"Ich tue nichts Falsches"

Interview Wer in Ungarn Flüchtenden hilft, macht sich strafbar. Ein geheimes Netzwerk bringt trotzdem jede Nacht Menschen in sichere Unterkünfte
Ausgabe 37/2015

Vor der Halle des Bahnhof Keleti in Budapest steht Rosa (Name von der Redaktion geändert), eine unauffällige Frau mit Brille und ausgeblichener Strickjacke, und lächelt schüchtern zur Begrüßung. Normalerweise ist sie nicht hier, denn ihre Arbeit muss im Verborgenen stattfinden. Rosa ist der Kopf eines Netzwerkes sogenannter Safe Houses, welche besonders bedürftigen Flüchtlingen über Nacht Schutz bieten. Die Unterstützung illegaler Flüchtlinge ist in Ungarn per Gesetz verboten. Schon jemandem sein Handy zu leihen, kann strafbar sein. Trotzdem hat das Netzwerk Migration Aid, zu dem auch Rosa gehört, 30.000 Mitglieder auf Facebook. Rund 1.500 Ungarn arbeiten im Land aktiv mit.

Am Bahnhof ist es am Montag ruhig, seit Österreich und Deutschland ihre Grenzen geöffnet haben. Doch niemand weiß, wie lange die Ausnahmeregelung Bestand haben wird. Die Regierung Viktor Orbáns plant unterdessen ein Einwanderungsnotstandsgesetz, das am 15. September in Kraft treten soll und die Einreise über die Balkanländer faktisch unmöglich macht – und es der Polizei erlaubt, noch schärfer gegen die freiwilligen Helfer vorzugehen.

der Freitag: Warum müssen Sie im Geheimen agieren?

Rosa: Es gibt ein Gesetz, das es verbietet, Flüchtlingen dabei zu helfen, illegal in Ungarn zu bleiben. Das Verrückte ist aber, dass die Registrierungspapiere der Flüchtlinge nur 24 Stunden gültig sind. Haben sie bis dahin kein Asyl in Ungarn beantragt – was kaum jemand tut, weil eigentlich niemand hier bleiben will –, sind sie bereits illegal. Auf die Unterbringung dieser Menschen stehen bis zu zwei Jahre Gefängnis. Aber das ist mir völlig egal. Es hält uns nicht davon ab, den Menschen zu helfen.

Haben Sie keine Angst?

Doch. Aber nicht um mich. Ich bin eine verwitwete Frau mit vier erwachsenen Töchtern. Ich lebe alleine, bin nicht auf Sozialhilfe angewiesen. Die Polizei kann mir nicht viel antun. Aber ich habe Angst, was mit meinen Gästen passieren würde, meiner Familie und mit den anderen freiwilligen Helfern. Mit dem neuen Notstandsgesetz kann die Polizei bei Verdacht auf illegale Unterbringung auch ohne richterliche Vorlage Häuser durchsuchen oder Handys konfiszieren.

Wie muss man sich so ein Safe House vorstellen?

Es sind eigentlich keine richtigen Häuser, auch wenn wir sie so nennen. Eine dieser Notunterkünfte ist ein Keller, eine andere ein Souterrain. Wir nutzen auch eine Disco, die einfach zumacht, wenn sie für Flüchtlinge gebraucht wird. Die meisten Orte liegen zentral in Budapest. In unserem ungarischen Netzwerk gibt es aber auch einzelne Personen, die Menschen mit zu sich nach Hause nehmen. Einer unserer Freiwilligen brachte kürzlich 15 Afghanen bei sich unter.

Zivile Netzwerke im Westbalkan

Ehrenamtlich und in Vollzeit – so arbeiten Helferinnen und Helfer meist entlang der sogenannten Westbalkan-Fluchtroute. In Mazedonien und Serbien arbeitet eines der größten Netzwerke namens Legis eng mit NGOs wie dem UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR oder Ärzte ohne Grenzen zusammen. Die überforderten Behörden und die Polizei nehmen die Hilfe der lokalen Freiwilligen dankbar an. An einem der Brennpunkte, dem Grenzübergang zwischen Mazedonien und Serbien, ist Legis seit Herbst im Schichtdienst rund um die Uhr im Einsatz. Schwerer hat es eines der größten Netzwerke in Ungarn, Migration Aid. 1.500 Mitglieder sind ständig aktiv, alle im rechtlichen Graubereich und abhängig von der Kulanz der Polizei, die selbst nicht mit den Freiwilligen spricht. Menschen, die sich in Ungarn engagieren, müssen nicht nur Strafgelder und Haft fürchten, sondern auch um ihren Arbeitsplatz. Andere hingegen schaffen es ohnehin nicht mehr, nebenbei noch zu arbeiten. Sie leben von ihren Ersparnissen. Lesen Sie die Reportage zum Thema "Die Netzwerke der freiwilligen Helfer" auf freitag.de JL

Wie organisieren Sie das?

Wir sind eine ehrenamtliche Graswurzelbewegung, keine feste Organisation. Die Freiwilligen unseres Netzwerks warten an den Bahnhöfen auf die Ankunft der Züge und bringen die Flüchtenden in die Unterkünfte. Dort bekommen sie Essen, können duschen, es gibt gespendete Kleidung. Am nächsten Morgen werden sie von anderen Freiwilligen wieder abgeholt.

An manchen Tagen kommen Hunderte oder Tausende in Budapest an. Wie wird entschieden, wer in die Safe Houses darf?

Kranke Kinder und Frauen haben Priorität, dann kommen die kranken Männer, dann Familien. Und Menschen, die extrem erschöpft sind. Die Freiwilligen unseres Netzwerkes arbeiten über Facebook mit anderen Aktivisten in Ungarn, Serbien und Mazedonien zusammen. Sie wissen schon bei der Ankunft der Züge genau, wer darin sitzt. Ich schaue dann, wie alle untergebracht werden können. Wer letztlich mitgenommen wird, entscheiden die Freiwilligen vor Ort an den Bahnhöfen.

Wie viele Menschen bringen Sie jede Nacht unter?

Jede Nacht etwa 20 bis 25, maximal 37. Insgesamt werden rund 100 Flüchtlinge pro Nacht in sechs verschiedenen Safe Houses untergebracht.

Wie klappt die Verständigung mit den Geflüchteten?

Ich spreche kein Englisch oder Arabisch. Aber wir haben freiwillige Übersetzer, die vor Ort oder über ein Telefon helfen. Wir arbeiten mit rund 60 freiwilligen Übersetzer zusammen. Irgendjemand ist per Handy immer erreichbar.

Rosa ist 44 Jahre alt und arbeitet als Sozialhelferin für Roma in Budapest. Ihren echten Namen kann sie nicht nennen. Seit November letzten Jahres organisiert sie zusammen mit ihren Töchtern die geheime Unterbringung von Geflüchteten in Safe Houses

Warum sind die Safe Houses notwendig?

Es gibt viele, die eine besondere Versorgung brauchen, Kinder, Menschen mit Diabetes oder Frauen mit Säuglingen. Es sollte zwar niemand draußen schlafen müssen, aber sie sind besonders in Gefahr. Sie müssen sich außerdem nach ihrer langen Reise ausruhen und sie haben noch einen weiten Weg vor sich.

Warum sind sie in Gefahr?

Wir hatten vor kurzem einen starken Sturm, zwei Tage und Nächte lang. Außerdem wird es bald Herbst und die Winter in Ungarn sind kalt. Diese Menschen werden draußen nicht überleben. Die Regierung stellt ihnen keinerlei Unterkunft oder Hilfe zur Verfügung.

Sind die Flüchtlinge auch in Gefahr vor Polizei oder Behörden?

Kürzlich kam ein syrischer Mann mit seinem kleinen Sohn bei mir unter. Der Junge hatte eine Verletzung am Fuß, also krempelten wir ihm die Hose hoch, um ihn zu verarzten. Da sahen wir rote Punkte auf seinem Bein, von ausgedrückten Zigaretten. Wir zogen ihn weiter aus und fanden noch mehr Zigarettenverbrennungen, auch auf der Brust. Wir fragten, was passiert sei. Der Vater sagte, das sei die ungarische Polizei gewesen. Ich bin nicht sicher, es könnten auch Paramilitärs gewesen sein – auf jeden Fall Menschen in Uniform.

Was würde passieren, wenn die Polizei eines Ihrer Safe Houses entdecken würde?

Es hängt alles davon ab, ob die Geflüchteten gültige Registrierungspapiere haben. Wir sagen uns: Wir sind nur ungarische Bürgerinnen und Bürger und haben gar nicht das Recht, Menschen nach ihren Papieren zu fragen. Also können wir gegenüber der Polizei sagen, dass wir es nicht besser wussten. Aber uns ist klar, dass dieses Argument vor einem Gericht niemals Bestand haben würde. Ich selbst finde nicht, dass ich etwas Illegales tue – ich nehme ja kein Geld oder Spenden von den Flüchtenden an.

Wie geht es für die Flüchtenden nach den Safe Houses weiter?

Sie werden zurück zum Bahnhof gebracht, falls sie dort Züge nach Deutschland und Schweden nehmen können. Oder wir bringen sie in den Autos Freiwilliger unter, solange der Weg nach Österreich offen ist. Einige versuchen es auch mit Schmugglern. Als ich von den 71 Toten im Kühllaster in Österreich hörte, war mein erster Gedanke: Lieber Gott, hoffentlich ist niemand darunter, den ich gerade kennengelernt habe.

Was raten Sie den Menschen für ihre weitere Flucht?

Wir Freiwilligen haben einen Grundsatz: Wir geben niemals Tipps, denn wir können die Situation der Geflüchteten nicht einschätzen. Am Ende des Tages sind sie es, die das Risiko tragen und dafür zahlen, wenn etwas schiefgeht. Das Beste, was wir machen können, ist, ihnen Informationen zu geben, damit sie überhaupt eine Wahl haben. Abgesehen davon wäre aber auch das schon strafbar – ein Rat zur Weiterreise.

Ihr Engagement ist weit mehr als alltägliche Zivilcourage. Was ist Ihre Motivation?

Eine meiner Töchter fing damit an, ich konnte sie nicht stoppen. Die Menschen sind eben hier, da kann ich nicht wegsehen. Ich bin Sozialarbeiterin. Ich empfinde das schlicht als unsere Pflicht, denn der Staat reagiert nicht.

Das Gespräch führte Juliane Löffler

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Geschrieben von

Juliane Löffler

Onlinerin beim Freitag. Quelle: Papier

Juliane Löffler

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