Taiwan - Inseldemokratie sucht Anerkennung

Vor zwanzig Jahren Die erste Hälfte der 1990er Jahre war wohl die intensivste Phase der taiwanischen Demokratisierung. Diese Jahre führten zu freien Wahlen auf allen staatlichen Ebenen.

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Während des ersten USA-Besuchs von Taiwans Präsident Lee Teng-hui 1995 demonstrieren Taiwaner vor dessen Hotel für ein unabhängiges Taiwan.
Während des ersten USA-Besuchs von Taiwans Präsident Lee Teng-hui 1995 demonstrieren Taiwaner vor dessen Hotel für ein unabhängiges Taiwan.

Foto: DAN GROSHONG/AFP/Getty Images

1. Eine Demokratie stellt sich vor (1995)

Es sei ein langer und schwieriger Weg gewesen, so der Präsident. Aber nun stand er am Rednerpult seiner alma mater, der Cornell University im US-Bundesstaat New York, und hielt im Rahmen der Olin Lectures seine Rede.

Er vertrete, erklärte der Präsident seinen Zuhörern, ein Land mit einem Pro-Kopf-Einkommen von zwölftausend US-Dollar, einem Außenhandel von 180 Milliarden US-Dollar, und Devisenreserven von 99 Milliarden US-Dollar, übertroffen nur von Japan.

Sein Land habe sich von einem Entwicklungsland zu einem Industrieland entwickelt, und in einem friedlichen politischen Übergang zu einer Demokratie.

So weit, so gut. Solche Geschichten kann man so oder ähnlich von fast jedem Präsidenten der Welt hören. Aber diese Geschichte, erzählt am 9. Juni 1995 an der Cornell-Universität, entsprach der Wahrheit. Und der Präsident, der sie erzählte, wurde während seines Amerikabesuchs von seinem amerikanischen Amtskollegen Bill Clinton nicht begrüßt, sondern gemieden.

Denn zwischen Taiwan, dem Herkunftsland des Redners, und Amerika, gab es keine amtlichen diplomatischen Beziehungen. Washington erkannte die chinesische Regierung in Beijing an, die Anspruch darauf erhob, sowohl China als auch Taiwan zu vertreten.

Dass der seinerzeitige Präsident Taiwans, Lee Teng-hui, überhaupt amerikanischen Boden hatte betreten dürfen, verstand sich nicht von selbst. Er war kein Staatsgast, sondern Gast der Universität.

Aber sein Anliegen war nicht das eines gelernten Agrarökonoms oder eines Akademikers, sondern das eines Politikers:

Ich betrachte die Einladung zur Teilnahme an diesem Treffen in Cornell nicht nur als eine persönliche Ehre, sondern - viel wichtiger - als eine Ehrung für die 21 Millionen Menschen der Republik China auf Taiwan. Tatsächlich stellt diese Einladung die Anerkennung ihrer bemerkenswerten Leistungen in der Entwicklung ihrer Nation in den vergangenen Jahrzehnten dar. Und bei dieser Gelegenheit möchte ich vor allem über die Menschen meiner Nation reden.

Dieses Versprechen erfüllte Lee allenfalls zur Hälfte. In weiten Teilen seiner Rede ging es um ihn selbst. Wie er in Amerika und Taiwan zugehört und gelernt habe. Dass er das, was er sage, im Namen seines Volkes sage. Dass er die Sehnsucht seines Volkes ausdrücke, positive Beiträge zur Weltgemeinschaft zu leisten, mit der taiwanischen Erfahrung - Entwicklung und Demokratie.

2. Lee Teng-hui

Schon damals, vor zwanzig Jahren, galt Lee Teng-hui als "Vater" der taiwanischen Demokratie, auch wenn sich über das endgültige Ziel oder den schließlichen Erfolg der Demokratisierung noch nichts Endgültiges sagen ließ.

Lee war, wie alle Taiwaner seiner Generation (und der Generation vor ihnen) als Untertan japanischer Kaiser aufgewachsen. Taiwan war von 1895 bis 1945 japanische Kolonie gewesen. Als Kolonie Japans hatte Taiwan mit Japan weniger schlechte kollektive Erfahrungen gemacht als China im japanischen Krieg von 1937 bis 1945. Und Teile der taiwanischen Bevölkerung - insbesondere seine Eliten, und davon keineswegs nur die obersten gesellschaftlichen Schichten - wurden von den japanischen Eliten kooptiert. Lee Teng-huis Familie dürfte dazugehört haben. Lee Teng-huis Bruder Lee Teng-chin kam als Soldat der japanischen Streitkräfte ums Leben. Sein Name ist im international umstrittenen Yasukuni-Schrein verzeichnet, in dem auch mindestens 14 hochgradige Kriegsverbrecher gelistet sind.

Lee Teng-hui will auch den Kommunismus ausprobiert haben - aus Hass gegen die Kuomintang (KMT), die Nationalistische Partei Chiang Kai-sheks, die 1949 nach ihrer Niederlage gegen die Kommunisten Mao Zedongs nach Taiwan floh, um von dort die "Rückeroberung des chinesischen Festlands" durchzuführen.

Nach dem Kommunismus versuchte Lee es mit dem Christentum, mit offenbar dauerhaftem Erfolg. Und schließlich ließ er sich von der mehr oder weniger verhassten KMT kooptieren: 1971 trat er der Einparteiendiktatur bei; wurde kurz darauf Landwirtschaftsminister, 1978 Bürgermeister Taipeis, und 1984 Vizepräsident. Chiang Ching-kuo, Sohn Chiang Kai-sheks und dessen präsidialer Nachfolger von 1978 bis 1988, verfolgte eine Personalpolitik, mit der "eingeborene" Taiwaner wie Lee mehr Einfluss erhalten sollten, zu Lasten der mit der Chiang-Dynastie aus China geflohenen KMT-Altfunktionäre.

1988 starb Chiang Ching-kuo. Das Zentralkomitee der KMT wählte Lee zum Parteivorsitzenden und machte ihn zum Präsidenten der Republik China auf Taiwan.

Lee hatte also viel ausprobiert und noch mehr erreicht. Und er verfügte über einen beträchtlichen Gestaltungswillen.

3. Der Volkswille, die Henne, und das Ei

Darüber, was ein Volk will, oder ob es eigentlich etwas wollen kann, lässt sich streiten.

When a man follows the leader, he actually follows the mass, the majority group that the leader so perfectly represents,

schrieb Jacques Ellul in den 1960er Jahren1), und fügte hinzu:

The leader loses all power when he is separated from his group; no propaganda can emanate from a solitary leader.

Grundsätzlich scheint zu gelten, dass politische Führer in einer demokratisch verfassten Massengesellschaft über relativ wenig Gestaltungsmöglichkeiten verfügen. Aber Lee war zu einem ungewöhnlichen Zeitpunkt Präsident geworden. Längst verlangten Oppositionsgruppen, darunter "illegal" gegründete politische Parteien, die Aufhebung des jahrzehntelangen "Ausnahmerechts", mit denen die KMT ihre Diktatur begründete. Und als Lee zwei Jahre nach seinem ersten Amtsantritt als Präsident im März 1990 seine zweite Amtsperiode begann, besetzten Studenten den heutigen Liberty Square im Zentrum von Taipei, unweit der Chiang-Kai-Shek-Gedächtnishalle, des Taipeier Kulturzentrums und des Präsidentenpalastes. Kaum war Lee Teng-hui erneut vereidigt, empfing er eine Abordnung von fünfzig Studenten. Er versprach die Demokratisierung Taiwans, weniger als ein Jahr nach dem Tiananmen-Massaker auf dem chinesischen Festland.

Die Demokratisierungsschritte waren nicht nur Ideen der taiwanischen Opposition oder auch Lees gewesen. Ähnliches, wenn auch mit größerer Zurückhaltung, mochte schon Chiang Ching-kuo vorgehabt haben, und der amerikanische Einfluss auf Taiwan war auch nach dem Wechsel der diplomatischen Anerkennung Washingtons von Taipei nach Beijing 1979 groß geblieben. Mit dem 1978 gestorbenen Chiang Kai-shek allerdings, der bis 1949 mehr oder weniger weite Teile Chinas beherrscht hatte, wäre ein großes Blutbad sehr viel wahrscheinlicher zu haben gewesen als demokratische Reformen.

4. Auf Hochtouren (1996)

Lee Teng-huis Rede an der Cornell-Universität war Teil des ersten Präsidentschaftswahlkampfes seit der Machtübernahme der KMT auf Taiwan. Für die gebührende Aufmerksamkeit sorgten schon die taiwanischen Medien, die Mitte der 1990er Jahre noch sehr weitgehend unter KMT-Einfluss standen. Schon am 6. Juni 1995 berichtete das taiwanische Inlandsradio ausführlich über Lees Amerikabesuch, und am 10. Juni Ortszeit erreichte die Berichterstattung mit Lees Rede an der Cornell-Universität ihren Höhepunkt.

Schon damals - Lee steuerte einen überzeugenden Wahlsieg im März 1996 an - gab es in der KMT und außerhalb Zweifel an Lees Loyalität zum KMT-Ziel der "chinesischen Einheit" des Festlands und Taiwans. Im Sommer 1999, gegen Ende seiner ersten demokratischen Amszeit - es war gleichzeitig seine letzte gesetzlich zulässige Wiederwahl gewesen - definierte Lee in einem Interview mit der "Deutschen Welle" Taiwans Beziehungen mit China als zwischenstaatliche Beziehungen. Beijing reagierte zum wiederholten Male empört auf den "Spalter" im Taipeier Präsidentenpalast.

5. Die "neue Zentralebene"

Viel spricht dafür, dass Lee im Jahr 2000, als seine Präsidentschaft endete, über KMT-interne Parteiintrigen einen Wahlsieg der oppositionellen DPP und ihres Kandidaten Chen Shui-bian begünstigte und mit einem politischen Machtwechsel - zu Lasten seiner Partei allerdings - das Demokratisierungsprojekt zum Abschluss brachte. Zu einer taiwanischen staatlichen Unabhängigkeit äußerte Lee sich mal radikaler als die heutigen KMT-Politiker, manchmal aber auch weitgehend in ihrem Sinne.

Und er blieb auf der Suche nach Wegen und Visionen für Taiwan. In einem 1999 veröffentlichten Buch2) konzentrierte sich Lee auf die chinesischen Traditionen seines Landes, aber ohne dass dabei erkennbar geworden wäre, ob er sich dabei auf das Land China oder das Land Taiwan beziehe.

Meine aktive Befürwortung der "Reform von Herz und Seele" in den letzten Jahren beruht auf meiner Hoffnung, dass die Gesellschaft ihren alten Rahmen verlassen und aus einer Transformation der Herzen der Menschen neues Denken anwenden, einer neuen Ära ins Auge schauen und neue Energie schöpfen kann. Dies geht tiefer als politische Reform und ist ein schwierigeres Transformationsprojekt, aber wir sind zuversichtlich dass wir auf der Grundlage der existierenden Grundlagen von Freiheit und Offenheit die Schaffung einer neuen zentralchinesischen Ebene zustandebringen werden.

Lee hatte den Begriff einer neuen zentralchinesischen Ebene erstmals 1996 verwendet bzw. geprägt. Darüber, was genau er damit meinte oder immer noch meint, streiten die Gelehrten.

Um die Ebenen Chiang Kai-sheks aber handelt es sich ganz sicher nicht. Und um diejenigen des chinesischen Auslandsfernsehens vermutlich auch nicht.

Aber ohne die KMT, die ihn 2001 aufgrund seiner "Taiwanisierungsumtriebe" ausschloss, und ohne öffentliches Amt, verfügt Lee natürlich nicht mehr über die Reichweiten der 1990er Jahre.

Oder, wie der Propagandaexperte Jacques Ellul es in den 1960ern ausdrückte: Moses - isoliert von den Massen - is dead on the propaganda level.

Vergleichsweise "chinesisch", technokratisch effizient, aber propagandistisch eher erfolglos agierte von 2008 bis heute der taiwanische Präsident Ma Ying-jeou, wiederum von der KMT. Nun versucht erneut eine "Taiwanerin" ihr Glück: Tsai Ing-wen, Präsidentschaftskandidatin der oppositionellen Demokratischen Fortschrittspartei (DPP), ist auf Amerikatour. Im März 2016 wählt Taiwan Ma Ying-jeous Nachfolger - oder seine Nachfolgerin.

____________

1) Jacques Ellul: Propaganda, the Formation of Men's Attitudes, Paris 1962, 2008, New York 1965, S. 97

2) Lee Teng-hui: Taiwan de zhuzhang (Taiwans Standpunkt), Taipei, 1999

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Kuomintang (KMT), Gründungspartei der Republik China von 1912, nach Flucht der Republikaner auf die Insel Taiwan dort eine Einparteiendiktatur, seit 1993 Demokratisierung Taiwans, und der KMT. In der Opposition von 2000 bis 2008.

Ein-China-Politik, Anspruch Beijings, sowohl China als auch Taiwan zu vertreten. Bis in die 1990er Jahre erhob auch Taipei als Republik China diesen Anspruch. Nur noch wenige Staaten weltweit unterhalten offizielle diplomatische Beziehungen zu Taiwan. Inoffiziell sind "Handels"-, "Kulturbüros" und "Institute" die Botschaften des Auslands in Taiwan (und umgekehrt). Ein Austausch zwischen den politischen Klassen Taiwans und des Auslands findet vor allem durch Parlamentsabgeordnete, vormalige hochrangige Offizielle (auch Ex-Präsidenten) und Bewerber um hohe politische Ämter (potenziell zukünftige hochrangige Offizielle) statt.

Prestige Taiwans. regional, zum Teil auch international, spielt Taiwan eine wichtige ökonomische Rolle als Handelsmacht und Investor. In China (in der Bevölkerung) weit verbreitete Bewunderung für die Demokratisierung Taiwans, häufig verbunden mit dem Wunsch, Taiwan möge nur der Anfang eines demokratischeren Chinas sein. Als politisches System mit einem Eigenleben, unabhängig von China, stellt man sich Taiwan in China nie oder fast nie vor.

Wesentlicher Unterschied Taiwans zu Hong Kong oder Macau, selbst in chinesischer Vorstellung: Taiwan ist die "Republik China" (wenngleich in Anführungszeichen), und keine Kolonie fremder Mächte. Zumindest formell ist damit die jeweils regierende Partei Taiwans, vor allem aber die KMT, ein Gesprächspartner, mit dem man reden kann, und nicht nur "über" ihn, wie im Falle Hong Kongs und Macaus mit Großbritannien und Portugal.

Unabhängigkeit Taiwans. Die Inselrepublik gilt als faktisch unabhängig. Formal vertritt sie ihre Eigenstaatlichkeit als Republik China (auf Taiwan). International Einfluss nimmt Taiwan vor allem durch seine herausragende wirtschaftliche und gesellschaftliche Position. Ohne eine im Taiwan Relations Act ausgedrückte amerikanische Bereitschaft, Taiwan in dem Fall militärisch beizustehen, dass es unnötig gefährdet (unnecessarily endangered) sei, wäre eine faktische taiwanische Unabhängigkeit kaum noch denkbar.

Opposition / Tsai Ing-wen: Tsai ist die Bewerberin der größten oppositionellen Partei, der DPP, für die Präsidentschaftswahlen 2016.

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Ich bin ein Transatlantiker (NAFO)

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