Es ist ein Novum für diese Republik, dass ausdrücklich von einer Regierung der Großen Koalition die Rede ist. Seit der postmonarchische Staat 1919 antrat, haben zwar Minister aus SPD, Deutscher Demokratischer Partei (DDP), katholischem Zentrum (Z) und Deutscher Volkspartei (DVP) zusammen am Kabinettstisch gesessen, aber ohne Verweis darauf, eine konzertierte, großkoalitionäre Aktion der Mitte zu sein. Doch die Hinterlassenschaft des Weltkrieges, besonders die galoppierende Inflation mit ihrem völligen Währungsverfall, lässt keine Wahl. Auch müssen die Reparationszahlungen an die Siegermächte von 1918 wieder in geordnete Bahnen kommen, was an eine Verständigung mit den ehemaligen Kriegsgegnern, vorab dem „Erbfeind“ Frankreic
Große Koalition: Kanzler Gustav Stresemann soll den Kollaps der Republik aufhalten
Zeitgeschichte 1923: Eine verheerende Inflation lässt ein ganzes Volk verarmen. Die KPD hofft auf einen „deutschen Oktober“ und den revolutionären Umsturz, doch die Führung in Moskau ist skeptisch – der drohende Weltkrieg wirft seine Schatten voraus

1926 sollte Gustav Stresemann, zusammen mit Frankreichs Außenminister Aristide Briand, den Friedensnobelpreis erhalten
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eich, gebunden ist. Der 45-jährige Gustav Stresemann (DVP) kommt als Regierungschef trotz seiner stramm nationalistischen Positionen während des Krieges zum Zug, was sich nicht unbedingt als Versöhnungsangebot an Paris deuten lässt. Allerdings fehlt es an aussichtsreichen Kandidaten, auf die sich die vier Koalitionäre einigen können.Im Ersten Weltkrieg hat Stresemann gegen das Lager eines Verständigungsfriedens auf einen deutschen Siegfrieden gesetzt. Er zählt zum radikalen, deutschnationalen Agitationsverband, dem eine weitreichende Expansion des Kaiserreichs im Falle eines Sieges vor Augen steht. Auch beim Kapp-Lüttwitz-Putsch im März 1920 verhält sich Stresemann eher abwartend opportunistisch. Erst Anfang August 1923 gibt er bei einer Rede im Reichstag zu verstehen, dass er sich mit der Existenz einer demokratischen Republik abgefunden habe, woraufhin ihn Reichspräsident Friedrich Ebert (SPD), der lange gezögert hat, mit der Regierungsbildung beauftragt. Am 12. August präsentiert Stresemann sein Kabinett, das die Regierung des farblosen Hamburger Managers Wilhelm Cuno ablösen soll: Die Schlüsselpositionen besetzen Wilhelm Sollmann (SPD) als Innen-, Gustav Radbruch (SPD) als Justiz-, Otto Geßler (DDP) als Reichswehr- und der österreichische Marxist Rudolf Hilferding (SPD) als Finanzminister. Das Auswärtige Amt übernimmt Stresemann selbst. Die Ablösung der Regierung Cuno ist nicht mehr aufzuhalten, als sich die innenpolitische Lage weiter zuspitzt. Angesichts eines desaströsen wirtschaftlichen Niedergangs droht landesweit Hunger.Aufruf zum „Antifaschistentag“Die Buchdruckergewerkschaft beschließt am 8. August einen Streik, von dem auch die Reichsdruckerei betroffen sein wird, die unverzichtbar ist, um Tag für Tag unglaubliche Mengen an Papiergeld zu drucken. Das wird um diese Zeit in Geschäften oft nicht mehr gezählt, sondern nach Gewicht zur Zahlung angenommen. Elektrizitätswerke und Berliner Hospitäler schließen sich dem Ausstand an, was die Lage dramatisch verschärft. Landwirte und Großagrarier halten ihre Produkte zurück, während die Kaufkraft für die Masse der Arbeitenden weiter schwindet. Im Dunstkreis des Münchner Rechtsradikalismus brodelt es. Ein selbst ernanntes Direktorium aus dem Regierungspräsidenten von Oberbayern, dem Münchner Polizeipräsidenten und dem Freizeitmaler Adolf Hitler droht mit einer Machtübernahme in Bayern, während die KPD propagiert, man müsse „jeden fünften Angehörigen einer Faschistenorganisation an die Wand stellen“.Für Ende Juli hat die Partei unter der Führung von Heinrich Brandler und Ruth Fischer zu einem „Antifaschistentag“ aufgerufen, worauf Demonstrationen im gesamten Reich verboten werden. Die sowjetische Führung sperrt sich indes gegen die Absicht der deutschen Kommunisten, trotz dieser Entscheidung auf die Straße zu gehen. Für den 11. August will die KPD einen Generalstreik durchsetzen, der jedoch nicht stattfindet. Die Reichsregierung handelt, kündigt ein Gesetz zu einer Einkommenssteuer an und verspricht, eine Goldmark-Anleihe aufzunehmen, um Lebensmittel importieren und die zerrüttete Wirtschaft stützen zu können.Noch bevor Stresemann seine außenpolitische Lernfähigkeit durch einen Dialog mit Paris unter Beweis stellen kann, bringt er ein Abkommen mit den Gewerkschaften zustande. Es soll die Löhne an die Lebenshaltungskosten binden, was freilich zu nochmals beschleunigter Geldentwertung führt. Bis Ende September 1923 klettert allein der Preis für ein Pfund Butter auf 84 Millionen Mark. Die Währungssituation bleibt desolat. Hinzu kommt eine Hetzkampagne von rechts gegen den „Halbjuden“ Stresemann, der mit einer Jüdin verheiratet ist, dazu dem österreichischen Juden und Sozialdemokraten Hilferding das Finanzministerium anvertraut hat. Denunziationen, absichtsvoll in die Welt gesetzt, vergiften das politische Klima und bringen das Land an den Rand eines Bürgerkrieges. Der Großindustrielle Hugo Stinnes und andere Unternehmer, die ostelbischen Großgrundbesitzer und Generaloberst Hans von Seeckt als Chef der Obersten Heeresleitung (OHL) kokettierten mit einer autoritären Lösung. Und das Exekutivkomitee (EKKI) der Kommunistischen Internationale (KI) in Moskau debattiert über eine Revolution in Deutschland nach dem Eintritt der KPD in eine sächsische Arbeiterregierung. KI-Generalsekretär Grigori Sinowjew spricht offen darüber, 50.000 bis 60.000 Arbeiter zu bewaffnen, um Alfred Müller, den kommandierenden General der Reichswehr in Sachsen, kaltzustellen.Aufruf zum GeneralstreikWährend Parteichef Brandler die Chancen einer deutschen Oktoberrevolution als gering einschätzt, plädieren Radikale in der KPD-Führung wie Ernst Thälmann, Arkadij Maslow und Ruth Fischer für ein baldiges Losschlagen, um die vermeintliche Gunst der Stunde zu nutzen. Schließlich bleibt Stresemann zu viel schuldig. Noch lehnt der französische Premierminister Raymond Poincaré Verhandlungen mit der deutschen Seite strikt ab und lässt Berliner Ambitionen über eine Verständigungspolitik ins Leere laufen. So ruft die KPD für den 27. September 1923 zu einem eintägigen Generalstreik auf – gegen die Regierung Stresemann-Hilferding, den französischen Imperialismus und den deutschen Separatismus, den Frankreich diskret unterstützt. Zum wirklichen Brandstifter wird in diesem Augenblick jedoch nicht der provokative Kurs der KPD, sondern der Bruch des Tarifvertrags im Bergbau durch den Zechenverband der Unternehmer. Der beschließt am 8. Oktober in der Ruhrgebietsstadt Unna einseitig, die tägliche Arbeitszeit von siebeneinhalb auf acht Stunden zu erhöhen. Diese Zumutung wird erst revidiert, nachdem sich der preußische Handelsminister Wilhelm Siering (SPD) auf die Seite der Gewerkschaften stellt und empfiehlt, den Beschluss schlichtweg zu ignorieren. Die Gewerkschaften wehren sich auch deshalb, weil der „Herr im Hause“-Standpunkt, wie er in der Vorkriegszeit herrschte, wiederbelebt werden soll.Sprengstoff für Stresemanns Große Koalition ist auch der Vorstoß seiner Deutschen Volkspartei, die gesetzliche Regelung des Achtstundentages zu lockern, die weit rechts stehende Deutschnationale Volkspartei (DNVP) in die Regierung zu holen und mit Frankreich einen ultimativen Bruch zu riskieren. Hugo Stinnes und seine Gesinnungsfreunde in der DVP arbeiten auf ein Ende der Großen Koalition hin und versuchen, die SPD dafür verantwortlich zu machen, die sich sozialem Rückbau widersetzt. Ziel des rechten Flügels der DVP ist offenkundig die Unregierbarkeit des Landes, um einer „nationalen Diktatur“ näherzutreten, die sich der parlamentarischen Demokratie zu entledigen weiß. Die SPD zeigt sich zwar kompromissbereit, aber ein Bruch der Koalition lässt sich nur noch mit einer Kabinettsumbildung vermeiden. Das bedeutet, die SPD-Minister zu entlassen und am 6. Oktober 1923 Gerhard Graf von Kanitz, ehemaliges Mitglied der DNVP und ausgewiesener Lobbyist der Großagrarier, zum Ernährungs- und Landwirtschaftsminister zu ernennen.Das „Wunder der Rentenmark“Kurz zuvor hat Deutschland den passiven Widerstand gegen französische Truppen im Ruhrgebiet abgebrochen, woraufhin sich Ministerpräsident Poincaré zu Gesprächen über die Reparationsfrage bereitfindet. Dadurch und dank eines Ermächtigungsgesetzes für sozial- und wirtschaftspolitische Maßnahmen hat Stresemann dann doch die Chance, eine Reform der Währung durchzusetzen. Mit dem „Wunder der Rentenmark“ – erstmals am 15. November 1923 im Verhältnis von einer Billion Papiermark gegen eine Rentenmark ausgegeben – gelingt eine temporäre Stabilisierung. Sie ist keine Garantie dafür, dass die Republik nicht erneut einer Krisenlage verfällt, die sie existenziell gefährdet.Außenpolitisch leitet die Kanzlerschaft Stresemanns ein entkrampftes Verhältnis zu Frankreich ein. Zusammen mit dessen Außenminister Aristide Briand wird er dafür 1926 sogar den Friedensnobelpreis erhalten, womit internationale Anerkennung zum Ausdruck kommt für den Mut zur Realpolitik gegen deutschnationale Verstiegenheit. Die SPD kann sich zugutehalten, dies mit ermöglicht zu haben. Sie hat in einer Großen Koalition lange durchgehalten und zur partiellen Stabilisierung des Landes beigetragen. Als jedoch der Zentrumspolitiker Wilhelm Marx Ende November 1923 eine neue Regierung bildet, bleiben die Sozialdemokraten draußen.