Die plebiszitäre Versuchung

Bayern Der Bayerische Verfassungsgerichtshof hat Volksbefragungen für verfassungswidrig erklärt. Der Richterspruch ist auch einer gegen den Populismus. Vorerst

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Die plebiszitäre Versuchung

Foto: Jens Schlueter/AFP/Getty Images

Sie sollte der große basisdemokratische Wurf von Ministerpräsident Horst Seehofer (CSU) sein. Mit der Volksbefragung, seit März 2015 als Art. 88a im Landeswahlgesetz, wäre das Wahlvolk zu "Vorhaben des Staates mit landesweiter Bedeutung" gehört worden. Mit seiner Entscheidung vom Montag hat der Verfassungsgerichthof (BayVerfGH) in München das Vorhaben für nichtig erklärt. Die Begründung im Wesentlichen: Die Formen der Beteiligung des Volkes an der Staatswillensbildung seien in Art. 7 Abs. 2 der Bayerischen Verfassung abschließend aufgeführt. Ohne Änderung der Verfassung könnten neue plebiszitäre Elemente nicht eingeführt werden. Die Entscheidung erging aufgrund von Klagen der Fraktionen von SPD und Bündnis 90/die Grünen.

Tatsächlich besitzt Bayern bereits wesentlich weiter reichende Instrumente der sogenannten Volksgesetzgebung. Auf kommunaler Ebene sind das die unterschiedlichen Formen der Bürgerbeteiligung. Landesweit sind es die Begehren und Entscheide des Volkes. Mit ihnen nimmt das Wahlvolk, neben den Wahlen zur Zusammensetzung der Legislative, direkten Einfluss auf die Gesetzgebung. Wozu also eine Veranstaltung, die, weil ihr Ergebnis für Parlament und Regierung ohnehin unverbindlich gewesen wäre, allenfalls demoskopischen Wert wie jede Sonntagsfrage gehabt hätte?

Eine Antwort hat jüngst Ungarns Premier Viktor Orbán geliefert. Seine Befragung zur EU-Kontingentierung von Flüchtlingen scheiterte im Oktober zwar am Quorum der 50%. Der nachfolgende Versuch einer Verfassungsänderung machte aber die Zielrichtung deutlich: Getarnt als Volkswillen wollte sich das Exekutiv neben der grundsätzlichen Zurückweisung von Flüchtlingen eine Rückendeckung für den offenen Rechtsbruch gegenüber der Europäischen Union einholen. Dem haben sich Bevölkerung und schließlich auch das Parlament entzogen.

Aufwertung von Kabinetten zu Lasten von Parlamenten

Noch deutlicher wird es im Vereinigten Königreich nach dem Brexit. Das nicht verbindliche Votum vom 23. Juni wird von Premier Theresa May und ihrem Exekutiv nicht nur umgesetzt. Interpretiert als Auftrag an die Regierung wird es benutzt, das Parlament auszuschalten oder zu umgehen. Damit würden May und die ihren gegen das Jahrhunderte alte Prinzip der "Parliamentary sovereignty" verstoßen, haben die Richter des High Court in London befunden. Die Verschiebung des politischen Schwerpunktes vom gewählten Parlament hin zu einem Kabinett war auch nicht Gegenstand der Volksbefragung vom Juni. Das demnächst zu erwartende Urteil des Supreme Court verspricht also Spannung gerade mit Blick auf die Gewaltenteilung und die versuchte Aufwertung der Regierung zu Lasten des Parlaments.

Die Parallelität hüben und drüben des Ärmelkanals ist unverkennbar. Zitat aus einem Bericht des wissenschaftlichen Dienstes im britischen Parlament vom 30. Juni: "[P]olitically it is highly unlikely that the Government would ignore the result. Commentators think not respecting an out-vote would be political suicide". Zitat aus der Pressemitteilung des BayVerfGH vom 21.11.: "[Es] erscheint kaum vorstellbar, dass die zuständigen Organe einem durch das Volk geäußerten Willen nicht folgen".

So brachial wie Fidesz in Ungarn oder die Conservative Party in England agiert die CSU zwar nur selten. Aber auch hier geht es um die versuchte Aufwertung der Staatsregierung mithilfe eines als legitimierend auslegbaren Votums. Und es wäre ohne Weiteres vorstellbar, dass ein nur etwas skrupelloserer Ministerpräsident als der derzeitige sich den Ruf nach Grenzschließungen "als Notwehr" im Oktober 2015 würde bestätigen lassen wollen. Wer den angekündigten eigenen Bruch von Bundesrecht hinter einer Klagedrohung tarnt, ist von sonstigen Instrumentalisierungen nicht weit entfernt.

Facebookisierung bayerischer Politik

Erschwerend kommen die hinzu, die als besondere bayerische Verhältnisse gelten. Die Sozialisation aus bald 60 Jahren ununterbrochener CSU-Vorherrschaft und angefangen bei Hanns Seidel derer Ministerpräsidenten, hat aus Partei, Landtagsfraktion und Regierung eine homogene, weitgehend ununterscheidbare Sache gemacht. Die Christsozialen begreifen sich heute weniger denn je als Volks-, sondern als Staatspartei; ihre höchste Ambition ist die einer absoluten Mehrheit im Freistaat, nicht die seiner Entwicklung.

Daraus ergibt sich eine spezifische Blindheit. Der Anspruch, über alles eine alleinige staatstragende Deutungshoheit zu besitzen, hat im Fall der avisierten Volksbefragung gewaltige Lücken produziert. So fehlte jede Konkretisierung, was "landesweit" sein soll, wie bedeutend "Bedeutung" tatsächlich ist, und es fehlte jegliche Regelung zum Schutz vor Missbrauch des Instruments. Wie hätte es etwa bei der Suggestion und einer ebenso gestellten Frage ausgesehen, dass "eine Grenzschließung Notwehr" wäre? Auch dass die Rechte der parlamentarischen Opposition oder ein Initiativrecht aus dem Volk nicht vorgesehen waren, bestätigt: Hier herrscht das "l'état c'est nous".

Die ganze Hybris von Seehofers Herzensprojekt aber offenbart sich im immanenten Widerspruch: Der Stimme aus dem Volk eine Position einzuräumen, ihr aber den Verfassungsrang zu verweigern. Damit hätten die Christsozialen mit der Volksbefragung lediglich eine Echokammer hergestellt, der Zustimmungswettbewerb zu den Politiken wäre die entsprechende Filterblase. Wenn dies bei Google & Co. bis hin zur Monetarisierung geht, werden sich Parteistrategen gesagt haben, sollte das auch für politisches Kapital reichen. Und wenn nicht, hätte diese Form der Befragung ebenso leicht wieder abgeschafft werden können.

Einer derartigen Facebookisierung von Politik per Daumen-hoch-Daumen-runter hat der Verfassungsgerichtshof einen Riegel vorgeschoben. Eine "Volksbefragung stellt einen Akt der Staatswillensbildung dar" schreibt er dazu und räumt ihm den gebührenden Platz ein: Als das für ein demokratisches Staatswesen unerlässliche Recht auf Teilhabe an der Staatsgewalt. So müsste es der Bedeutung entsprechend ausgestaltet werden: Wie das Wahlrecht, wie das Volksbegehren - in der Verfassung. Nur den Christsozialen ist das bislang nicht eingefallen.

Entscheidung des Bayerischen Verfassungsgerichtshof vom 21.11.2016, Aktenzeichen Vf. 15-VIII-14 u.a., Pressemitteilung, Urteil im Wortlaut

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Geschrieben von

Joseph Seidl

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