Pogrome in Berlin 1923: Ein Überfall auf das Scheunenviertel wird zum Menetekel
Zeitgeschichte Bei antisemitischen Ausschreitungen am 5. November 1923 werden Mitglieder des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF) beleidigt und geschlagen. Nicht nur ein Mob am Alexanderplatz ist daran beteiligt, auch die Polizei steht nicht abseits
Die dreißig Polizeibeamten, die vor Gericht als Zeugen vereidigt waren, aber zur Tatzeit nichts gesehen und gehört haben wollten, jedenfalls keine Schikane an jüdischen Gefangenen, mussten wohl allesamt unter einer „allgemeinen Suggestion“ gestanden haben. So jedenfalls sah es der Staatsanwalt in seinem Plädoyer. Andernfalls seien hier gerade dreißig Meineide geschworen worden …
Im Sommer 1925 verhandelte die 2. Strafkammer des Landgerichts I in Berlin den Berufungsprozess gegen vier der Schutzpolizisten, denen schwere Misshandlungen vorgeworfen wurden. Bei den antisemitischen Ausschreitungen am 5. November 1923 hatten sie festgenommene Mitglieder des Reichsbundes jüdischer Frontsoldaten (RjF) über Stunden geschlagen, getreten und beleidi
nd beleidigt. Die Männer waren an diesem Tag nördlich des Alexanderplatzes jüdischen Migranten aus dem Osten zu Hilfe geeilt. Und anders als ihre zumeist aus Galizien stammenden Glaubensgenossen konnten sich die deutschen Staatsbürger jüdischen Glaubens einen Anwalt leisten.„Die antisemitische Saat ist aufgegangen“Um die Geschichte vollständig zu erzählen, muss auf den Herbst 1923 zurückgekommen werden. Um diese Zeit kam es in ganz Deutschland zu Hungerprotesten, zu Überfällen auf Bäckereien und Lebensmittelläden. Doch nur in Berlin hatten die Proteste einen judenfeindlichen Charakter, vor allem im Scheunenviertel (dessen Name aus dem 17. Jahrhundert stammt, als Bürger auf einem Terrain, das seinerzeit noch vor der Stadt lag, Äcker besaßen und hier ihre Scheunen hatten). Nach dem Ersten Weltkrieg wurde das Quartier zum Refugium der kleinen Ewigkeiten. Hier strandeten in den verfallenden Häusern viele osteuropäische Juden, die sich auf der Durchreise nach Amerika wähnten, aber nie dorthin kommen sollten.„Die antisemitische Saat ist aufgegangen“, schrieb kurz nach dem 5. November 1923 Arthur Crispien, Co-Vorsitzender der SPD, in einem Leitartikel für den Vorwärts. „Berlin hat sein Judenpogrom gehabt. Berlin ist geschändet worden.“ Was genau sich an jenem Tag zugetragen hat, lässt sich heute nur mit Mühe rekonstruieren und nachvollziehen. Als gesichert gilt, dass mindestens zwei Stunden verstrichen, ehe die Polizei begann, das Gebiet zwischen der Münz- und Linienstraße abzusperren, besonders in der Grenadierstraße, die mittlerweile Almstadtstraße heißt, konnte der Mob stundenlang ungestört wüten, schänden, verletzen und plündern. An jenem Novembertag war der Brotpreis von 25 Milliarden sprunghaft auf 140 Milliarden Reichsmark gestiegen.Alfred Berger, Augenzeuge und Leiter des jüdischen Arbeiterfürsorgeamtes, machte allerdings nicht nur die bittere Not Tausender Erwerbsloser für die antijüdische Gewalt verantwortlich. In einem Bericht an den preußischen Innenminister Carl Severing schrieb er von „planmäßiger Hetze“. Seit Wochen schon hätten antisemitische Verbände gegen die Juden Stimmung gemacht. Jeden Tag seien vor den Stempellokalen deutschvölkische Agitatoren beobachtet worden. Berger selbst hatte am Tag des Pogroms in mehr als zehn Fällen gesehen, „dass unter den Plünderern sich stets ein oder zwei gut gekleidete Agitatoren befanden, die durch Rufe und Reden die allgemeine Stimmung immer wieder gegen die Juden aufbrachten und die Plünderungen, Überfälle usw. gewissermaßen dirigierten“. Bezeichnend sei dabei, dass die Inhaber der betroffenen Läden, Keller und Wohnungen durchweg kleine Kaufleute seien. „In der großen Mehrzahl sind sie in der Zeit von 1895 bis 1910 nach Deutschland eingewandert, wohnen also fast alle seit mindestens 14 bis 15 Jahren in Berlin.“Den Ärmsten rauben sie das LetzteEtliche der Überfallenen betrieben in kleinem Umfang einen Handel mit Konfektion, Kurzwaren oder Schuhen, so Alfred Berger. Altkleiderhändler befänden sich jedoch nur in geringer Anzahl unter den Ausgeraubten. Zu den Opfern zählten auch mehrere Handwerker, ein Konditor, eine Anzahl Arbeiter und sogar ein Philosophiestudent. Wobei es doch sehr bemerkenswert sei, dass sich bei über vierzig Geplünderten der von ihnen angegebene Gesamtschaden auf nicht mehr als insgesamt 75.000 Goldmark belaufe. Die Opfer seien also „kleine und kleinste Leute (…), denen man den Rest ihrer Habe weggenommen oder vernichtet hat“.Der 5. November 1923 war auch der Tag, an dem sich jüdische Bürger gewehrt haben. In der Hirtenstraße schützte der Fleischermeister Silberberg einen Verfolgten, der in seinem Laden Zuflucht gesucht hatte. Der Tag, die Zeitung der Deutschnationalen, berichtete: „Bei dem Überfall auf einen Schlächterladen kam es zu einem schweren Kampf des jüdischen Schlächters mit den Eindringenden. Er ergriff in der Abwehr sein großes Beil, warf sich der anstürmenden Menge entgegen und hieb blind auf diese ein. Dadurch wurde ein Mann schwer und mehrere leicht verletzt.“Von solcher Gegenwehr erzählt auch die Geschichte der Patrouille vom Reichsbund jüdischer Frontsoldaten. Allein die Anwesenheit der zwanzig bis fünfundzwanzig Mann, bewaffnet mit Gummiknüppeln und Pistolen, wird das Allerschlimmste verhindert haben.Plötzlich fällt ein SchussIn den Gerichtsakten heißt es über die Gruppe: „Ihre Mitglieder wurden bald als Juden erkannt, von der erregten Menge umringt und beschimpft und angegriffen.“ Als der Trupp in der Linienstraße in die Nähe des Bülow-Platzes gelangt war (dem heutigen Rosa-Luxemburg-Platz), sei die Lage für die Männer immer bedrohlicher geworden. Dann erschien endlich ein Wagen der Schutzpolizei auf der Bildfläche, in welchem sich neben anderen Polizeibeamten auch ein höherer Offizier befand. Nachdem dieser hatte halten lassen, forderten ihn RjF-Männer auf, ihnen Schutz zu gewähren. „Der führende Polizeioffizier hielt es aber anscheinend nicht für erforderlich einzugreifen und fuhr mit seinen Beamten weiter. Die Abfahrt des Autos, die von der Menge mit Hurrarufen begleitet wurde, war für diese das Zeichen, von Neuem gegen die jüdische Abteilung vorzugehen. In der entstehenden Schlägerei fiel plötzlich ein Schuss, der einen Arbeiter tötete. Als sich darauf die Menge, die annahm, der Schuss sei von einem Angehörigen der Streife abgegeben worden, mit erneuter Wut auf diese stürzte, erschien ein mit 18 Mann besetzter Lastkraftwagen der Schutzpolizei […]“, heißt es weiter in den Gerichtsakten.Unter der Führung des Polizeiwachtmeisters Max Domei versuchten die Polizisten die Menge zurückzudrängen. Als dann aber Rufe laut wurden wie „Die Juden haben geschossen“, gingen die Beamten dazu über, die Mitglieder der RjF-Streife zu entwaffnen und festzunehmen. Wie den Prozessakten zu entnehmen ist, wurden die Männer auf den Lastkraftwagen verladen und zur Alexander-Kaserne transportiert, wo sie im Hof Aufstellung zu nehmen hatten. „Hier mussten die Festgenommenen in zwei Gliedern antreten, die beiden Arme hochhalten und in dieser Stellung geraume Zeit verharren.“ Auf Anordnung des Oberwachtmeisters Domei, der immer noch das Kommando hatte, seien sie nochmals nach Waffen durchsucht und Richtung Wachdienst der Kaserne abgeführt worden. Weiter steht in den Akten: „Während der ganzen Zeit vom Besteigen des Wagens an bis zur Abführung in das Kasernengebäude wurden die Festgenommenen von den Beamten des Kommandos Domei beschimpft, geschlagen, mit dem Karabinerkolben gestoßen und durch Fußtritte misshandelt.“Max Domei muss seine Geldstrafe nie zahlenIm Einzelnen sei in dieser Hinsicht Folgendes festgestellt worden: „Der Zeuge Bernhard erhielt beim Aufsteigen auf das Auto, als er die rechte Hand auf das Stufenbrett legte, auf diese einen Schlag mit einem harten Gegenstand, so dass der Mittelhandknochen gebrochen wurde. Für die Person des Täters sind Anhaltspunkte jedoch nicht gegeben.“ Ähnlich erging es einem anderen RjF-Mitglied. Nachdem der Festgenommene eine auf ihn einschlagende Person aus der wütenden Menge, die den Lastwagen bedrängte, abgewehrt hatte, schlug ihm ein Polizist direkt ins Gesicht, was sich während der Fahrt wiederholte. Derselbe Beamte ließ anschließend seinen Karabiner mit voller Wucht auf das Knie des Mannes fallen, sodass dieser einen Bluterguss davontrug. Auch die anderen RjF-Männer seien beim Transport und auf dem Kasernenhof geschlagen worden, so die Gerichtsakten. Während die Festgenommenen auf dem Kasernenhof standen, umkreiste sie der im Prozess angeklagte Domei mit einem Gummiknüppel in der Hand und rief laut: „Euch Judenjungens werden wir es zeigen!“Die 2. Strafkammer des Landgerichts I in Berlin verhängte gegen drei der angeklagten Polizisten Haftstrafen in Höhe von sechs beziehungsweise drei Monaten. Oberwachtmeister Max Domei erhielt eine Geldstrafe von 200 Reichsmark, die er nicht zu bezahlen brauchte. Die gefällten Urteile wurden schon kurz darauf, im Zuge der am 21. August 1925 erlassenen „Verordnung über die Gewährung von Straffreiheit in Preußen“, gegenstandslos.
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