1974: Konrad Wolf überrascht mit dem Film „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“
Zeitgeschichte Nach dem Großprojekt „Goya“ dreht Regisseur Konrad Wolf einen sehr persönlichen, grüblerischen Künstlerfilm. Der Schauspieler Kurt Böwe agiert als sein Alter Ego
Enthüllung der Statue in „Der nackte Mann auf dem Sportplatz“, Konrad Wolf (1977, fünf Jahre vor seinem Tod)
Fotos: Defa-Stiftung/Wolfgang Bangemann, Alexander Kühn; dpa (rechts)
Kemmels Hände, wir haben sein Gesicht noch nicht gesehen, formen einen kleinen Klumpen Lehm zur Menschenplastik. So beginnt der Film Der nackte Mann auf dem Sportplatz. Der Titel meint die Statue eines Läufers. Kemmel ist Bildhauer. Bildhauer schlagen Formen aus Gestein, entlocken sie dem Holz. Sie meißeln, hauen, schleifen. Und wenn Claire Waldoff in ihrem berühmten Chanson (es kommt im Film nicht vor) fragt: „Wer schmeißt denn da mit Lehm?“, es könnte ein Bildhauer sein, wütend, weil ihm eine Arbeit misslang. Kemmels Hände also. Eine agile Kamera zeigt sie. Bilder ohne Schwere, wie skizziert. Wer ist da am Werk? Ein Proletarier? Gott? „Ein Künstler der mittleren Position“, heißt es im Protokoll einer Drehbuchbespre
ehbuchbesprechung.Womöglich assoziiert der gelernte DDR-Bürger, der den Film damals sieht, trotz aller Leicht-, ja, Flüchtigkeit dieser ersten Bilder, philosophischen Background. Etwa, was er von Friedrich Engels weiß über den Anteil der Arbeit an der Menschwerdung des Affen. Dass aufrecht zu gehen entscheidend war. Standen den Affen-Adams und -Evas doch plötzlich ihre Hände, nicht länger dem Boden verhaftet, zur freien Verfügung. Es formte sich der Mensch. Und es bildete sich seine Hand bis hin zu jenem „hohen Grad von Vollkommenheit, auf dem sie Raffaelsche Gemälde, Thorvaldsensche Statuen, Paganinische Musik hervorzaubern konnte“. Ein Hang zur Ironie bei NebenfigurenDa haben wir Kemmel. Seine Hände walken, kneten, machen kaputt, bilden neu. „Eine Meditation über Kunst und Künstler in unserer Zeit ist Konrad Wolfs neuer Film“, wird eine Tageszeitung schreiben unter der Überschrift Der Künstler, ein Werktätiger. Kemmel, der im Lauf des Films 40 wird, fragt sich, wo er steht, und ob, was er schafft, von denen gebraucht wird, für die er’s tut. Der Film folgt ihm nah. Aber kommt er ihm auch nahe? Es werden Themen aufgerufen. Es gibt Anekdotisches und einen Hang zur Ironie bei Nebenfiguren; sie neigen dazu, sich lächerlich zu machen. Es wird keine Story erzählt.Wenn man konzentriert schaut, Geduld aufbringt, Aufmerksamkeit investiert, entdeckt man dennoch ein komponiertes Werk. Das aber so unbedingt authentisch sein und keine (falschen) Behauptungen aufstellen will, dass es sich auch die dramatische Erfindung verbietet. Kunst ohne FeigenblattDrei Kunstwerke geraten ins Blickfeld. Erstens: Ein Relief. Es missfiel irgendwem in „verantwortlicher Position“, noch bevor ein Publikum es sah. Es wird nicht aufgestellt. Es fällt einer Zensur zum Opfer, die im Background agiert, gegen die nicht geklagt und mit der keine Auseinandersetzung geführt werden kann. Zweitens: Lange bemüht Kemmel sich, einen Brigadier zu überreden, ihm für eine Porträtplastik Modell zu sitzen. Dann scheitert Kemmel an der Umsetzung. Unzufrieden beendet er die Arbeit. Schließlich die Statue des Nackten. Die Auftraggeber, Leute aus Kemmels Heimatdorf, fremdeln, als das Werk enthüllt wird. Bis ein von Wolfgang Heinz gespielter Genosse eingreift und das mäkelnde Publikum überzeugt, nein, überfährt. Er dekretiert beherzt, es sei gut. Und sagt den entscheidenden Satz des Films: „Kunst braucht kein Feigenblatt!“ Die Statue wird aufgestellt. Der Film endet damit, dass Kemmel Fotos erhält, die zeigen, dass die Jugend des Dorfs sich neuerdings trifft, wo die Plastik steht. Darüber hinaus gibt’s ein Thema, das Kemmel immer wieder in den Sinn kommt: Babi Yar, eine Schlucht nahe der ukrainischen Hauptstadt, Schauplatz eines Massakers an Juden im Zweiten Weltkrieg. Das Ereignis beunruhigt den Künstler. Will Idee werden. Noch aber kann er sie nicht fassen. Stürzende Frauen … Kein Saufen, kein Feiern, kein VögelnDer Film mäandert. Es wird nicht gesoffen, nicht ausgelassen gefeiert oder beherzt gevögelt. Und Kemmel streitet nicht. Man möchte ihm zurufen: Nun sag doch mal was! Aber nein. Film und Hauptfigur bleiben in sich gekehrt. Der Dramatiker Peter Hacks wird in einer Gesprächsrunde zum Drehbuchautor Wolfgang Kohlhaase, mit dem er befreundet ist, später sagen, er, Hacks, hätte besser verstanden, worum es im Film geht, wenn die Leute, „angefangen von der Hauptfigur bis aber auch zu seinen Feinden, erstens ein bisschen artikulierter und zweitens mutiger wären“. Der „Nackte“ ist ein keuscher Film. Und in so ziemlich allem das Gegenteil von Wolfs zuvor gedrehtem Panorama Goya (DDR/UdSSR 1970/71). Als „gigantomanisches Unternehmen“ bezeichnet Wolf es selbst, „2 Teile, Farbe, 70 mm, Besetzung aus vielen Ländern, gemischter Stab, fast ein Jahr Drehzeit“, basierend auf Lion Feuchtwangers Roman über den kühnen spanischen Maler. Die Vorbereitungen liefen seit 1962. Als der Film fertig war, regnete es Staatspreise. Aber das Publikum und selbst die Macher scheinen nicht so recht glücklich gewesen zu sein mit dem Ergebnis. Schon Ende 1971 bekennt Wolf in einem Brief: „Der verdammte Goya hängt mir zum Halse heraus, ich komme einfach nicht los – zu viele für mich noch offene Fragen, durch nicht abreißende Diskussionen mit Publikum angeheizt. Ist der historische Film überhaupt ‚meine Hochzeit‘? Oder eher solche wie Ich war 19?“ Persönlich Beglaubigtes also. Kameramann Werner Bergmann sagt 1973: „Goya ist nicht mein fotografisches Gesicht.“ Und: „Ich nehme an, Konrad Wolf – und da tut er recht daran – will nicht mehr viel über den Film reden.“ An der Moskauer FilmhochschuleNicht so viel reden. Tun. Auch weil die passenden Worte fehlen oder noch nicht gefunden sind. Man sich zu oft den Mund verbrannt hat. Weil die Erfahrung in den Knochen sitzt, dass es besser läuft, wenn man sich nicht verhakelt in Begrifflichkeiten. Weil ein Exil in der Sowjetunion alle, auch die Jüngsten, dahingehend konditioniert hatte, dass noch am Grab beschwiegen werden muss, was nicht gesagt sein darf? Die offen geführte Auseinandersetzung also meiden? Über sein Studium, das Konrad Wolf an der Moskauer Filmhochschule absolvierte, erzählt er: „In der Klasse, in der ich war, arbeiteten zwei Assistenten mit uns. Den einen, S. K. Skworzow, habe ich als ewigen Schweiger in Erinnerung. Er reagierte immer ganz vorsichtig, verhalten, es gab kaum verbale Äußerungen und Bewertungen, ein Lächeln verbarg er, indem er sich am Bärtchen zupfte. Sein Takt, seine Zurückhaltung erzeugten Achtung füreinander, ohne die man in der Kunst nicht arbeiten sollte. Wir waren gezwungen, selbst hinter die Dinge zu kommen.“ Besonnen, beherrscht, leiseBesonnen, beherrscht, leise. Wenn Konrad Wolf Regie führt, herrschen Konzentration und Ruhe am Set. Über seinen Nackten Mann sagt er erstaunlicherweise: „Erst als ich den Film mal im Zusammenhang sah, kam mir der Gedanke, vielleicht hat dieser Kemmel auch ein bisschen von dir selbst.“ Die Uraufführung des „farbigen DEFA-Films“ findet am 4. April 1974 im Berliner Filmtheater Kosmos statt, anschließend läuft er landesweit. Die Kritik reagiert zögernd. Das Neue Deutschland bringt keine Rezension, andere schreiben wohlmeinend. Eine tiefgehende Auseinandersetzung führt Friedrich Dieckmann in der von der Akademie der Künste, deren Präsident Konrad Wolf ist, herausgegebenen Zeitschrift Sinn und Form. Er macht eine wesentliche Schwäche des Films in der Besetzung Kemmels mit dem Schauspieler Kurt Böwe aus. (Eine Meinung, die der Autor dieses Textes nicht ansatzweise teilt.) Und zitiert treffend, das Dramaturgische meinend, aus Friedrich Schillers Vorrede zur Braut von Messina: „Wem die Natur zwar einen treuen Sinn und eine Innigkeit des Gefühls verliehen, aber die schaffende Einbildungskraft versagte, der wird ein treuer Maler des Wirklichen sein, er wird die zufälligen Erscheinungen, aber nie den Geist der Natur ergreifen. Nur den Stoff der Welt wird er uns wiederbringen, aber es wird eben darum nicht unser Werk, nicht das freie Produkt unseres bildenden Geistes sein und kann also auch die wohltätige Wirkung der Kunst, welche in der Freiheit besteht, nicht haben. Ernst zwar, doch unerfreulich ist die Stimmung, mit der uns ein solcher Dichter und Künstler entlässt, und wir sehen uns durch die Kunst selbst, die uns befreien sollte, in die gemeine enge Wirklichkeit peinlich zurückversetzt.“Mit dem Film Solo Sunny gelingt dem Team Kohlhaase/Wolf wenige Jahre später, 1980, wie auf einen Streich und mit humorvoll-mutig-glücklichem Zugriff – alles.
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