Zu tief in die Glaskugel geguckt

Prognosen Jüngst warnte Journalist Gabor Steingart vor falsch voraussagenden Kollegen. Dabei hat auch er schon arg verwegen in die Zukunft geblickt. Über eine Berufskrankheit
Ausgabe 08/2020
Notorischer Prognostiker: Gabor Steingart
Notorischer Prognostiker: Gabor Steingart

Foto: Müller-Stuaffenberg/Imago

Vor Kurzem hat der Journalist Gabor Steingart dazu aufgerufen, Medien, die in den vergangenen Jahren falsche Vorhersagen getroffen hätten, mit Aufmerksamkeitsentzug zu strafen. „Kündigen Sie einfach die Abonnements all jener Zeitungen und Magazine, die Ihnen 2016 die Wahlniederlage von Donald Trump vorhersagten, Ihnen 2017 Martin Schulz als Retter der Sozialdemokratie ans Herz legten und anschließend Kramp-Karrenbauer als neue Kanzlerin vorstellten“, schrieb er. Großzügig übersehen hat Steingart, dass er selbst seinerzeit zum Beispiel Barack Obama vorzeitig abgeschrieben hatte. Und von der 2018 getätigten Vorhersage des Focus (Gastautor: Steingart), die AfD werde 2021 stärkste Partei, „gefolgt von Union, dem großen Nichts und dann der SPD“, wollen wir an dieser Stelle in weiser Voraussicht vielleicht auch einfach erst mal noch schweigen. Aber sei es drum. Eines stimmt ja: Journalisten schauen gerne mal ein Häuchlein zu weit nach vorne, und nicht immer können alle dabei so viel Dusel haben wie der US-Amerikaner James O’Donnell, der 1979 schrieb: „Neulich träumte ich vom Ende der Berliner Mauer. Es war im Jahr 1989.“

Vorhersagen sind wie Pferdewetten. Der halbwegs informierte Prognostiker setzt am ehesten auf das am höchsten gehandelte Pferd (verlässt sich also letztlich auf die anderen halbwegs informierten Prognostiker) – aber manchmal gewinnt eben trotzdem ein erstaunlich komischer Gaul. Die Wahl Donald Trumps zum US-Präsidenten zum Beispiel: kollektives Wettpech. Journalistinnen und Journalisten hatten womöglich darauf gezählt, dass die unsichere Wahrscheinlichkeitsrechnung schon nicht trügen würde – sie hatten sie schließlich mit ihren hochverlässlichen Bauchgefühlen abgesichert. Nichts war’s. Nichtsdestotrotz wird es (so unsere vorsichtige Prognose) auch in diesem Jahr wieder falsche Vorhersagen geben, wie die Präsidentschaftswahl ausgeht. Und auch in Deutschland verging zuletzt schon kaum eine Talkshow ohne eine Tipprunde zum Thema, wer CDU-Kanzlerkandidat wird. Die Frage ist: Warum eigentlich? Warum diese Lust auf Glaskugeln? Wo ist der Unterschied zwischen einem Medium, das in einer Jahrmarktbude die Karten legt, und einem Medium, das die Präsidentschaft von Hillary Clinton vorhersagt? Man muss ja kein Mathematiker sein, um zu wissen, dass Prognosen mehr über die Gegenwart, über Wünsche verraten als über die Zukunft (siehe hierzu auch: Brexit-Referendum).

Nun, es gibt einen Grund, warum Journalisten Vorhersagen verbreiten: Journalismus handelt von morgen. Er kann nicht abgeschlossenen Entwicklungen nur dann Relevanz zuschreiben, wenn er sie weiterdenkt. Renten- oder Klimapolitik würden nie ein Medienthema, wenn sich Journalisten nicht auf einen Blick in die Zukunft einließen. Im Idealfall beruhen entsprechende Szenarien freilich auf tatsächlichem Spezialwissen.

Es gibt auch einen nicht ganz so guten Grund für die Lust an der Prognose: Es gibt jeden Tag massenhaft Kommentare zum politischen Geschehen. Vorhersagen gaukeln eine gewisse Höherwertigkeit vor, indem sie sich ihre Autorität aus der Zukunft borgen. Nehmen wir die Interpretationen eines TV-Duells zwischen Clinton und Trump 2016. „Clinton war mir irgendwie sympathischer als Trump“, wäre eine seriöse, aber völlig belanglose Einschätzung. Aus einem Satz wie „Trump war ein Kandidat (…), dem wir heute Nacht bei der Verpuffung zuschauen konnten“, dagegen sprachen Ahnung und Weitblick. Wenn diese elende Zukunft dann nur nicht irgendwann einen Faktencheck vornähme. Geschrieben hat den verpufften Satz seinerzeit übrigens ein Mann namens Gabor Steingart.

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