Berlin 1942: Ein ägyptischer Arzt und Muslim rettet eine Jüdin vor Deportation und Tod
Zeitgeschichte Aus Anna Boros wird eine Muslima und die Praxishelferin „Nadja“ des Dr. Mohammed Helmy. Sie zieht bei ihm ein, hat ein eigenes Zimmer und trägt Kopftuch. Würde sie enttarnt, wäre das für beide das Todesurteil
Anna Boros emigrierte in die USA, Mod Helmy praktizierte weiter in Berlin, wo er 1982 im Alter von 80 Jahren starb.
Illustration: Karochy
Als Anna Boros 13 ist, muss sie die Schule wechseln. Zuvor schon vielfach gedemütigt, ausgegrenzt, in Sammelklassen unterrichtet, werden jüdische Kinder nach dem Novemberpogrom 1938 endgültig ihrer Schulen verwiesen. Sie dürfen fortan – in den meisten Fällen heißt das bis zu ihrem Abtransport, ihrer Ermordung – nur noch an jüdischen Schulen lernen. So auch das Mädchen Anna in der Reichshauptstadt Berlin.
Abreise aus Kairo: Berlin war für Muslime anziehend in den „Roaring Twenties“
21 Jahre alt war Mohammed Helmy, Sohn eines hochrangigen Offiziers in der anglo-ägyptischen Besatzungsarmee, als er 1922 aus Kairo nach Deutschland übersiedelte. Ins zivile Berlin. Als er abreiste, war seine Heimat gerade unabhängig
ade unabhängig geworden, ein souveräner Staat – doch nur auf dem Papier. Weiterhin herrschte Großbritannien über den Suezkanal und entließ das Protektorat Ägypten nicht aus seinem „Schutz“. Was in der Folge zu nationalistischer Gegenwehr und teils blutigen Konflikten führte.Anders die deutsche Hauptstadt in den „Roaring Twenties“. Berlin war für Muslime anziehend wie vielleicht sonst nur für Russen, die vor dem Bolschewismus flohen. Mohammed traf hier auf muslimische Akademiker, Intellektuelle, Geschäftsleute, sie kamen aus mehr als 40 Nationen. Viele entstammten wohlhabenden, teils einflussreichen Familien, waren jung, strebten an die Universitäten. Links und rechts des Ku’damms blühte eine islamisch-bürgerliche Klubkultur. Unter besserverdienenden Deutschen und Künstlern kam der Islam in Mode wie der Foxtrott. Einige konvertierten. 1925 wurde in Wilmersdorf eine Moschee eröffnet, die heute noch existiert. Über Auseinandersetzungen zwischen den etwa 3.000 Muslimen und der jüdischen Gemeinde Berlins in den 1920ern ist nichts bekannt.An der Friedrich-Wilhelms-Universität (die heute nach den Brüdern Humboldt heißt) studierte Mod – er kürzte jetzt seinen Vornamen – Medizin. Im Archiv der Uni findet sich noch seine „Eidesstattliche Erklärung“, in der er gelobt, „die Pflichten des ärztlichen Standes gegenüber den meine Hilfe Heischenden in humaner Gesinnung treu und gewissenhaft zu erfüllen“. Anders als andere wird er Wort halten.Als Arzt praktiziert er weiter, erst heimlich, dann zwangsverpflichtetNach dem Staatsexamen ging er als Assistenzarzt ans Krankenhaus Moabit. Mit Hitlers Machtantritt galt er rassenideologisch als „Hamit“. „Aussehen der Hamiter: groß, schlank, gekräuseltes Haar, gelbbraune Haut, Langschädel.“ (Brockhaus, 1941) Kein „Arier“, war Mod dennoch nicht so gefährdet wie seine jüdischen Kolleginnen und Kollegen, die sofort 1933 ihre Jobs verloren. Er leitete sogar, nun bereits Oberarzt, ab 1934 die urologische Abteilung der Klinik. Kurz nach seiner Promotion 1937 war auch für ihn Schluss. Sein Vertrag wurde nicht verlängert, und Dr. Helmy fand keine neue Anstellung.Als Arzt praktizierte er trotzdem weiter, illegal. Heimlich empfing er Patienten in seiner Wohnung, machte Hausbesuche. Der deutsche Volkskörper erinnerte sich seiner erst 1942 wieder. Da wurde Dr. Helmy zwangsverpflichtet, die Praxis eines Kollegen zu übernehmen, der zur Wehrmacht eingezogen worden und gefallen war. Hier arbeitete Mod bis zum Kriegsende. Seine Freundin Emmy und er waren da bereits sechs Jahre verlobt. Nun durften sie endlich heiraten.Doch zurück zu Anna Boros, dem jüdischen Mädchen. Gehen wir in das Jahr 1942. Anna ist jetzt 16. Sie und ihre Familie – Großmutter, Mutter und ein ungeliebter, nicht-jüdischer Stiefvater – sind seit Jahren Dr. Helmys Patienten. Solange man sich’s leisten konnte, lud die Familie den Herrn Oberarzt gern zum Hausbesuch. Nachdem er seine Stellung verloren hatte, behandelte er die Familie weiter, heimlich und so gut es ging.Im März 1942 stattet Dr. Helmy der Familie einen letzten Besuch ab. Es geht um Leben oder Tod. Aber nicht als Mediziner ist er gekommen. Die Deportationen Berliner Juden laufen seit Monaten. Was sollen wir tun, wie uns verhalten? Der Arzt rät zum Untertauchen. Dringend! Und hilft auf der Stelle. Die Großmutter bringt er bei Frieda Szturmann, einer Patientin in Staaken, unter. Annas Mutter ist durch ihren „arischen“ Mann (noch) geschützt. Wohin mit Anna? Mod, der ja inzwischen wieder praktiziert, macht sie zu seiner Angestellten. Aus Anna wird die Praxishelferin Nadja, eine „Nichte, die in Dresden aufwuchs“, und Muslima. Sie zieht bei ihm und Emmy ein, hat ein eigenes Zimmer, trägt Kopftuch und schweigt die meiste Zeit, woran kein Deutscher Anstoß nimmt. Nach außen spielt Dr. Helmy, der anfangs Witze riss über die Nazis, längst den begeisterten Parteigänger. Jetzt inszenieren er und Anna sich als Muslime, die treu zu Hitler stehen.„Nadja“ ist gedankenschnell, eine gute Praxishilfe, aber sie spricht kein ArabischIn regelmäßigen Abständen bekundet die NS-Führung ihre Verbundenheit mit der muslimischen Welt. Und umgekehrt. Man kämpfe, heißt es, gegen dieselben Feinde: Juden, Briten, Kommunisten. Schäumend antisemitisch zeigt sich der Jerusalemer Großmufti Mohamed Amin al-Husseini. Seit November 1941 lebt er in Berlin. Der Staat spendiert ihm eine Villa, Angestellte und ein enormes Budget für politische Aktionen und Propaganda. Amin al-Husseini sendet Hassreden per Rundfunk in den Orient und rekrutiert Muslime für die Waffen-SS.„Nadja“ ist gedankenschnell, eine gute Praxishilfe, aber sie spricht kein Arabisch. Jederzeit kann sie enttarnt werden. Das wäre ihr und höchstwahrscheinlich auch Mods Todesurteil. Sechs jüdische Nachbarn leben schon nicht mehr mit ihnen im Haus, sie sind Anfang 1943 deportiert worden. Wie Anna retten? Man beschließt, sie muss eine „waschechte“ Muslima und verheiratet werden! Dafür ist zunächst ein Dokument vonnöten, das Annas Konvertierung bezeugt. Mod beschafft es auf waghalsige Weise. Er kontaktiert seinen Studienfreund Kamal el-Din Galal. Beide sind 1922 nach Berlin gekommen. Kamal wurde Journalist, Korrespondent ägyptischer Zeitungen, er stritt gegen den Kolonialismus. Jetzt ist er Chef des „Islamischen Zentralinstituts“ und die rechte Hand des Großmuftis. Schon einmal half er Mod, als dieser und weitere Ägypter verhaftet und interniert waren, weil man deutsche Gefangene in Ägypten freizupressen hoffte. Nun – „Wo aber Gefahr ist, wächst das Rettende auch“ (Hölderlin) – beteiligt der ägyptische Nationalist sich an der Rettung einer Jüdin.Wann steht die Gestapo vor der Tür?Im Juni 1943 tritt Anna Boros zum Islam über. Die Bescheinigung, die ihren Schritt dokumentiert, tippt Kamal auf dem Briefpapier seines Chefs, des Großmuftis. Gleich darauf organisiert Mod eine religiöse Scharia-Ehe. Den Bräutigam hat er an der Hand, einen ägyptischen Jazz-Musiker, Chef einer Bar in Ku’damm-Nähe. Doch die Sache geht schief. Das Standesamt, das die Ehe im Nachgang nur beglaubigen soll, stellt sich quer. Schlimmer noch, Mod hat Annas alte Adresse in den Papieren angegeben. So kommt das Amt der Untergetauchten wieder auf die Spur. Wann wird die Gestapo vor der Tür stehen?Anna muss verschwinden! Und sie verschwindet in einer Laube im Norden Berlins. Sie ist nicht die Einzige, die in so einer Siedlung Zuflucht findet. Der spätere Showmaster Hans Rosenthal tut es. Ausgebombte wohnen hier. Unbeschwert bewegen kann Anna sich dennoch nicht. Der deutsche Laubenpieper ist ein Aufpasser, in seinen Beeten stehen die Pflanzen stramm.Keine Entschädigung von der BundesrepublikAm Ende aber sind es nicht Nachbarn, die Anna verraten, sondern ihre Mutter verplappert sich. In höchster Not setzt Mod jetzt alles auf eine Karte. Er geht zur Staatspolizei und präsentiert einen „Abschiedsbrief“. Sie habe ihn über ihre Abstammung getäuscht, schreibt Anna – Mod hat diktiert –, verlasse ihn und gehe nach Dessau. „Wütend“ fordert Dr. Helmy, dass man das Mädchen findet! Und die Gestapo? Fällt auf den Schwindel rein.Anna, Mutter, Großmutter, Emmy und Mod, sie alle überleben das Dritte Reich. Anna und ihre Mutter exilieren nach den USA. Anträge auf Entschädigung, die Dr. Helmy in der BRD stellt, werden sämtlich abgelehnt. Kamal el-Din Galal wird Presseattaché beim ägyptischen Generalkonsulat in Frankfurt/Main. Dr. Helmy, der mutige Einzelgänger, behandelt weiter Patienten. Lebt mit Emmy, seiner Frau. Die Ehe bleibt kinderlos. Nie geht er aus Berlin fort. Und er schweigt über seine Heldentaten. 1982 stirbt er 80-jährig. Engagierten Berlinern ist zu verdanken, dass er trotzdem nicht vergessen wird. Sie informieren die israelische Gedenkstätte Yad Vashem. Diese ehrt ihn und Frieda Szturmann seit 2013 als „Gerechte unter den Völkern“. Mod ist der erste Araber, dem solche Ehre zuteilwird. Seine Familie jedoch nimmt die Medaille und Urkunde nicht in Empfang, weil eine Ehrung durch den Staat Israel, den Feind, für sie nicht infrage kommt.
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