Nun darf jeder Medienschaffende und Politiker mutmaßen, warum bei den US-Zwischenwahlen am 8. November die prophezeite Apokalypse für Joe Bidens Demokraten ausblieb. Bei diesem großen Rorschach-Test lässt sich allerhand hineinlesen in das Resultat. Das Votum wäre vollkommen anders ausgegangen, hätten nur ein paar Hunderttausend Menschen anders abgestimmt. Niederlagen und Siege lagen eng beieinander.
Republikaner, die eigenen Prognosen von der „roten Welle“ geglaubt haben, suchen nun nach Sündenböcken. Es knistert Kritik am großen Trump. Der Mann in Mar-a-Lago hat mehrere Kandidaten unterstützt, die verloren haben beim Versuch, kritische Posten zu besetzen. Wie bei der Präsidentenwahl 2020 waren Demokraten vielerorts erfolgre
s erfolgreich mit Warnungen vor trumpistischer Autokratie. Ihre Leute sind wählen gegangen. Unter dem Strich bleibt freilich als Fazit: Die meisten Politikerinnen und Politiker wurden wiedergewählt, auch die meisten Republikaner. Es ging geradezu tribalistisch zu.Sympathisanten der Demokraten haben für demokratische Bewerber gestimmt, Anhänger der Republikaner für republikanische. Und das jeweils zu 96 Prozent, wie von den TV-Networks in Auftrag gegebene Nachwahlbefragungen ergaben. Denen lässt sich gleichfalls entnehmen: Unabhängige Wähler stimmten zu 49 Prozent für Demokraten und zu 47 für Republikaner.Republikaner wählten bei den Senatswahlen in Georgia Ex-Footballspieler Herschel Walker, obwohl dem häusliche Gewalt vorgeworfen wird. Außerdem soll der erklärte Abtreibungsgegner zwei Freundinnen Geld gegeben haben für Abtreibungen (Walker bestreitet alles). Die Entscheidung fällt im Dezember bei einer Stichwahl. Walker galt Republikanern bisher als verlässliche Stimme im Senat.Senatswahl in Pennsylvania: Wie im BilderbuchDass die Demokraten nunmehr von einem Erfolg sprechen, bezieht sich auf die Verteidigung ihrer Mehrheit im Senat und ein Mandat, das sie den Republikanern in dieser Kammer abgenommen haben durch den Sieg in Pennsylvania. Im 435 Mitglieder zählenden Repräsentantenhaus sieht es nach einer knappen republikanischen Mehrheit aus. Darunter werden geschätzt 150 Abgeordnete sein, die Joe Biden nicht als rechtmäßigen Präsidenten anerkennen, eine eindeutig trumpistische Gefolgschaft. Sie freut sich auf Ausschüsse und Anhörungen, um dem Team Biden das Regieren schwer zu machen. Übt sich diese Klientel in Geschlossenheit, kann sie Bidens Programme aufs Abstellgleis rollen lassen. Das demokratische Vorzeigeprojekt, fast wie im Bilderbuch, war die Senatswahl im 13 Millionen Einwohner zählenden Pennsylvania. Der republikanische Senator Pat Toomey war zurückgetreten. Es kandidierten 2022 mit ausdrücklichem Rückhalt von Donald Trump der Republikaner Mehmet Oz, ein wegen seiner Fernsehshows bekannter Arzt, und der Demokrat John Fetterman, Ex-Kleinstadtbürgermeister und Vizegouverneur. Ein Unpolitiker mit Glatzkopf und Tätowierungen, der vom Aussehen her bei Hells-Angels-Spielfilmen mitmachen könnte. Im Mai erlitt Fetterman einen Schlaganfall, gelegentlich stockt seine Sprache. Fetterman kam auf 51 Prozent, Oz auf 47. „Jeder Landkreis, jede Stimme“, verkündete Fetterman.Es kämpfte besonders in ländlichen Trump-Hochburgen mit Versprechen wie: Alle Menschen sollten teilhaben, mehr Rechte für Gewerkschaften, höherer Mindestlohn, gute Krankenversorgung. Lokale Umstände halfen ihm: Oz wohne gar nicht in Pennsylvania, spottete Fettermans Wahlwerbung. Der vielfache Millionär habe weltweit fast ein Dutzend Wohnungen. „Die Reichen denken anders.“ Fettermans Klassenkampf hat die demokratische Debatte geschürt, ob man linker auftreten soll oder zentristischer. Zwischenwahlen bestehen aus Hunderten von regionalen Wahlen. Und in manchen Gegenden gewannen demokratische Bewerber der Mitte.Debatte über Abtreibungen hat viele Amerikanerinnen mobilisiertRückblickend ist es peinlich, dass die Prognose vom „Blutbad“ oder „Tsunami“ bei den Zwischenwahlen so akzeptiert war. Dieses Gruppendenken zog Schlüsse aus vorangegangenen Midterms, bei denen die Partei an der Macht Stimmen verloren hat. Biden sei nicht besonders beliebt, hieß es oft. Ein Kommentar im sozialistischen Magazin Jacobin warnte Anfang November: „Es drohen uns ein politisches Desaster und Implikationen, die möglicherweise sogar schlimmer sind als die Wahl von 2016“, die Donald Trump ins Weiße Haus brachte.Der Filmemacher Michael Moore hatte sich als einer der wenigen widersetzt. Es werde eine gute Wahl sein für die Demokraten, prophezeite er, denn wer an die „rote Welle“ glaube, müsse annehmen, dass Bidens Mehrheit von 2020 nach nur zwei Jahren ihre Meinung revidieren würde. Der gehe weiter davon aus, dass viele Frauen plötzlich nicht mehr entsetzt seien über das Urteil des Obersten Gerichts, das Recht auf Schwangerschaftsabbruch abzuschaffen. Der Protest gegen das republikanische Unterfangen, Abtreibung unter Strafe zu stellen, hat viele Amerikanerinnen mobilisiert.Ein jüngster medialer Konsens weiß mit vermeintlicher Gewissheit vom Ende der Ära Trump. Der neue republikanische Star heiße Ron DeSantis, sei Gouverneur von Florida und einer der haushohen Gewinner am 8. November. Doch eine Abkehr von Trump geht nicht von heute auf morgen. Seine Leute sind ihm treu geblieben, selbst nach dem Ansturm auf das Kapitol. Ein Großteil der republikanischen Politiker war auf Linie. Zu Trumps Strahlkraft gehört sicher auch das Image des Erfolgreichen. Und das ist am 8. November etwas verblichen.Aber auch die Demokraten müssen mit einem Chef umgehen, der anscheinend nicht aufhören will. Joe Biden wird am 20. November 80 Jahre alt und ist damit der älteste Präsident der US-Geschichte. Er trauert den guten alten Zeiten überparteilicher Kooperation nach. Zukunftsweisend ist das nicht.