Historiker sind sich weitgehend einig: Unter den damals politisch Verantwortlichen wollte niemand einen Weltkrieg entfesseln. Die Ermordung des österreichischen Thronfolgers durch serbische Nationalisten setzte allerdings eine Spirale von Drohungen, Ultimaten und Beistandsverpflichtungen in Gang, die das austarierte, aber labile Gleichgewicht europäischer Mächte ins Wanken brachte und den Ersten Weltkrieg entfesselte. Zur Vorgeschichte gehört das ideologisch unterfütterte Ressentiment zwischen Deutschland und Frankreich und das Streben nach nationaler Selbstbestimmung im Habsburg-Imperium. Charakteristisch für den Ersten, aber nicht für den Zweiten Weltkrieg war die Kriegsbegeisterung einer Generation junger Männer, die die vergleichsweise lange Phas
Der Westen und der Ukraine-Krieg: Warum wir einen Waffenstillstand brauchen
Umdenken In gespenstischer Weise wiederholt sich im Ukraine-Krieg die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Wenn wir den Scharfmachern weiter folgen, droht eine Eskalation, die die gesamte Welt gefährdet
Fotos: Ashley Cooper/Imago Images, Ipon/Imago Images (unten)
hase des Friedens als zunehmend dekadent empfunden hatten und glaubten sich nun auf den Schlachtfeldern bewähren zu müssen.Der Irrsinn des NationalismusEs gab nur wenige Geistesgrößen, die die Zivilcourage besaßen, sich dem bellizistischen Wahn in ihren Heimatländern zu widersetzen. Auf französischer Seite herausragend war der Humanist und Sozialist Jean Jaurès (1859 – 1914) und auf deutscher Seite der Schriftsteller Stefan Zweig (1881 – 1942). Jean Jaurès war nicht nur sozialistischer Politiker, sondern auch Historiker und Intellektueller, der das antideutsche Ressentiment in Frankreich bekämpfte und den Irrsinn des nationalistischen Taumels bis zu seiner Ermordung kritisierte. Stefan Zweig war dagegen der individualistische und sensible Schriftsteller, dem die politische Agitation, anders als Jaurès, nicht lag, aber mit bemerkenswerter Zivilcourage seinem verlässlichen politischen Urteil treu blieb. Ihm war das antifranzösische Ressentiment in Deutschland zuwider und der um sich greifende Kriegstaumel, das abstoßende Schauspiel ideologisch und politisch Verirrter. Auch die Humanistin und Pazifistin Bertha von Suttner (1843 – 1914) stellte sich gegen den Strom, die Einrichtung des Friedensnobelpreises geht auf ihre Anregung zurück, der Bellizismus war damals noch ganz überwiegend Männersache.Der große Außenpolitik-Stratege und Theoretiker der internationalen Beziehungen Henry Kissinger hatte physisch geschwächt, aber geistig präsent noch in seinem 99. Lebensjahr davor gewarnt, dass die USA an der Schwelle eines Krieges mit Russland und China stünden, getrieben von Streitfragen, an denen auch der Westen seinen Anteil habe, ohne dass auch nur in Ansätzen eine Strategie erkennbar sei, wie diese beigelegt und der Frieden dauerhaft gesichert werden könne. Er ist nicht der Einzige, dem noch aus der Zeit des Kalten Krieges und seiner mühsamen Überwindung die Angst vor einer erneuten unkontrollierbaren Eskalation bis zu einem dann dritten Weltkrieg in den Knochen steckt. Die Liste der Warner ist beeindruckend, nicht nur nach ihrer Länge, sondern auch nach ihrem politischen und intellektuellen Gewicht.Auf dieser stehen neben Henry Kissinger nicht nur der über Jahrzehnte einflussreiche Außenpolitik-Stratege George F. Kennan oder John Mearsheimer, sondern auch der politisch eher links stehende Columbia-Professor für internationale Beziehungen und Berater der Vereinten Nationen Jeffrey Sachs und in Deutschland solche Schwergewichte wie der ehemalige deutsche Bundespräsident Roman Herzog (CDU), der ehemalige SPD-Partei- und Fraktionsvorsitzende Hans-Jochen Vogel, der langjährige außenpolitische Berater von Helmut Kohl Horst Teltschik, der höchste deutsche Soldat und NATO-General Harald Kujat, der Militärberater Angela Merkels Erich Vad, der ehemalige Staatssekretär im Verteidigungsministerium Walther Stützle, auch Klaus von Dohnanyi, allesamt in der Mitte des politischen Spektrums angesiedelt und kommunistischer Neigungen oder persönlicher Sympathien für Wladimir Putin völlig unverdächtig. Sie haben teilweise über Jahrzehnte davor gewarnt, die Beziehungen zwischen den drei größten Militärmächten USA, Russland und China nach dem Ende der Sowjetunion zu destabilisieren und die Lehren aus dem Kalten Krieg und der Entspannungspolitik zu vergessen. All diese Mahnungen sind vergeblich geblieben.Diejenigen, die in ihrer politischen Biografie die Erfahrungen aus der Kriegs- und Nachkriegszeit, aus dem Kalten Krieg und der Entspannungspolitik, die beständige Sorge um eine mögliche Konflikteskalation zum Nuklearkrieg, verarbeiten mussten, sind entweder gestorben oder werden nicht mehr gehört. Tonangebend ist eine Generation, die diese Vorgeschichte allenfalls aus den Geschichtsbüchern kennt, die durch die triumphale Phase des Westens seit dem Ende der 1980er Jahre geprägt ist und diese Mahnungen in ähnlicher Weise beiseiteschiebt wie die kriegsbegeisterte Generation vor dem Ersten Weltkrieg, die die europäische Stabilitätspolitik, die auf diesem kriegerischen Kontinent für einige Jahrzehnte den Frieden gesichert hatte, in nationalistischer Begeisterung und Realitätsverlust ertränkte.Ich bin sicher, es wird die Zeit kommen, in der die Realitäten wieder ins öffentliche Bewusstsein gerückt werden. Realitäten, die aktuell von Narrativen verdrängt werden. Narrative, die eine gewaltige Wirkungsmacht entfalten und es zunehmend schwer machen, für eine Realpolitik der Friedenssicherung und der globalen Kooperation zu werben. Es ist zu hoffen, dass diese Zeit nicht erst anbricht, wenn der dritte Weltkrieg die Menschheit heimgesucht hat. Aber in einer so gefährlichen internationalen Lage darf man nicht schweigen, wenn lokale Kriege und Konflikte das Potenzial in sich tragen, die ganze Welt in einen Abgrund zu reißen.Das erste Opfer des Krieges ist die Wahrheit. In der Tat sind die Realitäten der internationalen Politik seit dem Angriff Russlands auf die Ukraine in einem Nebel von Ideologie und verantwortungslosem Gerede verschwunden. In der Propaganda Russlands handelt es sich um eine Militäroperation, die sich gegen ukrainische Neonazis richtet und die ausschließlich den Schutz der russischen Bevölkerungsminderheit in der Ukraine im Auge hat. Ideologisch verbrämt wird diese Propaganda mit der vermeintlichen historischen Mission Russlands, die Brudervölker zu einen und zu führen und sich der westlichen Dekadenz in orthodoxer Frömmigkeit und mit traditionellen Werten entgegenzustellen.Es handelt sich um einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg Russlands auf sein Nachbarland, das ist zweifellos zutreffend. Und auch das ist zutreffend: Der Westen und die Ukraine hätten diesen Krieg verhindern können, indem sie die Pläne der Aufnahme der Ukraine in die NATO gestoppt hätten. Selbst der Generalsekretär der NATO, Jens Stoltenberg, hat dies in einem Interview bestätigt. Dieser russische Angriffskrieg lässt sich nicht damit relativieren oder gar entschuldigen, dass man darauf hinweist, dass die USA ebenfalls einen völkerrechtswidrigen Angriffskrieg im Irak begonnen haben, mit noch dramatischeren Folgen für die Infrastruktur und die Zivilbevölkerung.Aber die Stilisierung der Ukraine zu einer europäischen freiheitlichen Demokratie, die sich gegen die russische Autokratie verteidigt, führt in die Irre. Die Demokratie-Rankings vor Beginn des Krieges rangierten Russland und die Ukraine nahe beieinander, beides hoch korrupte Systeme, in denen Oligarchen ihre wirtschaftliche Macht politisch ausnutzen, beides Staaten, in denen ethnische Minderheiten unterdrückt, Dissidenten verfolgt, Schwule diskriminiert werden und es keine freie Presse gibt. Seit dem Beginn des Krieges ist Russland autokratischer geworden und die Ukraine bemüht sich gegenüber ihren westlichen Unterstützern, sich als möglichst demokratiefreundlich zu präsentieren. Die Korruption hat in der Ukraine weiter zugenommen, eine freie Presse gibt es nicht mehr und die Diskriminierung russischer Bevölkerungsteile wird fortgeführt. Hier steht nicht eine freiheitliche europäische Demokratie gegen eine asiatische Diktatur, vielmehr kämpft die Ukraine um ihre nationale Souveränität und staatliche Unabhängigkeit. Dieser nationale und staatliche Selbstbehauptungskampf verdient Unterstützung. Einen Diktatfrieden Russlands darf es nicht geben.Schon ganz zu Beginn des Krieges wurde von deutschen Intellektuellen gefordert, keine Angriffswaffen zu liefern und einen baldigen Waffenstillstand anzustreben, um Friedensverhandlungen und das Ende des Tötens zu ermöglichen. Auch ich habe mich an zwei derartigen Aufrufen beteiligt, getragen von der Überzeugung, dass sich der Westen, zumal Deutschland, auf einer Gratwanderung befindet, da einerseits der Durchmarsch Russlands und die Realisierung des Ziels eines Regierungswechsels in Kiew und der Etablierung eines Satrapenstaats, der von russischem Wohlwollen abhängig ist, verhindert werden muss, andererseits aber eine Kriegsbeteiligung von NATO-Staaten und eine Eskalation zu einem Welt-, eventuell sogar zu einem Nuklearkrieg um jeden Preis vermieden werden muss. Ich war dafür, Verteidigungswaffen zu liefern, um einen Durchmarsch des russischen Militärs zu verhindern, aber dagegen, als Ziel einen umfassenden Sieg der Ukraine einschließlich der Rückeroberung der beiden Separatistengebiete im Osten und der ukrainischen Kontrolle der Krim zu formulieren.Eine verpasste ChanceAllen, die damals auf einen baldigen Waffenstillstand drängten, wurde entgegengehalten, dass dies Ausdruck eines Lumpen-Pazifismus sei, eine Wiederauflage der Appeasement-Politik gegenüber Hitler oder zumindest eine naive Fehleinschätzung der tatsächlichen Kräfteverhältnisse. Einen Monat nach Kriegsbeginn gab es den Versuch einer Einigung zwischen der Ukraine und Russland, verhandelt auf türkische und israelische Vermittlung in Istanbul. In diesen Verhandlungen legte die Ukraine am 29. März 2022 ein Positionspapier vor, das die Neutralität der Ukraine und Sicherheitsgarantien vorsieht, die sich nicht auf die Krim, Sewastopol und die beiden Seperatistengebiete im Osten erstrecken, sowie die Mitgliedschaft in der EU. Innerhalb von 15 Jahren sollte der Status der Krim und Sewastopols in bilateralen Verhandlungen geklärt werden. Nach übereinstimmenden Berichten der an der Vermittlung Beteiligten scheiterte die Vereinbarung am Einspruch der USA und Großbritanniens.Die Bereitschaft der Ukraine zu einem Kompromiss passte nicht ins westliche Narrativ, entsprechend wird diese Realität bis heute geleugnet. Als der ukrainische Außenminister Ende 2022 zu einer internationalen Friedenskonferenz aufrief, verhallte sein Ruf auch im Westen ohne Gehör. Die Erwartung dominierte offensichtlich in den Entscheidungszentren der meisten westlichen Staaten, dass mit westlicher Unterstützung eine ukrainische Offensive möglich sei, die Russland aus den neu eroberten Gebieten zurückdrängen und im günstigsten Fall auch die Krim wieder unter ukrainische Kontrolle bringen würde. Heute, zwei Jahre nach Beginn des Krieges, kann kein Zweifel mehr bestehen, dass es sich um eine Fehleinschätzung handelt. Diese hat Hunderttausenden von Soldaten und Zehntausenden von Zivilisten das Leben gekostet. Die vermeintlichen Idealisten, die die Chancen eines Waffenstillstands und anschließender Friedensverhandlungen frühzeitig ausloten wollten, waren näher an der Realität als die Scharfmacher aus Politik und Medien.In gespenstischer Weise wiederholt sich die Erfahrung des Ersten Weltkriegs. Auf beiden Seiten des Rheins wurde damals von einem raschen Sieg über den Gegner ausgegangen. Tatsächlich bewegte sich nach den ersten Monaten so gut wie nichts mehr, ausgenommen die Särge der sinnlos verstorbenen Soldaten in einem blutigen Stellungskrieg. Die geschmähten Pazifisten hatten damals wie heute recht. Wer das leugnet, leidet unter Realitätsverlust. Ayn Rand: „You can ignore reality, but you cannot ignore the consequences of ignoring reality“ – man kann die Realität ignorieren, aber man kann die Folgen des Ignorierens von Realitäten nicht ignorieren.Nun besteht die Gefahr, dass das Ignorieren der Realitäten dieses Konfliktes zu einer erneuten und nun die ganze Welt gefährdenden Eskalation führt. Statt angesichts dieses sinnlos gewordenen Stellungskriegs an die Friedensbemühungen zwischen der Ukraine und Russland vom März 2022 anzuschließen, sollen nun westliche Wunderwaffen die Wende bringen und die dramatische Fehleinschätzung des Kräfteverhältnisses vergessen machen. Die Debatte um die Taurus-Lieferung von deutscher Seite ist möglicherweise erst der Anfang. Einmal angenommen, die Ukraine verfügte über diese Waffe mit einer Reichweite von 500 Kilometern und sie würde effektiv eingesetzt. Glaubt irgendjemand ernsthaft daran, dass Russland darauf nicht reagieren würde?Haben sich einmal die Taurus-Befürworter, die in der deutschen Bevölkerung in der Minderheit, in der deutschen Politik aber in der Mehrheit sind, klargemacht, in welcher Weise Russland auf einen Angriff auf seine Städte reagieren würde? Fällt niemandem auf, wie vergleichsweise niedrig die Opferzahlen in der ukrainischen Zivilbevölkerung sind, niedriger als diejenigen in dem viel kürzeren Krieg im Gazastreifen und ein Bruchteil gegenüber den zivilen Opfern als Folge des zweiten Irakkriegs der USA? Warum die russische Führung darauf besteht, dass Russland nicht mit der Ukraine im Krieg sei, sondern nur eine Militäroperation durchführe? Woran es liegt, dass die russische Marine in Sewastopol verblieben ist und nicht etwa die ukrainischen Küstenstädte angegriffen hat? Warum die russische Luftwaffe bislang nur ganz punktuell zum Einsatz gekommen ist? Warum die russische Regierung bisher keine Generalmobilmachung verfügt hat? Eine realistische Sicht auf die militärische Lage muss berücksichtigen, das Russland neben den USA die größte Nuklearmacht der Welt ist, über eine gewaltige Rüstungsindustrie verfügt und im Notfall auf die Unterstützung Chinas zurückgreifen kann. Es ist unterdessen eingetreten, wovor der SPD-Intellektuelle Erhard Eppler einmal gewarnt hatte, dass eine mangelnde Einbindung Russlands zu einer neuen Blockbildung mit China führen könnte und der Westen daran kein Interesse haben kann.Droht eine neue Blockbildung?Der vom Westen wie von Russland seit den 1990er Jahren befeuerte Konflikt innerhalb der Ukraine um ihre Ost- beziehungsweise Westorientierung ist geeignet, die Welt erneut in zwei dominierende Blöcke aufzuteilen, mit einem Süden, der mit mehr oder weniger Erfolg versucht neutral zu bleiben. Auf der einen die USA und Europa, auf der anderen China und Russland – mit Indien, Brasilien, Südafrika und den meisten anderen Ländern des sogenannten Globalen Südens als mehr oder weniger neutralen Staaten. Die Hoffnungen, dass sich die Welt auf eine gemeinsame internationale Rechtsordnung verständigt, dass sie die globalen Herausforderungen wie Klimawandel, anhaltendes Elend in weiten Regionen der Welt, den Schutz der Biosphäre in globaler Kooperation bewältigen würde, wären endgültig verloren. Die wechselseitigen Vorteile intensivierten internationalen Handels ließen sich nicht mehr realisieren, demokratische Staaten würden mit demokratischen Staaten Handel treiben und ihre Wirtschaftsbeziehungen zu nicht demokratischen Staaten kappen. Die Leidtragenden wären die Armutsregionen der Welt und die Zukunftschancen der Menschheit.Der Zeitpunkt für einen Waffenstillstand und anschließende Friedensverhandlungen ist gekommen. Ziel muss eine Sicherheitsarchitektur in Europa sein, die das realisiert, was Theoretiker der Sicherheitspolitik seit Jahrzehnten konzipiert haben, nämlich strukturelle Nichtangriffsfähigkeit. Das zentrale Prinzip der Friedenssicherung, dass niemand sicher ist, wenn nicht alle sich sicher sind, muss wieder zur Leitschnur werden. Ausgangspunkt sind die Interessenlagen aller Beteiligten, das überragende ethische Ziel ist, einen gerechten Frieden so zu sichern, dass diese Interessenlagen berücksichtigt werden und Stabilität auf Dauer gesichert ist. Wer jetzt noch an einen umfassenden Sieg der Ukraine glaubt, leidet an Realitätsverlust oder ist bereit, einen dritten Weltkrieg zu riskieren.
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