Alltag eingegangen“
Interview Wie tief ist der Narzissmus in unseren Alltag eingedrungen? Ist er wirklich das Signum unserer Epoche? Ja, sagt die Wiener Philosophin Isolde Charim, ihr Kollege Konrad Paul Liessmann kann das so nicht stehen lassen
der Freitag: Sind auch wir, die wir hier sitzen, Narzissten?
Isolde Charim: Ihre Frage suggeriert: Sind wir furchtbare Egozentriker? Das ist nicht mein Punkt. Man kann nicht sagen, dass wir alle Narzissten sind. Aber wir leben in gesellschaftlichen Verhältnissen, die es uns abverlangen, narzisstisch zu agieren.
Nehmen wir eine alleinerziehende Frau, die auf Sozialleistungen angewiesen ist und Tag für Tag die Herausforderungen des Allta
ann nicht sagen, dass wir alle Narzissten sind. Aber wir leben in gesellschaftlichen Verhältnissen, die es uns abverlangen, narzisstisch zu agieren.Nehmen wir eine alleinerziehende Frau, die auf Sozialleistungen angewiesen ist und Tag für Tag die Herausforderungen des Alltags meistern muss. Kann man tatsächlich sagen, dass sie narzisstisch funktionieren muss?Charim: Teilweise. Narzisstische Funktionsweisen sind in den Arbeitsalltag eingegangen, etwa darin, dass permanent bewertet wird. Airbnb lebt nur von Bewertungen. In den Schulen wird heute ständig bewertet. Bewertet wird ja nicht nur die reine Leistung, man wird es als gesamte Person. Und das setzt sich in der Arbeitswelt fort. Vom Aussehen über die Freundlichkeit, über den Charakter bis zur Teamfähigkeit wird da alles bewertet. Das sind Mechanismen, denen keiner entgehen kann.Wir leben ja in Zeiten des Arbeitskräftemangels. Kehrt sich das nicht um?Konrad Paul Liessmann: In der Tat: Menschen, die auf den Arbeitsmärkten gesucht und gefragt sind, beginnen ihrerseits, die Unternehmen zu bewerten. Wie schaut es aus mit der Arbeitszeit? Mit Work-Life-Balance? Gibt es einen Unternehmenskindergarten? Und plötzlich ist das Unternehmen in der Situation, wo es sich rechtfertigen muss. Das ist doch der Witz an der Sache: Eindeutige hierarchische Strukturen heben sich auf. Selbst zwischen Chauffeur und Fahrgast in einem Taxi. Der Fahrer bewertet die Fahrgäste und plötzlich steht der Fahrgast vor einem verschlossenen Taxi als Summe von schlechten Bewertungen. Das Interessante für mich ist, dass das ja nicht als eine Deformation, sondern als Fortschritt gesehen werden kann – also gerade nicht als Schulung eines narzisstischen Selbstverhältnisses.„Wir alle sind heute Narzissten. Das ist nichts Böses“Charim: Warum erachtet man das als progressiv? Weil man sagt, die Autorität wird eingeschränkt, weil sie permanent bewertet wird. Aber das ist ein Damoklesschwert, das über unser aller Köpfen hängt. Es geht ja nicht nur um den Leistungsaspekt. Eine Ideologie – und meiner Meinung nach ist das der Narzissmus – funktioniert auf unterschiedliche Weisen. Wenn Sie sagen: Eigentlich bin ich kein Journalist, eigentlich bin ich jemand anderes, dann ist das eine narzisstische Konstruktion. Wir alle sind heute Narzissten. Das ist nichts Böses. Selbstoptimierung gibt vor, dass man eins werden kann mit dem Ideal, zum optimalen Marktsubjekt wird. Während Narzissmus heißt, dass man immer in einer Unzulänglichkeit bleibt.Das ist Narzissmus im Sinn von Freud?Charim: Freud sagt: Das Ideal-Ich ist der Statthalter der Gesellschaft innerhalb der Psyche. Das heißt, ich entwerfe nicht irgendein willkürliches Ideal von mir, sondern da treffen Gesellschaftliches und Individuelles zusammen. Und da gibt es eben auch narzisstische Konstruktionen, bei denen es nicht um eine Steigerung der Produktivität geht.Liessmann: Das würde ich auch so sehen. Welchen Stellenwert hat die Arbeit, die Produktivität? Welchen Stellenwert hat das Einkommen? Welchen haben Freunde? Das sind ja keine Dinge, die sich die Menschen im stillen Kämmerlein ausdenken, sondern das sind tatsächlich gesellschaftliche Verhältnisse, die sich widerspiegeln in diesen Idealkonstruktionen. Ich würde nur an einem Punkt vorsichtig sein. Wenn es stimmt, dass der Narzissmus nicht nur auf Leistung und Produktivität abzielt, könnte man ja auch rebellische Momente darin sehen.Charim: Ja, es ist rebellisch, ist eine Ablösung von einer alten Struktur, wo die Gesellschaft wesentlich nach einem Konzept des Über-Ichs, also der väterlichen Autorität des väterlichen Gesetzes, funktioniert hat.Liessmann: Heißt das, dass anstelle desjenigen Ichs, das sich seinem Über-Ich, also der Stimme des Vaters in mir, unterwirft, jetzt das Ich tritt, das noch immer nicht selbst ermächtigt ist, sondern sich nun bestimmten gesellschaftlich vermittelten normativen Konzepten unterwirft, die dann als Ideal-Ich internalisiert werden?Charim: So würde ich das sehen.Leute, die eine Work-Life-Balance haben, quälen sich doch nicht.Charim: Gehen Sie raus und schauen sich um: Sehen Sie da zufriedene Menschen? Sie sehen Leute, die gequält wirken, es wohl nicht zuletzt durch die Notwendigkeit der Selbstdarstellung und dem ständigen Überschreiten auch sind.Was ist das für eine Gesellschaft, die dadurch entsteht? In wessen Interesse passiert das?Charim: In wessen Interesse das passiert, ist eine Frage, die auf eine verschwörungstheoretische Antwort zielt. Es ist einfach das System, das so funktioniert. Es erzeugt ein tiefes Einverständnis mit Verhältnissen, die einem irrsinnig viel abverlangen, weil sie ein Mehr verlangen. Es geht nicht einfach um ein Funktionieren, sondern um ein Mehr-Funktionieren. Das ist entscheidend.Liessmann: Ich habe doch einige Vorbehalte. Ich frage mich zum Beispiel, ob man das tatsächlich in diesem universellen Ton behaupten kann oder ob das nicht auch Phänomene sind, die es zweifellos gibt, die aber doch von den Milieus abhängen, in denen die Menschen sich bewegen. Ist es also auch ein Blasenphänomen? Für viele Menschen, sogar in Europa, stellt sich die Frage der Work-Life-Balance doch überhaupt nicht. Die haben andere Sorgen. Es gibt kulturelle Milieus, die nach wie vor oder jetzt wieder stark religiös geprägt sind. Und die sind gesellschaftlich nicht unwirksam, wie wir wissen. Ganz im Gegenteil, die werden wieder bedeutsamer.Charim: Ich glaube nicht, dass es ein reines Blasenphänomen ist. Nehmen Sie den Arbeitsbereich, zum Beispiel einen Supermarkt. Da werden kleine Differenzen eingeführt. Mitarbeiter werden durch den Chef hervorgehoben, kleine Systeme, die sozusagen die Notwendigkeit dieses narzisstischen Wettbewerbs perpetuieren.„Das ganze Social-Media-Phänomen betreiben junge Menschen, denen das niemand angeschafft hat“Liessmann: Dass sich gerade junge Menschen permanent besser präsentieren müssen, kommt doch von diesen Menschen selbst. Man sieht auf Instagram, wie jemand ein Selfie in einer schwindligen Höhe macht und dafür viele Likes erntet. Dann muss man das überbieten, koste es das Leben. Sind das nicht Phänomene, die zwar zu einer Art Selbst-Unterwerfung führen, die aber von unten kommen? Ich erkenne hier keine Systeminteressen, auch keine Herrschaftsinteressen.Social Media ist also nicht Teil des Systems?Liessmann: Das ganze Social-Media-Phänomen wird betrieben und weiterentwickelt von jungen Menschen, denen das niemand angeschafft hat, die damit keinem Herrn dienen. Die haben ihr eigenes Start-up gegründet und drei Jahre später sind sie Millionäre und haben nicht damit gerechnet. Da kommen keine tradierten Herrschaftsverhältnisse zum Ausdruck, auch keine tradierten herrschenden sozialen Milieus. Schauen Sie sich die Biografien der Menschen an, die jetzt Social Media beherrschen. Keiner kommt aus einer alten Bankerfamilie, keiner kommt aus einer alten Unternehmerfamilie, keiner aus einer alten politischen Dynastie. Man kann kritisch drüber nachdenken. Aber man muss das Phänomen ernst nehmen, dass diese Ideal-Ichs aus einer gewissen Souveränität heraus konstruiert werden.Das ist doch eigentlich die Frage: Warum unterwerfen die Leute sich freiwillig diesen Dingen? Sie, Frau Charim, haben das auch im Zusammenhang mit Corona diskutiert.Charim: Ich glaube, dass da zwei Arten von Narzissmen aufeinandergeprallt sind. Da ist der Narzissmus des verwundbaren, vulnerablen Subjekts, das nach den Maßnahmen ruft als Schutz seines narzisstischen Ichs. Dieser Narzissmus trifft auf den Narzissmus des sich als robust definierenden Subjekts, das die Maßnahmen als Zumutung empfindet, weil die sein narzisstisches, robustes Ich kränken und infrage stellen. Von daher kommt meines Erachtens auch diese Unversöhnlichkeit in der Debatte um Corona.Liessmann: Ketzerische Frage: Ist denn überhaupt eine Gesellschaft denkbar, in der die Mitglieder dieser Gesellschaft auf den Einbruch eines ihnen unbekannten Virus anders reagieren würden als in dieser Doppeldeutigkeit? Und ist das wirklich ein Ausdruck des Narzissmus? Ist es narzisstisch zu sagen: Ich werde hier von einer Krankheit bedroht und ich versuche, mich zu schützen? Und ist es narzisstisch, sich selber eine Form von Robustheit zuzuschreiben, die es mir erlaubt, manche Dinge zu ignorieren, weil ich eben schon die Erfahrung gemacht habe, dass Infektionen, die andere schädigen, spurlos an mir vorübergehen? Was hat das mit Narzissmus zu tun?„Offen narzisstisch wird es bei Corona, wenn ich in der eigenen Anerkennung meiner Vulnerabilität verlange, dass die ganze Welt sich um mich drehen muss“Charim: Die Tatsache, dass die Debatte hochgradig emotional aufgeladen war und ein ganz massiver Anteil an Irrationalem dazugekommen ist, ist doch ein starkes Indiz. Offen narzisstisch wird es in dem Moment, wo ich in dieser eigenen Anerkennung meiner Vulnerabilität jetzt aber verlange, dass die ganze Welt sich um mich drehen muss, und wenn ich verlange, dass jetzt aber auch alle die Maske aufsetzen, weil ich ja krank werden könnte. Und umgekehrt, wenn der andere sagt, dass es ihm völlig gegen die Freiheit geht, wenn er Leute mit Masken sieht. Beide sagen das ja nicht nur für sich. Sie haben einen allgemeinen Anspruch.Wie kommt man da raus?Charim: Es gibt kein Rezept. Das Einzige, was man festhalten kann, ist, dass der narzisstischen Ideologie ein Widerspruch innewohnt. Bekanntlich scheitern solche Formationen an ihren inneren Widersprüchen. Irgendwann.Liessmann: Meine Antwort ist einfach: Es genügte, wenn die Narzissten sich wie Narzissten verhielten, also bei sich blieben und nicht auch noch alle anderen mit ihrer Selbstbespiegelung belästigten.
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