Die DDR trat friedlich der BRD bei

Wiedervereinigung Der Mythos vom „Untergang des SED-Staats“ wird weiter erzählt. 30 Jahre nach der Einheit missachtet die Politik noch immer die historische Leistung der Ost-Bürger
Ausgabe 41/2020
Wenn, wie unlängst geschehen, die Wiedervereinigung gefeiert wird, ist von diesem zweiten demokratischen Staat auf deutschem Boden nie die Rede
Wenn, wie unlängst geschehen, die Wiedervereinigung gefeiert wird, ist von diesem zweiten demokratischen Staat auf deutschem Boden nie die Rede

Foto: Steinach/Imago Images

Wenn ein Ereignis lange Zeit zurückliegt, sagen die Leute manchmal, dass es nicht mehr wahr ist. Kann man das auch vom „Untergang der DDR“ sagen? Immerhin ist ihr Ende jetzt 30 Jahre her. Ist denn das, was wir von diesem Land und seinen Menschen meinen zu wissen, überhaupt noch wahr? Und: Ist es das jemals gewesen? Mit dem Bild, das die offizielle Geschichtspolitik vom SED-Staat zeichnet, können ohnehin nur wenige gelernte DDR-Bürger etwas anfangen. Haben doch in dem Land eben nicht nur Täter und Opfer gelebt. Und selbstverständlich hat es dort ein richtiges Leben im falschen gegeben.

Adorno, von dem das Diktum stammt, hat sich mit der DDR nie groß beschäftigt – wie die meisten Wessis, die sich heute allenfalls an Rausch und Ritual der Wiedervereinigung erinnern: Die Mauer war gefallen, Hunderttausende Ossis riefen „Wahnsinn!“, und der marode DDR-Staat dämmerte vor sich hin. Erst Helmut Kohl gab den „Brüdern und Schwestern“ eine Perspektive: die deutsche Einheit.

Neben der Entwertung von Millionen Biografien wird in diesem Geschichtsbild auch der Umstand komplett ausgeblendet, dass sich die Menschen in der DDR ihre Demokratie selbst gegeben haben. Klaus Wolfram erinnerte im vergangenen Herbst in einer viel beachteten Rede vor der Berliner Akademie der Künste an das letzte Jahr der DDR: „Da war sie plötzlich, die große Zeit, das Wunderjahr. Sofort daran zu erkennen, dass die Menschen den Kopf höher trugen, im Betrieb wie auf der Straße, sie sahen einander ins Gesichtund ließen sich ansprechen. Offenheit begann als eigene Handlung.“

Was mit Massendemonstrationen anfing, habe bald schon seine Fortsetzung gefunden in der Absetzung von Bürgermeistern, in der Neuwahl von Werksleitungen durch Belegschaftsversammlungen wie auch in der Bildung spontaner Bürgerkomitees, die dann eigenmächtig die Kasernentore öffnen ließen – „oder eben jene Erfurter Frauen, die am 4. Dezember die erste Bezirksverwaltung des MfS schlossen und versiegelten“. Drei Tage später nahm in Berlin der Zentrale Runde Tisch seine Arbeit auf, Hunderte kommunale und fachspezifische Runde Tische wurden gegründet, die Entscheidungen trafen, die bis weit in das Jahr 1990 wirkten. Die staatliche Leitung war geschwächt und vielerorts außer Kraft gesetzt: Revolution! Dass diese eine friedliche blieb, lag auch an der Bereitschaft der anderen Seite, sich dem Prozess der Demokratisierung zu fügen. Die Gesellschaft organisierte selbst. Politik ohne Politiker, vor allem ohne Hilfe aus dem Westen. Und: ohne CDU.

Dass es einmal eine Zeit und ein Land gegeben hat, wo Berufspolitiker nicht gebraucht wurden, daran mag heute kein Repräsentant erinnern. Dann schon lieber an Feuerwerk und Zapfenstreich zum „Tag der Einheit“, der ja das Werk der Politik ist. Nur stimmt eben die Geschichte vom „Untergang der DDR“ nicht. Binnen wenigen Monaten hatte sich die kleine Republik in einen demokratischen deutschen Staat gewandelt, mit demokratisch legitimiertem Parlament und Regierung, die im Auftrag der Mehrheit ihrer Bürger Verhandlungen mit der Regierung der Bundesrepublik Deutschland führte – sowie mit den Siegermächten der Anti-Hitler-Koalition. Die DDR ist nicht untergegangen, wie immer kolportiert wird, sondern frei und souverän am 3. Oktober 1990 in aller Form der Bundesrepublik Deutschland beigetreten.

Wenn, wie unlängst geschehen, die Wiedervereinigung gefeiert wird, ist von diesem zweiten demokratischen Staat auf deutschem Boden nie die Rede. Seit 30 Jahren wird in den meisten Ansprachen der freie Wille der DDR-Bürger, ihre historische Leistung, missachtet. Da muss sich niemand wundern, wenn heute nicht wenige Ostdeutsche die Politik missachten.

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Geschrieben von

Karsten Krampitz

Historiker, Schriftsteller

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