Soziologe Philipp Staab: „Wir können die Welt höchstens reparieren“
Interview Der Soziologe Philipp Staab sieht das Ende der Selbstentfaltung gekommen und damit eine Gesellschaft, die Anpassungsleistungen abverlangt. Ein Gespräch über Urlaubsflüge und den ausgetrockneten Rhein, Freiheit und Vergesellschaftung
Der Soziologe Philipp Staab im Gespräch: „Die Jungen nehmen die brutale Realität an und wollen handeln“
Foto: Lena Giovanazzi für der Freitag
Wachstumskrise, Erderwärmung und subjektive Überforderungen haben den Glauben an die Moderne erschüttert. Statt subjektiver Selbstentfaltung wie im 20. Jahrhundert ist nun kollektive Selbsterhaltung angesagt. Anpassung als Leitmotiv und Entpolitisierung der Daseinsfragen sind das Gebot der Stunde, sagt der Soziologe Philipp Staab, der Titel seines jüngsten Buches lautet entsprechend Anpassung. Leitmotiv der nächsten Gesellschaft.
der Freitag: Herr Staab, ich bin Ende der 50er Jahre geboren und meine Generation war immer darauf aus, für mehr Freiheit und Gerechtigkeit zu sorgen. Jetzt sagen Sie, wir müssen schauen, wie wir uns erhalten und mit allem anderen zurückstecken. Finde ich nicht so attraktiv.
Philipp Staab: Die Gesellschaft, aus der wir kommen,
Philipp Staab: Die Gesellschaft, aus der wir kommen, war auf einen offenen Zukunftshorizont orientiert. Die Welt war ein weißes Blatt Papier, das wir als Subjekte beschreiben konnten. Von dem Soziologen Ulrich Beck haben wir gelernt, dass wir in einer Risikogesellschaft leben, die nun richtig Fahrt aufnimmt. Wir machen die Erfahrung, dass die Welt, dass das vermeintlich Äußere, immer stärker in die Gesellschaft einbricht. Zum Beispiel die Klimaerwärmung mit allen Folgen: Waldbrände, Dürren oder Fluten. Das zwingt uns zu Reaktionen, die alles, was wir gewohnt waren, über den Haufen werfen. Also die Vorstellung, die Welt nach unserem Belieben entwerfen und gestalten zu können. Im 21. Jahrhundert werden wir zu ständiger Anpassung gezwungen sein und dazu, nach Techniken der Mitigation zu suchen, die die Klimaerwärmung abschwächen oder mildern – egal, ob es sich nun um CO₂-Einsparung handelt oder um das Abscheiden oder Speichern dieses schädlichen Klimagases.Manche Menschen haben einen Teil ihrer Freiheit bereits aufgegeben, indem sie zum Beispiel nicht mehr in Urlaub fliegen. Die meisten machen einfach so weiter. Kann man im Alltag wirklich von einem Paradigmenwechsel sprechen?Nein, im Moment dominiert eher Anpassungsverdrängung. Dem wird auch politisch Vorschub geleistet, etwa indem man grünes Wachstum ohne Wohlstandsverlust verspricht. Aber auch wenn wir alles richtig machen würden und vielleicht unter den avisierten zwei Grad Temperaturanstieg blieben, haben wir es dennoch mit einer Welt zu tun, in der die akuten Probleme unsere ganze Aufmerksamkeit fressen: der austrocknende Rhein, das Risiko bei der Energieerzeugung, wenn französischen Kernkraftwerken das Kühlwasser ausgeht. Der Krisendruck steigt, vom Klima über die Umweltzerstörung, die soziale Ungleichheit, überbordenden Konsum bis hin zur Legitimationskrise des politischen Systems. Deshalb gewinnen die Probleme der Stabilisierung im Vergleich zu denen der Selbstentfaltung. Es handelt sich um eine Verschiebung der Prioritäten.In den 1980er Jahren wurde schon darüber diskutiert, dass Veränderung bei einem selbst anfangen muss. Aber selbst wenn ich auf Flüge verzichte, habe ich nicht das Gefühl, etwas zu bewirken.Ja, das war auch während der Corona-Pandemie zu beobachten. Individuelle Strategien der Selbsterhaltung ergeben erst Sinn, wenn sich alle, oder sagen wir, fast alle, ähnlich verhalten. Wenn eben alle Masken tragen. Aber selbst als die Leute begannen, Müll zu trennen, war das nicht nur individuelles Verhalten, sondern politisches Engagement, der Übergang zur Zivilgesellschaft, von der sich Ulrich Beck erfolgreiche Demokratisierung versprach. Doch schon damals gab es Stimmen, die die Auslagerung staatlicher Verantwortung auf die Gesellschaft kritisierten. Die werden lauter werden, je mehr sich eine Gesellschaft in ihrer Selbsterhaltung bedroht sieht. Wir können noch so viel demonstrieren – wenn wir es nicht schaffen, die Energiesysteme, die großen Infrastrukturen, umzustellen, dann ist der ganze individuelle Verzicht umsonst.Anpassung hat bei vielen und insbesondere in der Soziologie einen schlechten Leumund. Der Anpassung zu entfliehen, war mal ein progressives Projekt.Ich verwende den Begriff Anpassung nicht normativ. Wenn ich sage, wir wachsen in eine Gesellschaft der Anpassung hinein, ist das zunächst eine Beobachtung, die man ernst nehmen muss, weil das unsere Handlungsspielräume bestimmt …… und einengt?Meine Studierenden können sich auch weiterhin tätowieren und piercen lassen, ihre sexuellen Freiheiten bleiben davon unberührt, und Turnschuhe werden sicher erst mal auch nicht verboten. Aber es wird eine Gesellschaft sein, in der Rapper, die ihre Schränke mit 50 verschiedenen 2.000 Dollar teuren Turnschuhen füllen, nicht mehr als cool gelten. Das zeigt sich jetzt schon bei den jungen Leuten, die rebellieren für gelingende Anpassung, nicht für mehr Freiheitsgrade. Und ich bin überzeugt, dass daraus auch Freiheitsgewinne entstehen.In welcher Weise?Indem die Pathologien der Freiheit, die die bisherige Gesellschaft hervorgebracht hat, zurückgedrängt werden. Ich meine damit die Überforderung, die mit dem Druck einhergeht, etwas Besonderes und immer authentisch zu sein, sich ständig selbst zu optimieren, während man sich gleichzeitig in betriebliche Hierarchien, Pflichten oder bei der Kinderbetreuung einfügen muss. Daran zerbrechen die Leute doch auch.Die Zumutungen der Anpassungen könnten aber auch zu Konflikten führen.Ja, natürlich. Nehmen sie das europäische Grenzregime, da handelt es sich um das Aufeinanderprallen von zwei Anpassungsstrategien. Klimaflüchtlinge treffenauf Gesellschaften, die versuchen, ihre politische Stabilität zu erhalten. Das führt dazu, dass die Grenzen hochgezogen werden. Eine Fehlanpassung, denn eines von beiden gelingt sicher nicht, entweder man kann die Grenze nicht schützen oder man entkommt seiner prekären sozialen Lage nicht. Mit dieser Art von Konflikten werden wir es zunehmend zu tun haben. Und dass uns dabei mulmig wird, hängt damit zusammen, dass es zu autoritären Lösungen kommen könnte.Gelungene Anpassungen lösen also nichts?Die Idee der Lösung ist eine sehr moderne Idee. Mittlerweile gibt es höchstens Formen von Versöhnung. Wir können reparieren, regenerieren oder in Ruhe lassen, soweit es die Umwelt betrifft. Wir können solidarisch sein, wenn es um das Leid der anderen geht. Aber dadurch verschwinden die Probleme nicht. Wenn ich ein Moor regeneriere und in zehn Jahren steigt die Temperatur um 1,6 Grad, trocknet das wieder aus. Dennoch müssen wir weitermachen, so gut es geht.Ihr neues Buch enthält auch einen empirischen Teil. Sie haben mit Studierenden in der Corona-Pandemie Beschäftigte der kritischen Infrastrukturen, also in Krankenhaus, Polizei, Schule, befragt. Die Idee war, herauszufinden, wie in einer Zeit extremer Krise Anpassungsleistungen funktionieren, welche Erfahrungen gemacht wurden und welche Art gelingenden Lebens sich die Beschäftigten aus ihrer Kritik der Verhältnisse vorstellen können. Wie genau sah das aus?Wir sind auf drei Kritiken gestoßen. Die erste war, wenig überraschend, eine Kritik am Profitstreben, insbesondere beim Krankenhauspersonal. Das war klare Kapitalismuskritik. Die zweite betraf die schwache Staatlichkeit, die Leute wünschen sich mehr staatliche Grundfinanzierung, bessere Ausstattung der Schulen. Der Staat soll die Infrastruktur und damit Leben schützen. Aber über die Kapitalismuskritik hinaus haben wir eine entschiedene Kulturkritik festgestellt. Die Beschäftigten sagen, die Leute lebten in einer Gesellschaft, die das Individuum auf ein viel zu hohes Podest hebe. Eine junge Polizistin sagte etwa , die Menschen werden in unserer Gesellschaft nicht mehr erwachsen, die verstehen nicht, was Verantwortung, Verpflichtung, Sorge fürs Allgemeine bedeuten. Und sie erkennen einen Narzissmus, der sich in dieser Art rücksichtsloser Ökonomie entwickelt hat.Das ist tatsächlich erstaunlich. Und wo sehen die Befragten Handlungsbedarf?Sie stellen fest, dass Politik nicht in der Lage ist, die Infrastruktur mehrheitsfähig zu gestalten. Sie wollen, dass die überlebenswichtigen Bereiche dem politischen Streit entzogen werden, dass zum Beispiel die Finanzierung des Gesundheitssystems nicht mehr ein Spielball politischer Konflikte sein kann, sondern dass in der Verfassung festgeschrieben ist, dass soundsoviel Prozent des Bruttosozialprodukts zum Beispiel in die Gesundheitsversorgung oder in die Bildung fließen, unverhandelbar.Aber ich erlebe die Krankenhausbewegung beispielsweise als gar nicht so entpolitisiert, im Gegenteil.Es gibt aber den Wunsch nach klarer Steuerung, Demokratisierung ist nicht so das Thema. In Krisen müssen die Dinge laufen, dafür, wird gesagt, braucht es funktionale Hierarchien, die entlasten. Gleichzeitig haben die Beschäftigten aber auch die Erfahrung gemacht, dass ihre Expertise wichtig war, sie haben Momente der Selbstwirksamkeit erlebt. Die Leute trauen sich zu Recht was zu, sie können ein Krankenhaus oder eine Schule auch in der Krise steuern. Die Sehnsucht nach Entpolitisierung beinhaltet so gesehen auch das Versprechen von individueller Entfaltung.Und das ist die Steilvorlage für die neue Gesellschaft der Anpassung?Ich glaube, dass die Verdrängung auf Dauer nicht funktioniert, weil den Leuten der Blick auf den ausgetrockneten Rhein nicht verwehrt werden kann. Und viele haben das Bedürfnis, etwas zu tun, mitzumachen bei dem Prozess der Anpassung. Für meine Studierenden war während des Lockdowns nichts schlimmer, als nichts tun zu können. Wir müssten also Formen der kollektiven Mobilisierung finden, die Solidarität herstellt. Wir haben es mit einer jungen Generation zu tun, die die Realitätsverleugnung nicht hinnimmt, sondern die brutale Wirklichkeit annimmt und handeln will und die einfach dekretiert, Erderwärmung bis zu diesem Punkt höchstens, das ist unser Allgemeininteresse. Finanzielle Entlastungspakete und am besten nicht vom Wald reden – das wird auf Dauer nicht funktionieren.Haben Sie Vorschläge?Vielleicht brauchen wir neue Formen der Vergesellschaftung. Vielleicht das Pflichtjahr, das Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier vorgeschlagen hat. Oder Christian Lindner soll solche Steuervorteile anbieten, wenn ein Familienvater sich beim Technischen Hilfswerk oder bei der Feuerwehr engagiert, dass man da einfach mitmachen muss.Ich fand spannend, was Sie über die verlangsamenden Demokratieprozesse, die Verfahrenspolitik geschrieben haben. Haben wir mit unseren Bürgerinitiativen, den Einsprüchen etc. zu der jetzigen schwierigen Lage beigetragen?Ja und nein, die Entschleunigung war auch ein demokratischer Gewinn. Demokratien sind ja erfolgreich, weil sie langsam sind und zum Beispiel nicht Zero Covid übers Knie brechen. Aber auch weil wir sehr lange diskutiert haben, haben wir es jetzt mit Selbsterhaltungsproblemen zu tun.Und dazu brauchen wir eine „protektive Technokratie“, wie Sie schreiben? Als Entlastungsversprechen?Die Sehnsucht nach Technokratie ist ein Wunsch nach Entlastung. Die Einzelnen sind in unserer Gesellschaft bereit, sich zu engagieren. Das sehen wir immer wieder. Je größer aber die wahrgenommenen Probleme werden, desto weniger werden die Menschen über die gesellschaftlichen Ziele streiten wollen. Das ist auch kein antidemokratischer Impuls. Wer würde eine Gesellschaft, die darüber abstimmt, wer leben und wer sterben soll, schon demokratisch nennen? Die Leute haben ein Recht auf die bestmögliche Gewährleistung ihrer Selbsterhaltung. Auch politische Stabilität wird sonst nicht mehr herzustellen sein.Placeholder infobox-1