Precht & Co.: Der Spott auf Intellektuelle ist in Mode. Wir brauchen sie aber

Öffentlichkeit Vergesst die Denker, her mit den „Experten“. So ist das Motto spätestens seit Corona. Warum das vielleicht nahe liegt, aber ein Irrtum ist
Ausgabe 44/2023
Diese Eule ist keine Philosophin
Diese Eule ist keine Philosophin

Foto: Imago / Addictive Stock

Immer, wenn in deutschen Medien wieder einmal über eine Äußerung von Richard David Precht diskutiert wird, taucht ziemlich schnell die Frage auf, ob der denn überhaupt ein Philosoph sei. Die Frage ist naheliegend, denn allenthalben wird Precht als Philosoph bezeichnet. Aber warum ist das überhaupt relevant?

Es ist inzwischen Konsens, dass es vor allem die „Experten“ sind, also wissenschaftliche Spezialisten, die zu brisanten Themen zu befragen seien: Leute, die auf den fraglichen Gebieten forschen. Die sagten nicht bloß ihre Meinung, so hofft man jedenfalls, sondern sie lieferten Tatsachen und Erkenntnisse. Diesen Experten aber stellte man jahrzehntelang die „Intellektuellen“ gegenüber, also Schriftstellerinnen, Geisteswissenschaftler, führende Journalistinnen und eben auch Philosophen, die wortgewaltig ihre Meinung sagten, Stellung bezogen, warnten und mahnten. Öffentliche Intellektuelle sind Leute, die gerade keine Tatsachen vorbringen, sondern Bewertungen. Die Politikwissenschaftlerin Hannah Arendt war eine solche und große Intellektuelle, Martin Walser und Günther Grass das sicherlich auch.

Zu den Eigenschaften von Intellektuellen sollte gehören, so kann man oft lesen, dass sie reflektiert vorgehen, dass sie ihre eigene Meinung selbst infrage stellen und lange überdenken, bevor sie diese äußern – und nicht nur die konkrete Meinung zu einer Tagesfrage, sondern ihre Vorstellung vom Lauf der Dinge überhaupt. Die Art, wie sie die Welt sehen, das, was sie für selbstverständlich halten und das, was sie für Ursachen von dem halten, was auf der Welt passiert, sollten sie ständig selbst noch einmal und immer wieder durchdenken, sodass sie sich dessen, was sie dann sagen, doch recht sicher sind und es gut und plausibel begründen können.

Ob das tatsächlich der Fall ist, kann man allerdings oft kaum beurteilen, denn in Interviews und Talkshows ist immer nur Zeit für die Meinung, und nicht für die reflektierte Begründung. Judith Butler etwa kann zwar einen langen Essay über ihre Sicht auf den Krieg im Nahen Osten online stellen lassen, aber in den Online-Portalen der großen Zeitungen, die darüber berichten, kommen nur eine Schlagzeile, ein Meinungs-Kommentar eines Journalisten und ein paar Zitatschnipsel an.

Philosophie kommt nicht „immer zu spät“

Ob sie also eine wirkliche Intellektuelle ist, das muss anders entschieden werden, und da kommt die Frage ins Spiel – die ja auch bei Butler tatsächlich gestellt wurde – ob sie denn eine Philosophin sei. Denn bei denen meint man wenigstens, dass die ordentliche Reflexion, das tiefe Nachdenken, doch sozusagen zur Profession gehöre. Aber muss eine Philosophin, um berechtigt in der Öffentlichkeit als eine zu gelten, an einer Universität das Fach Philosophie studiert haben, darin promoviert haben oder gar selbst an der Uni lehren?

Was unterscheidet denn die Philosophin von anderen Intellektuellen? Es ist nicht so sehr die Tiefe des Denkens, es ist, dass sie sich um eine Methodik bemüht, und dass sie bei jeder Einzelfrage das Ganze der Welt und des Mensch-Seins im Blick hat. Sie hat sich im Lauf ihres Philosophierens eine Methodik erarbeitet und ein mehr oder minder konsistentes Geflecht von wohldurchdachten Überzeugungen über Mensch und Welt geschaffen, in das sie neue Gedanken, neue Einsichten hineinflicht. Da es dafür jahrtausendealte Traditionen gibt, ist es für jemanden, der auf diese Weise philosophieren will, klug, auch Philosophie, also die Werke vieler Denker, die ähnliches versucht haben, zu studieren. Das muss allerdings nicht zwingend mit einem Masterabschluss in Philosophie verbunden sein, so, wie nicht alle, die dieses Studium abgeschlossen haben, dabei zu Philosophen geworden sein müssen.

Man sagt, Hegel zitierend, dass die Eule der Minerva ihren Flug erst in der Dämmerung beginnt, dass also Philosophie immer zu spät käme und zu dem, was gerade passiert, eigentlich nichts sagen kann. Das ist, wenn man die Notwendigkeit des tiefen Nachdenkens über die naheliegenden Meinungen bedenkt, auch plausibel, aber dennoch nicht ganz richtig. Aus dem tiefen Nachdenken heraus kann eine Philosphin etwa sehr schnell Gefahren erkennen, die andere noch nicht sehen. In der Corona-Pandemie konnte sie sich schnell um die Konsequenzen sorgen, die aus einer einseitigen Ausrichtung auf die Vermeidung der Erkrankung folgen können. Ihr methodischer Ansatz, die Leute nie nur in ihrer gesellschaftlichen Rolle, sondern immer als ganze Menschen zu sehen, kann dabei helfen. Bei allzu euphorischer Begeisterung für Künstliche Intelligenz kann sie nach den Bedingungen fragen, unter denen Computertexte überhaupt als intelligent gelten. Technikphilosophische Konzepte und ihre Verfahren der Begriffsanalyse können sie schnell zu fundierten Thesen bringen.

Philosophen können so auch in brisanten Tagesdebatten wichtig werden, wenn sie unterschwellige Sorgen fundiert auf Begriffe bringen. Sie sollten deshalb auch in Talkshows sitzen und Podcasts machen. Sie selbst und ihr Publikum sollten aber darauf bestehen, auch Zeit für Begründungen und nicht nur für schnelle Thesen zu bekommen.

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