Tränen vor Gericht: Viele Wissenschaftler sind auch radikale Klimaaktivisten
Rollentausch Cornelia Huth in Deutschland, Peter Kalmus in Amerika: Zwei Forscher engagieren sich als Klimaaktivisten – dieses Phänomen verbreitet sich immer mehr. Passt das Bild der objektiven Wissenschaft noch in unsere Zeit?
28. Oktober 2022: Cornelia Huth blockiert mit anderen Klimaktivst*innen die Karlsstraße in München
Foto: Imago
Genau 100 Sekunden bevor der Zeiger auf Punkt 12 Uhr schwingt, setzt sich Cornelia Huth mit einer kleinen Gruppe Aktivist:innen auf die Straße, vor dem Münchner Justizpalast, Ende Oktober 2022. Zwei von ihnen kleben sich auf den Asphalt, der Rest sitzt daneben, um im Notfall aufzustehen und eine Rettungsgasse zu bilden. Die Uhrzeit wurde bewusst gewählt und soll aussagen: Uns Menschen bleibt nicht mehr viel Zeit, um die Emissionen zu senken und die schlimmsten Folgen der Klimakrise abzuwenden.
„Mein Name ist Cornelia Huth. Ich bin langjährige Wissenschaftlerin und höchst besorgt über die Klimakatastrophe, die wir Menschen gerade in rasantem Tempo verursachen“, sagt sie durch ein Megafon, sie trägt dabei einen weißen Kittel. Es folgt ein 2
olgt ein 20-minütiger Vortrag, in dem die promovierte Epidemiologin die Dramatik der Klimakrise erklärt. Obwohl jährlich mehr Erkenntnisse zum Klimawandel gewonnen werden, steigt die Konzentration von Treibhausgasen in der Atmosphäre immer weiter an. Ein Ende dieser Entwicklung sieht die Forscherin nicht. „Leider haben wir inzwischen gelernt, dass es nicht ausreicht, wissenschaftliche Veröffentlichungen zu schreiben. Notwendige Maßnahmen für den Erhalt unserer Lebensgrundlage werden von den Regierungen trotzdem nicht getroffen“, schreit Huth durch den Lautsprecher. Im Hintergrund hält ein junger Mann ein Schild hoch. „Unite against climate failure“ steht dort in rot-schwarzer Schrift. Klein darunter: „Scientists Rebellion“.Wissenschaftler mit Geldstrafen von circa 13.000 Euro belegtDabei handelt es sich um einen Zusammenschluss von rund 1.200 Wissenschaftler:innen aus 26 Ländern, die Menschen für die Folgen der Klimakrise sensibilisieren möchten. Auch Huth gehört der Gruppe an und nimmt an Aktionen teil. „Worin besteht der Sinn, die Katastrophe, auf die wir zusteuern, noch detaillierter zu dokumentieren, wenn wir nichts dagegen unternehmen?“, heißt es in einer Erklärung auf der offiziellen Website. Gegründet wurde sie 2020. Was die Gruppe von anderen Zusammenschlüssen wie „Scientists for Future“ unterscheidet: Die Mitglieder üben zivilen Ungehorsam. 14 Mitglieder der Gruppe wurden in Deutschland bereits mit Geldstrafen in Höhe von circa 13.000 Euro verurteilt. Protest oder ziviler Ungehorsam unter Wissenschaftler:innen ist ein neues Phänomen, das in den letzten Jahren, vor allem unter Klimaforscher:innen, vermehrt auftritt, erklärt Reinhard Steurer im österreichischen Rundfunk. Überraschend kommen die Proteste für den Politikwissenschaftler nicht. Die Menschen vom Fach würden auf die Barrikaden gehen, „weil gerade sie wissen, dass die Klimakrise in einen Klimanotstand eskaliert ist.“Eine Umfrage vom November 2023 beschäftigt sich mit dieser neuen Entwicklung. 9.920 Wissenschaftler:innen aus 125 Ländern wurden zu ihrem Protest-Verhalten befragt. Zehn Prozent der Befragten gaben an, dass sie sich schon mindestens ein Mal bei zivilem Ungehorsam beteiligt haben, der auf die Klimakrise aufmerksam machen sollte. 23 Prozent gaben an, mindestens ein Mal gegen die Klimakrise legal demonstriert zu haben. Die Studie ist noch nicht peer-reviewed.António Guterres: „Die wirklich Radikalen sind die Länder, die die Produktion von fossilen Brennstoffen erhöhen“Fabian Dablander, der leitende Forscher der Universität Amsterdam, warnt unterdessen vor einem verzerrten Ergebnis. Vor allem die Menschen, die über die Klimakrise besorgt sind, hätten eine hohe Motivation, an der Umfrage teilzunehmen. Diese wurde an rund 250.000 Wissenschaftler:innen geschickt. Eine weiterführende Analyse der Ergebnisse kam zu dem Ergebnis, dass Wissenschaftler:innen, die zu „großen Teilen“ in Klimaforschung involviert sind, zweieinhalb Mal wahrscheinlicher bei Protesten mitmachen und mindestens vier Mal so wahrscheinlich an zivilem Ungehorsam teilnehmen, verglichen mit Wissenschaftler:innen aus anderen Fachbereichen. Eines der prominentesten Beispiele von Wissenschaftler:innen, die zivilen Ungehorsam üben, ist Peter Kalmus.Der Datenwissenschaftler arbeitet bei der Nasa in Los Angeles und ist, so wie Cornelia Huth, Teil von Scientists Rebellion. Im April 2022 erregte er weltweit Aufsehen, als er sich an das Gebäude der Bank JP Morgan Chase klebte, weil diese im großen Stil in fossile Energien investiert. Wenige Tage nach der Aktion veröffentlicht Kalmus einen Essay im Guardian, in dem er seine Motivation erklärt. In dem Text erzählt der Wissenschaftler und Vater von zwei Kindern von seiner Verzweiflung. Davon, wie er seit über einem Jahrzehnt versuche, durch andere Formen von Protest und Aktivismus ein Gehör zu finden. Wie er jedes Mal scheiterte. Über die Sorgen, die ihn antreiben, nicht nur für seine eigenen zwei Kinder, sondern für die gesamte Menschheit.„Klimaaktivist:innen werden manchmal dargestellt als gefährliche Radikale. Die wirklich Radikalen sind aber die Länder, die die Produktion von fossilen Brennstoffen erhöhen“, zitiert Kalmus António Guterres, den Generalsekretär der Vereinten Nationen.Ein Viertel der Autoren des IPCC-Berichts beteiligten sich bereits an ProtestenGuterres sei einer der wenigen Politiker:innen, die die wissenschaftlichen Befunde ernst nehmen, erzählt Kalmus in einem anderen Interview. Mit seinen Protesten, glaubt Kalmus, setz er seine wissenschaftliche Karriere aufs Spiel. „Ich würde auch lieber zuhause bei meiner Familie sitzen und wissenschaftlich arbeiten“. Die Notlage zwinge den Forscher zum Handeln. Mit seinem Handlungsdrang ist Kalmus nicht alleine.Im Fachjournal Nature Climate Change veröffentlichten fünf Klimaforscher:innen und ein Politikwissenschaftler im Sommer 2022 einen Bericht, der erklärt, warum ziviler Ungehorsam von Wissenschaftler:innen als Protestform eingesetzt werden sollte. Darin halten sie zunächst fest, dass die Rolle von Wissenschaftler:innen als Aktivist:innen von vielen bereits akzeptiert wird. Von allen Autor:innen des letzten IPCC-Berichts hätten sich beispielsweise ein Viertel bereits an einer legalen Form von Protest beteiligt. Gut 40 Prozent unterschrieben darüber hinaus mindestens eine Petition oder eine andere Art von Aufruf, die mehr Protest für das Klima forderte.Dass ziviler Ungehorsam auch von Wissenschaftler:innen ausgehe, sei wichtig, weil sie ein hohes Vertrauen in der Gesellschaft genießen. Allerdings ist dieser Schritt mit einer Hürde verbunden: Die Legitimität von Forschung basiert auf Werten wie Unabhängigkeit, Objektivität und dem Beobachter-Status. Ungehorsamkeit könnte dazu führen, dass Wissenschaftler:innen ihre Integrität verlieren.Wurde Cornelia Huth letztlich schuldig gesprochen?In mehreren Studien ist jedoch nachgewiesen, dass es in der Bevölkerung befürwortet wird, wenn Wissenschaftler:innen Stellung beziehen und für das Allgemeinwohl einstehen. Darüber hinaus seien Anforderungen wie Objektivität oder Neutralität nicht unantastbar. Vielmehr handele es sich um historisch gewachsene Annahmen, die in Frage gestellt werden können. „Wie gut passt das Bild der objektiven Wissenschaftler:innen noch in die heutige Zeit?“ – Mit dieser Frage endet der Bericht. Gut ein halbes Jahr nach der Protestaktion in München steht Cornelia Huth mit zwei weiteren Angeklagten vor dem Amtsgericht München. Der Vorwurf: Nötigung durch das Blockieren einer Straße. Bevor der Prozess startet, erhebt sich die Forscherin und hält eine Ansprache, in der sie ihre Motivation erklärt. „Wir machen das ja nicht aus Spaß“, fängt sie an zu erzählen. Schnell wird ihre Stimme zittrig, einzelne Tränen laufen hinter der Brille das Gesicht hinunter. „Aber ich protestiere lieber selbst, als dass ich es meinem 15-jährigen Sohn erlaube.“Erst durch ihren Sohn habe sich Huth intensiver mit der Klimakrise befasst. Schnell sei ihr klar gewesen: „Er hat recht.“ Ziviler Ungehorsam empfinde sie als unangenehm. Jedes Mal müsse sie sich aufs Neue überwinden, um an Aktionen teilzunehmen, denn, „es ist wichtig, dass Wissenschaftler:innen die Alarmglocken läuten und auf den Klima-Notstand aufmerksam machen.“ Mit dem Klima-Notstand, so hoffe Huth, könne man den Protest vor Gericht rechtfertigen. Am Ende wird sie für schuldig gesprochen.
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