Die Welt in Zusammenhängen sehen

Gesellschaft Die Probleme unserer Zeit sind miteinander verbunden. Wer das nicht glaubt, kann sie nicht lösen. Ein Plädoyer dafür, Zusammenhänge zu sehen und gemeinsam zu bekämpfen

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Man kann Diskriminierungserfahrungen nicht getrennt voneinander betrachten
Man kann Diskriminierungserfahrungen nicht getrennt voneinander betrachten

Foto: Elijah Nouvelage/Getty Images

Tanisha Anderson. Megan Hockaday. Aura Rosser. Michelle Cusseaux.

Mit diesen Namen zog die US-amerikanische Juraprofessorin und Aktivistin Kimberlé Crenshaw in den vergangenen Jahren durch die USA, um bei Vorträgen und Podiumsdiskussionen mithilfe des Publikums eindrucksvoll ein Konzept zu untermauern, das in den Sozialwissenschaften seit einigen Jahren als bahnbrechend gilt und für das sie nun weltweit gefeiert wird, obwohl Crenshaw das Konzept schon vor dreißig Jahren erstmals beschrieb. Bei ihrem Experiment lässt sie ihr gesamtes Publikum aufstehen und fordert die Anwesenden auf, sich hinzusetzen, wenn sie einen Namen hören, den sie nicht wiedererkennen. Sodann zählt sie auf: Freddie Gray, Eric Garner, Tamir Rice, Mike Brown. Wenige setzen sich bei diesen Namen hin. Dann verliest sie die eingangs genannten vier Namen, ohne merkliche Unterbrechung, weiterhin ruhig, aber bestimmt. Als sie am Ende angelangt, stehen aus hunderten von Anwesenden noch zwei. Woraufhin sie auflöst: bei den (relativ) Unbekannten handelt es sich genauso wie bei der erstgenannten Gruppe um Afroamerikaner*innen, die durch unrechtmäßige Polizeigewalt zu Tode gekommen sind. Der einzige Unterschied: Tanisha, Megan, Aura und Michelle sind Frauen.

Denn ich trage viele Hüte

Das Konzept, dass Crenshaw aus der Perspektive der sogenannten critical legal studies heraus entwickelt hat - verkürzt gesagt eine Gruppe von Ansätzen, die die US-amerikanische Lesart der Kritischen Theorie auf Rechtssysteme anwendet und dabei oftmals versucht, die hinter positiven Rechtssätzen gelegenen Strukturen von Macht und Reichtum und deren Einflüsse auf die Auslegung oder Beugung des Rechts zu Tage zu fördern – heißt Intersectionality. Ihr oben genanntes Beispiel zeigt, inwiefern Diskriminierungsprozesse sich überlagern und miteinander verschränkt sind, hier also Geschlechter- und Rassendiskriminierung. Das dahinterstehende Konzept ist verallgemeinerungsfähig:"People wear many hats" - Menschen haben viele Gesichter. Intersectionality ist das Wort dafür, wenn sie für mehr als eines ihrer Gesichter Benachteiligungen erleiden müssen.

Das Programm von Intersectionality verweilt nicht bei bloß theoretischen Einsichten. Dafür wurde Crenshaw in ihren Arbeiten viel zu stark von Aktivist*innen und ihren eigenen Erfahrungen beim sogenannten "ground work", also des praktischen Engagements vor Ort, beeinflusst. Intersectionality kann dem Gesetzgeber als kautelarische Lehre praktikable und eindeutige Handlungsanweisungen an die Hand geben. Hierzu ist es hilfreich, zwei Fallgruppen hervorheben und vereinfachen.

Zunächst kann es sein, dass gegen einen Menschen – wie etwa eine afroamerikanische Frau – "doppelt" diskriminiert wird, etwa, weil ihr als Frau nach Beginn einer Schwangerschaft gekündigt wird und der Richter bei der darauf folgenden arbeitsgerichtlichen Verhandlung sie wegen ihrer Hautfarbe diskriminiert. In diesem Fall überlagern sich zwar die Diskriminierungen, aber das Problem ließe sich theoretisch auch dadurch lösen, dass Geschlechter- und Rassendiskriminierung jeweils separat bekämpft werden. Weniger so beim zweiten Fallbeispiel: in diesem hypothetischen Beispiel werden durch affirmative action Arbeitsplätze geschaffen, die bevorzugt mit Afroamerikaner*innen besetzt werden sollen; die dazugehörigen Arbeitsregularien werden aber so ausgestaltet, dass sie Frauen zumindest indirekt benachteiligen. Crenshaw beschreibt das so: "sie wollen Schwarzen helfen, aber nur einer bestimmten Art von Schwarzen." Der eine "Erfolg" – das Handeln im Bestreben der Gleichberechtigung von Afroamerikaner*innen – beseitigt die Geschlechterdiskriminierung nicht. Wie lösen? Ein Programm, das dezidiert Frauen fördert, löst das Problem nicht, sondern wäre quasi doppelt gemoppelt, denn es kann sein, dass dieses Frauenförderungsprogramm indirekt weiße Frauen bevorzugt. Die einzige Lösung: die Gleichstellung von Frauen muss in dem Programm für Afroamerikaner*innen integriert werden. Oder die Gleichstellung von Afroamerikaner*innen muss in dem Programm zur Frauenförderung integriert werden.

Intersectionality zeigt, inwiefern verschiedene Diskriminierungsprozesse in einer Person zusammenfallen können, und dass es eines Perspektivenwechsels bedarf, um solche Verschränkungen zu lösen: Antidiskriminierungsgesetze dürfen nicht in einzelnen "Silos" verteilt sitzen, handbeschriftet mit "Rassismus", "Sexismus", "Ableismus" und so weiter, sondern müssen die Verbundenheit von Problemen anerkennen und dementsprechend integrierte und gesamtheitliche Ansätze entwickeln.

Es geht ums Ganze

Die Zusammenhänge zwischen den Problemen unserer Zeit enden nicht dort, wo es um verschiedenen Formen von Diskriminierungen geht. An vielen weiteren Beispielen zeigt sich, dass es zwischen sozialen Themenfeldern auch dann Verschränkungen und Zusammenhänge gibt, obwohl sich ein Überbegriff für beide - wie etwa "Diskriminierung" - nicht naheliegenderweise finden lässt.

So ist etwa der Klimaschutz mit den Anliegen der LGBTQIAGNC+-Community verbunden. Eine Studie der Environmental Justice Foundation hat herausgefunden, dass es in den nächsten zwanzig Jahren weltweit zu zwanzig Millionen und in den nächsten fünfzig Jahren zu zweihundert Millionen Fällen der klimabedingten Migration kommen wird. Es gilt nicht nur als statistisch gesichert, dass Gewaltausschreitungen im Rahmen solcher groß angelegten Migrationsprozessen mit größerer Wahrscheinlichkeit queere Migrant*innen zum Opfer fallen. Die häufigen Ausschreitungen in deutschen Erstaufnahmeeinrichtungen gegen homosexuelle Geflüchtete liefern hierfür weitere traurige Beweise; die BBC berichtete in einer internationalen Reportage von physischer und mentaler homophober Gewalt weltweit in Einrichtungen für Geflüchtete und sogar von Deportationen und Abschiebungen mit diskriminierendem Hintergrund.

Eine weitere Studie von True Colours United zeigt, dass bei jungen und jugendlichen queeren Menschen im Vergleich zu ihren genderkonformen Altersgenossen eine hundertzwanzig Prozent höhere Wahrscheinlichkeit dafür besteht, dass sie mit vorübergehender oder dauerhafter Obdachlosigkeit in Berührung kommen. Dadurch besteht für diese wiederum eine statistisch höhere Wahrscheinlichkeit, Opfer von lebensgefährlichen Wetterbedingungen zu werden, die sich durch die Klimakrise in Zukunft häufen und bei Weitem lebenszerstörender ausfallen werden.

Weitere Fallbeispiele zeigen, dass die Verschränkungen zwischen gesellschaftlichen Problemfeldern unser heutiges und künftiges Zusammenleben geradezu ausmachen, wie etwa künstliche Intelligenz und Rassismus – der berühmte rassistische Roboter.

Die Verbundenheit moderner Probleme zeigt sich auch in einer anderen Dimension, nämlich der räumlichen. Die meisten Probleme unserer Zeit beschränken sich nicht auf ein Land allein; sie sind grenzüberschreitend, international, und müssen auch entsprechend angegangen werden. So sind Einlassungen wie diejenige, dass Intersectionality doch asschließlich ein US-amerikanisches Problem sei, da es um die distinkten Verhältnisse der US-amerikanischen Gesellschaft geht, aus ganz offenkundigen Gründen von der Hand zu weisen. Intersectionality ist zwar vornehmlich anhand US-amerikanischer Beispiele entstanden, aber als Konzept bewusst so formuliert, dass es sich auf andere Gesellschaften weitestgehend nahtlos übertragen lässt. Zudem wird das Konzept (mittlerweile) global rezipiert und auf Gemeinden vor Ort angewandt, wo der Ansatz dann eine Verfeinerung und möglicherweise auch Modifizierung erfahren kann.

"United we stand, divided we fall"

Für manche sind politische Zusammenhänge wie der zwischen Umweltschutz und Homophobie (sowie anderer Formen von LGBTQ+-Diskriminierung) klar. Für die meisten in der Bevölkerung sind sie es nicht. Die Berichterstattung in den Medien, der Unterricht an der Schule und auch die Organisation der Politik und von Aktivist*innen und NGOs trennen diese Probleme - in unterschiedliche Unterrichtsfächer, Arbeitsgruppen, Ausschüsse und Referate. In der gesamtgesellschaftlichen Wahrnehmung muss sich deshalb etwas ändern.

Die Unzulänglichkeiten des derzeit in weiten Teilen der Gesellschaft vorherrschenden Aufklärungsstandes zeigen sich, wie andere Abgründe der Menschlichkeit so häufig auch, in den Kommentaren zu dem einschlägigen Instagram-Beitrag von Extinction Rebellion. "So we're supposed to save the planet because gay?", ich soll den Planeten retten wegen Schwulen?, schreibt ein User in einem mittlerweile gelöschten Kommentar. Ein anderer schreibt "no need to politicise climate change". Noch ein anderer schreibt "#prideisatrend #beinggayisatrend".

In diesen Kommentaren kommen nicht nur Nichtwissen oder Ignoranz gegenüber den obigen, unumstößlichen Befunden zu Ausdruck. Zu behaupten, man würde durch die Verbindung eines Themas mit einem anderen dieses politisieren, mit anderen Worten also "korrumpieren", ist derjenige Satz, der gedanklich dem Vorwurf der politischen Korrektheit unmittelbar vorgelagert ist: "Social Justice Warriors" – ein despektierlicher Begriff, der von Rechtspopulisten im Internet benutzt wird, um Menschen mit progressiven Ansichten zu beschreiben – würden mal wieder alle vermeintlichen Probleme der Gesellschaft auf einen Haufen werfen und sich somit selbst ad absurdum führen. Darüber hinaus - und das dürfte noch gefährlicher sein - steckt hinter dem gewillkürten Trennen dieser verbundenen Probleme eine Strategie, die die für diese sozialen Belange streitenden Kräfte kleinzuhalten versucht. Demnach ist das Hinweisen auf die Zusammenhänge zwischen verschiedenen Formen von Diskriminierungen und Menschenrechtsverletzungen die Behauptung eines Grundübels dieser Welt, eine Verschwörungstheorie, mit der die Linke versucht, ihre Ideologie und ihr Weltbild als Rettung der Menschheit darzustellen, während sie im Geheimen die Abschaffung der Demokratie und die Zerstörung der Menschheit betreibt. So die vorherrschende Lesart der Thesen von "Intellektuellen" wie Jordan Peterson und Ben Shapiro in weiten Teilen der politischen Rechten in den USA und Europa. Wenn es die Zusammenhänge zwischen den Problemen nicht gibt, sind das, was übrig bleibt, nur noch Partikulärinteressen einiger weniger, die nicht mehrheitsfähig und somit nicht zu berücksichtigen sind. Teile und herrsche. United we stand, divided we fall.

Niemand ist eine Insel

Gegen solche Bestrebungen, die offenkundigen Zusammenhänge zwischen den Problemen unserer Zeit zu verleugnen, muss mit aller Kraft vorgegangen werden. Dafür bedarf es integrierter Unterrichtsmethoden statt durchsegmentierten Lehrplänen. Es bedarf der Schulterschlüsse zwischen verschiedenen Interessenverbänden und -organisationen, um Missstände gemeinsam anzugehen, wo diese Zusammenhänge zwischen ihren jeweiligen Anliegen aufweisen.

Die Dinge bewegen sich nun etwas. Dieses Wochenende wollen bei der jährlichen Londoner Pride-Parade etwa die (selbsternannten) Umweltrebellen von Extinction Rebellion, die gewissermaßen der radikale Ableger von Fridays for Future sind, einen Straßenzug blockieren, um dort einen Catwalk für Dragqueens zu errichten. Damit wollen sie zeigen, wie die Diskriminierung der LBGTQ+-Community, die 50 Jahre nach Stonewall weiter fortbesteht, mit dem Anliegen des Klimaschutzes zusammenhängt. "Die Umweltkrise ist ein Menschenrechtsproblem", sagen die Organisatoren. In der Tat mag schon die richtige Kommunikationsweise etwas Wahrnehmungsveränderndes stiften. Denn durch die Zurückführbarkeit der augenscheinlich auseinanderliegenden Problemfelder auf einen gemeinsamen Nenner wie den effektiven Rechtsschutzes wird sinnbildlich ein Bogen gespannt, aus dessen Blickwinkel leichter zu erkennen sein könnte, wie in einem Sachverhalt verschiedene Probleme zusammenkommen.*) **)

Vor allem bedarf es aber Politiker*innen, die entsprechend dieser Einsicht handeln und sich einem integrierten, ganzheitlichen, die Zusammenhänge der modernen Welt nicht verleugnenden Ansatz verschreiben. Und auch hier scheint sich langsam etwas zu tun. Katrín Jakobsdóttir etwa, die seit 2017 Premierministerin von Island ist, hielt kürzlich einen Vortrag an der London School of Economics, in der sie zu einem Rundumschlag ausholte und beschrieb, wie wirtschaftliche Ungleichheit, der weltweite Aufstieg der Populisten, neue Technologien, Klimawandel und Geschlechterdiskriminierung allesamt zusammenhängen. Auch sie stellte damit die Notwendigkeit eines politischen Denkens in den Vordergrund, der diesen Befund ernst nimmt. Zugegebenermaßen mag ihr politischer Roundhouse-Kick von möglicherweiße überlebensgroßen Ambitionen getragen worden sein. So verwundert es nicht, dass es ihrer Rede an konkreten Beispielen für integrierte Lösungsansätze weitestgehend fehlte. Um ihre Vision - und generell die hier dargestellte Einsicht - praktisch umzusetzen, braucht es eben praktikabler Ansätze, und hier ist die Sozialwissenschaft gefragt. Einen davon gibt es schon mal. Er heißt Intersectionality. Das ist ein Anfang, bei dem allein es nicht bleiben sollte.

*) Möglich auch, dass eine solche Herangehensweise angehenden Juristen beim Lösen von Grundrechteklausuren zugutekommen und sie davon überzeugen könnte, dass zwanzig Seiten Prüfung zu Art. 12 Grundgesetz und drei Sätze zu Art. 3 Grundgesetz entgegen ihrer Repetitor*innen nicht stets die richtige Schwerpunktsetzung darstellen.

**) Ob die Pride dafür der richtige Anlass ist oder man dadurch bei einer Veranstaltung Trittbrett fährt, die dezidiert die Wichtigkeit von "safe spaces" - in etwa geschützte Rückzugsräume - und "ownership" - der Idee, dass die Veranstaltung ausschließlich oder zuvorderst der LGBTQ-Community gehört - betont, darüber kann und sollte man streiten.

Dieser Beitrag gibt die Meinung des Autors wieder, nicht notwendigerweise die der Redaktion des Freitag.
Geschrieben von

Johannes J

Kill them with kindness. 26, Masterstudent in London, Doktorand und wissenschaftlicher Mitarbeiter an der FU Berlin.

Johannes J

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